70. Filmfestspiele in Cannes

The Killing of a Sacred Deer

The Killing of a Sacred Deer © Festival de Cannes

Nicole Kidman war in sage und schreibe vier Filmen dieses Festivals vertreten und wurde am Ende mit einem Sonderpreis zum 70. Jubiläum geehrt. Im Wettbewerb spielte sie noch in THE KILLING OF A SACRED DEER (Alamode) von Yorgos Lanthimos, der bereits 2015 den Jury-Preis für THE LOBSTER gewann. Nicole Kidman ist hier als zweifache Mutter wieder an der Seite von Colin Farrell zu sehen, der nun ihren Ehemann spielt, einen Chirurgen, der unter Alkoholeinfluss eine Operation verpfuscht und dabei den Vater eines 16-jährigen Jungen getötet hat. Dieser Junge will nun Unheil der übernatürlichen Art über sie bringen und droht alle zu töten, wenn der Vater nicht selbst eines seiner Familienmitglieder umbringt. Dies erinnert an die griechische Mythologie: Hier strafte die Göttin Artemis Agamemnon für das Erlegen eines Hirsches in ihrem Garten, indem sie seinen Schiffen die Fahrt nach Troja durch eine Windstille so lange verwehrte, bis dieser seine Tochter Iphigenie opferte. Auch erinnern die blutenden Augen des Sohnes an Medusa, die sich mit ähnlich unmöglich zu treffenden Entscheidungen konfrontiert sah. Lanthimos inszeniert dies alles mit einer Kälte, die an Hanekes FUNNY GAMES erinnert und einem das Blut in den Adern gerinnen lässt. Ob das alles nur ein stilvoller Horror-Trip ist oder sich dahinter das Spiegelbild einer Gesellschaft verbirgt, die sich immer öfter zwischen Pest und Cholera entscheiden muss, darf jeder selbst entscheiden. Der Jury war dies – wenn auch ex aequo – den Drehbuchpreis wert.

 

You Were Never Really Here 2017

You Were Never Really Here © Festival de Cannes

Die andere Hälfte dieses Preises ging an YOU WERE NEVER REALLY HERE von Lynne Ramsay, die bereits ihre Filme RATCATCHER und WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN in Cannes vorstellte. Im Gegensatz zu Lanthimos, der sich mit SACRED DEER noch an der Grenze zwischen Filmkunst und Genre bewegte, bekennt sich Ramsay klar zu letzterem, ohne auf Qualität und Anspruch zu verzichten. In einer sehenswerten Performance mit viel Mut zur Hässlichkeit spielt Joaquín Phoenix hier einen amerikanischen Kriegsveteranen, der einem Kinderpornographie-Ring auf seine Art das Handwerk legen will. Bewaffnet mit Gaffa-Tape und einem Zimmermannshammer macht er sich auf und dringt mit äußerster Brutalität in immer höhere gesellschaftliche Schichten vor. Dabei werden die moralischen Abgründe, die er aufdeckt, mit seiner eigenen kompromisslosen Brutalität und blitzartigen Bildern aus einer traumatischen Vergangenheit kontrastiert. Seiner Mutter gegenüber ist er aber der liebevolle Sohn, und mit den geretteten Mädchen teilt er eine nicht geheuchelte hohe Empathie, so dass sich am Ende nicht nur er, sondern auch der Zuschauer fragt, wessen Freiheit er damals als GI da eigentlich verteidigt hat. Joaquín Phoenix weiß diesen widersprüchlichen Charakter so grandios in Szene zu setzen, dass er dafür völlig zu Recht den Darstellerpreis erhielt.

L’Amant Double 2017

L’Amant Double © Festival de Cannes

François Ozon ist ja bekannt dafür, dass er sich in allen Genres zu Hause fühlt. Doch diesmal dauert es eine Weile bis der Zuschauer merkt, mit welchem er es zu tun hat. In L’AMANT DOUBLE (Weltkino) spielt Marine Vacth (Ozons Entdeckung aus JUNG UND SCHÖN, der vor drei Jahren im Wettbewerb lief) Chloé, eine junge Frau, die mit Magenschmerzen zum Arzt geht. Doch der kann nichts feststellen und schickt sie zum Psychiater Paul, der die Behandlung nach einigen Sitzungen abbricht, weil er Gefühle für seine Patientin entwickelt hat. Diese sind durchaus gegenseitig, weshalb die beiden zusammenziehen. Doch die Magenschmerzen stellen sich wieder ein, weshalb Chloé einen anderen Psychiater konsultiert. Der stellt sich als Zwillingsbruder von Paul heraus und ist dessen negatives Spiegelbild, was Einfühlungsvermögen und Liebe angeht. Er fordert sie sexuell heraus, will sie seinem Bruder ausspannen und Chloé spürt, dass hinter den Zwillingen ein Geheimnis schlummert, das auch sie existentiell betrifft.

So wechselt der Film von Liebesgeschichte über Erotik-Krimi hin zu einer Psycho-Thriller, der passioniert aus der Filmgeschichte zitiert. So schneidet sich Chloé am Anfang selbst die schönen langen Haare, was an Polanskis Rosemaries Baby erinnert und nichts Gutes erwarten lässt. Das Frauenbild erinnert an Hitchcock und Brian de Palma lässt grüßen, wenn Chloé sich in ihren Wahn steigert und der Film zum Thriller wechselt. Das ist an manchen Stellen derart überdreht, dass der Film zuweilen die Bodenhaftung zu verlieren droht, doch dann stellt Ozon ihn mit einem genialen Ende überraschend wieder vom Kopf auf die Füße und beendet eine Achterbahnfahrt, bei welcher der Zuschauer zwischenzeitlich das Gefühl hat, den roten Faden zu verlieren.

Auch GOOD TIME (Ascot) ist ein Genrefilm, der von der Kritik mehrfach mit dem Überraschungserfolg DRIVE verglichen wurde. Durch den eindringlichen Elektro-Soundtrack und einen sich ankündigenden Kult-Charakter liegt der Vergleich nahe, dennoch ergeben sich auch Differenzen. Die Safdie Brüder, zwei Independent-Regisseure aus New York, inszenieren hier einen Heist-Thriller, der nichts Romantisches oder Stilisiertes mehr hat, es geht nicht mehr um die Konstruktion eines komplexen Überfalls, sondern um die Frage, ob der dilettantische Protagonist überleben wird oder nicht. Hier profiliert sich Robert Pattinson erstaunlich gut als Prolet und Trickster, der instinktiv aus brenzligen Situationen zu entkommen weiß. Auch die Gesamtästhetik des Films lässt sich oft mit einem räudigen Hund vergleichen und so formuliert GOOD TIME einen impliziten Kommentar auf Trumps Amerika, die Allgegenwärtigkeit des Prekären, die Haltung eines „Fressen oder Gefressen-Werdens“, in der niemand mehr etwas zu verlieren hat. Einmal schaut Pattinson, während er seine Haare ins Orange blondiert, eine Reality TV Show wie „Cops“, in der Polizisten eine schwarze Frau im Nachthemd verfolgen und brutal zu Boden werfen. Die Safdie Brüder übertragen diese neue Form der medialen Wirklichkeit, die auch Trump mit Shows wie „The Apprentice“ großgemacht hat, auf die gesamte Inszenierung und machen daraus ein treibendes, Adrenalin durchtränktes Kinoerlebnis, das auf eine sehr eigene Weise subversiv ist.

Genre-