70. Filmfestspiele in Cannes

Ein Festivalbericht

Schöner kann ein Festival nicht zu Ende gehen! Und das ist der Jury zu verdanken, die unter Präsident Pedro Almodóvar zielsicher die besten Filme für die Palmenvergabe heraussuchte und dabei eine breite Mischung aus intelligenten Publikumsfilmen, wichtigen politischen Filmen und sogar einigen Genrefilmen auszeichnete. Was so fulminant und erfreulich endete, hatte zwölf Tage vorher eher verhalten begonnen.

 

ISMAËL'S GHOSTS

ISMAËL’S GHOSTS © Festival de Cannes

Die Eröffnung der 70. Jubiläumsausgabe an der Croisette mit ISMAËL’S GHOSTS von Arnaud Desplechin führte zwar Stars wie Marion Cotillard, Charlotte Gainsbourg, Louis Garrel und Matthieu Amalric auf den Roten Teppich, blieb aber ansonsten eine rein französische Angelegenheit, die international nicht überzeugen konnte.

Was dem Eröffnungsfilm fehlte, lieferte dafür die Eröffnungs-Pressekonferenz der Jury: eine ordentliche Debatte, die sich durch das ganze Festival ziehen sollte. So hatte Festivaldirektor Thierry Frémaux zwei Filme der Firma Netflix ins Programm genommen, was der französische Filmtheaterverband vehement kritisierte, weil diese Filme niemals das Licht der Leinwand erblicken werden, sondern nur via Video on Demand von Netflix-Abonnenten abgerufen werden können. Frémaux gab nach und ließ in die Statuten schreiben, dass zukünftig nur Filme im Wettbewerb gezeigt werden dürfen, denen auch eine Chance auf eine Auswertung im Kino gegeben wird. Eine Maßnahme, der es gar nicht bedurft hätte, so Jury-Präsident Pedro Almodóvar, der sowieso keinen Film auszeichnen wollte, der nicht auch im Kino zu sehen sein wird.

Damit zog er sich den Widerspruch seines Jury-Kollegen Will Smith zu, der das Netflix-Bashing gar nicht verstehen konnte. „Meine Söhne sehen dort so viele alte Filme, und gehen dennoch zweimal die Woche ins Kino“, argumentierte er. Netflix-Konkurrent Amazon verhält sich da geschickter und hat schon im letzten Jahr verlauten lassen, ab sofort alle Filme vor dem Streaming-Angebot ins Kino zu bringen. Damals hatte die Nachricht, dass Woody Allen für den amerikanischen Multimedia-Riesen dreht, die Filmwelt in Aufruhr versetzt.

WONDERSTRUCK

WONDERSTRUCK © Festival de Cannes

In diesem Jahr leuchtete das Amazon Logo vor einem der meist erwarteten Filme auf, nämlich Todd Haynes‘ WONDERSTRUCK, der von zwei gehörlosen Kindern in verschiedenen Zeitebenen – 1927 und 1957 – erzählt, die nach New York ausbüchsen. Protagonist der ersten Geschichte ist der 12-jährige Ben, der vor kurzem seine allein erziehende Mutter bei einem Unfall verloren hat und seitdem bei seinem strengen Onkel lebt. Nur zu gern wüsste Ben, wer sein leiblicher Vater ist, doch seine Mutter hat sich stets beharrlich geweigert, dessen Identität preiszugeben. Als er heimlich in den Hinterlassenschaften seiner Mutter auf dem Dachboden des zum Verkauf stehenden Elternhauses stöbert, findet er tatsächlich eine mögliche Spur zu seinem Vater, die nach New York führt. Da ereilt ihn ein Blitzschlag, der ihn ertauben lässt, was ihn jedoch nicht davon abhält, noch aus dem Krankenhaus in einem Bus nach New York zu fliehen, um dieser Spur nachzugehen.

Parallel erzählt Haynes die Geschichte der gehörlosen Rose im Jahre 1927. Auch sie fühlt sich in ihrem Zuhause in New Jersey unglücklich und missverstanden und setzt sich eines Tages heimlich in einen Bus Richtung Big Apple, um ihren Onkel Walther zu besuchen. Das junge Mädchen, ein Stummfilm-Fan, hofft, in New York auch den von ihr verehrten Stummfilm-Star Lillian Mayhew zu treffen. Ben und Rose landen schließlich im Naturkundemuseum der Stadt, wo sich beider Geschichten auf geheimnisvolle Weise verbinden.

Die Verfilmung des Erfolgsromans von Brian Selznick aus dem Jahr 2011, der hier auch das Drehbuch schrieb, ist liebevoll inszeniert und weiß vor allem mit seinen beeindruckenden Bildern und einem tollen siebziger Jahre-Score zu überzeugen. Schade nur, dass die Geschichte mit ihren klar in schwarzweiß gekennzeichneten Rückblenden und ihrer besonders gegen Ende allzu erklärenden Erzählweise zu viele Zugeständnisse an den Video-on-Demand-Riesen Amazon macht. Auf der Pressekonferenz nahm Haynes Amazon in Schutz, berichtete davon, dass er sowohl freie Hand als auch den „final cut“ gehabt hätte und es ansonsten schwer gewesen wäre, eine Finanzierung für diesen Film zu finden. Da wurde dann klar, dass es bei dieser Debatte um mehr gehen könnte, als um die Frage, wo wir demnächst Filme schauen, im Kino oder auf dem Laptop.

 

Loveless

Loveless © Festival de Cannes

Wesentlich kinematographischer ist da LOVELESS von Andrey Zvyagintsev, der mit seinem letzten Film LEVIATHAN hier bereits 2014 eine Silberne Palme und diesmal den Jury Preis gewann. Er erzählt die Geschichte eines Ehepaares, das die gemeinsame Wohnung verkaufen will, um ihre Scheidung zu finanzieren. Der Film beginnt mit einem handfesten Ehestreit, bei dem es um das Sorgerecht des gemeinsamen Sohnes geht, den keiner der beiden mit in sein neues Leben nehmen will. Am Ende der Diskussion schlägt die Wohnzimmertür zu, hinter der dann der kleine Junge mit tränenüberströmtem Gesicht ins Bild kommt. Fortan wird er vermisst. Keiner weiß, ob er nur weggelaufen oder ob ihm etwas zugestoßen ist. Die Eltern suchen ihn, die Polizei kann sich darum nicht kümmern und verweist auf einen privat organisierten Suchtrupp. Doch trotz aller Bemühungen bleibt der Junge verschwunden…

Auf dieser Suche führt uns Zvyagintsev nicht nur an die Abgründe einer modernen, aber emotionslosen Gesellschaft, sondern visualisiert sie auch mit allerhand Metaphern, wie verlassenen Industriegebäuden oder neuen Wohnungen, die in Kontrast zu den ehemaligen Plattenbauten stehen. Sie sind zwar neu, aber nicht unbedingt gemütlicher, offensichtlich ist der Wohlstand schneller gewachsen als der Sinn für Geschmack und Stil. In gefrorenen Tableaus spiegelt sich die soziale Gewalt der russischen Gesellschaft mit ihrer Ambivalenz zum Westen: Reaktionäre Lebenskonzepte interferieren mit neuen Technologien, die Kälte des Winters tritt in Beziehung zu den kühlen Scheiben der Geräte, auf denen mit gewohnter Gleichgültigkeit durch Social Media gescrollt wird. Zvyagintsev verbindet auf eindrucksvolle Weise, wie bereits in LEVIATHAN, das Dysfunktionale der Familien mit den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konsequenzen.

Aus dem Nichts, 2017 - Fatih Akin

Aus dem Nichts © Festival de Cannes

Nicht so metaphorisch, dafür aber ebenso politisch, war Fatih Akins AUS DEM NICHTS (Warner) angelegt, der von Katja erzählt, die abrupt ihren armenischen Ehemann und Sohn durch einen Terroranschlag verliert. Obwohl sie der Polizei eine Verdächtige beschreiben kann, ermittelt diese erst einmal in Richtung Familie, Bekannte und Geschäftspartner, obwohl sich schon früh ein neofaschistischer Hintergrund andeutet. Der mittlere Teil beschreibt ausführlich die Gerichtsverhandlung und ihren enttäuschenden Ausgang. Hier hat sicherlich der (Ex-Jurist) Hark Bohm am Drehbuch geholfen. Ihm gelingt es jedenfalls, das Versagen der Justiz ohne Schuldzuweisungen plausibel zu machen, und so bleibt eine Protagonistin zurück, die nicht nur ihre Liebsten, sondern auch den Prozess um die Bestrafung der Täter verliert. Man ahnt es schon, dass es im letzten Teil um ihre Rache gehen wird. Das liegt einerseits auf der Hand, riecht aber auch nach Selbstjustiz. Dass diese dem Film nicht zum Verhängnis wird, liegt vielleicht an Akins chronologischer und stets plausibler Erzählweise, immer streng aus der Sicht der Opfer, ganz sicher aber an der bewegenden Performance seiner Hauptdarstellerin Diane Kruger, die hier erstmals in deutscher Sprache dreht und sich auf Anhieb in die Herzen des Publikums spielt, wofür sie mit einer Silbernen Palme ausgezeichnet wurde. Überhaupt ist der Film insbesondere bei der ausländischen Presse gut angekommen. Irgendwie hatte man den Eindruck, hier wurde honoriert, dass sich der deutsche Film weg von der ewigen Bewältigung des Nationalsozialismus hin zu akuten Themen wie dem Neofaschismus bewegt. Offensichtlich ist der NSU-Prozess, der Akin inspiriert hat, im Ausland längst nicht so präsent wie hierzulande und damit ein spannendes Kinothema.

Diane Kruger konnte sich mit ihrer Leistung in einen starken weiblichen Auftritt im diesjährigen Festival einreihen. Zwar waren wieder nur drei Filme von Regisseurinnen in den Wettbewerb geladen, aber immerhin war die Jury mit vier Frauen und Frauenversteher Almodovar an der Spitze annähernd paritätisch besetzt. So beschwerte sich Jessica Chastain auf der Abschlusspressekonferenz der Jury über die Rollen, die manche Filme Frauen zumuten und Agnès Jaoui relativierte, dass auch Männer – wie zum Beispiel Almodovar – gute Frauenfilme machen können. Auf den Punkt aber brachte es Maren Ade, die konstatierte, dass das Kino den weiblichen Blick nötiger habe denn je: Viele interessante Geschichten würden niemals das Licht der Leinwand erblicken, weil man Frauen nicht hinter die Kamera lasse, die weibliche Perspektive fehle! Maren Ade war hier im letzten Jahr mit TONI ERDMANN vertreten, der unverständlicherweise leer ausgegangen war.

Die Verführten 2017, Nicole Kidman

Die Verführten © Festival de Cannes

Der Preis für die Beste Regie ging dann auch an eine Frau, nämlich Sofia Coppola für DIE VERFÜHRTEN (UPI), die Jane Campion als ihr Vorbild nannte, die einzige Frau, die je eine Goldene Palme gewann (1993 für DAS PIANO). Auch sie schaltete sich in die Netflix-Debatte ein und polemisierte, dass sie Filme für die große Leinwand und nicht fürs Smartphone mache. Nicole Kidman berichtete danach von den Dreharbeiten zu der Serie TOP OF THE LAKE, die sie mit Jane Campion gedreht hat und von der die Folge CHINA GIRL in Cannes zu sehen war. Wenn auch nicht fürs Kino konzipiert, vertraue sie ihrer Regisseurin, denn die wisse genau, was sie tue.

Coppolas Film spielt während des amerikanischen Bürgerkriegs in einer Mädchenschule in den Südstaaten. Nicole Kidman versucht als Leiterin den Schulalltag aufrecht zu erhalten, in dem die jungen Damen von einer schüchternen Lehrkraft (Kirsten Dunst) in Französisch und in der Kunst des Stickens unterwiesen werden. Die Dinge kommen allerdings endgültig durcheinander, als eine der Schülerinnen nicht weit von der Schule entfernt einen verletzten Soldaten, einen Yankee (Collin Farrell) findet. Sie beschließen, den „Feind“ in ihr Haus aufzunehmen, bis er genesen ist, um ihn dann den Konföderierten zu übergeben. Doch schon bald kommt es zu Eifersucht und Zwietracht unter den Frauen. DIE VERFÜHRTEN ist ein Remake des von Don Siegel 1971 mit Clint Eastwood verfilmten Romans von Thomas Cullinan. Sofia Coppola hat allerdings die Perspektive umgekehrt und erzählt aus Sicht der Frauen, die sich einen schauspielerisch sehenswerten Konkurrenzkampf um die Gunst des Fremden liefern. Die Anstaltsleiterin (Nicole Kidman) muss sich da aus Altersgründen wieder auf ihre Autoritätsrolle zurückziehen, während sich die wahrhaft verliebte Lehrerin (Kirsten Dunst) der durchtriebenen Intriganz einer frühreifen Schülerin (Elle Fanning) erwehren muss. Sofia Coppola inszeniert dieses Chaos der Gefühle geradezu virtuos und zeigt auch die Berechnung, die hinter all den Emotionen steckt. In traumhaften, zarten Bildkompositionen ohne viel Musikeinsatz entwickelt sie auch ihren Stil weiter.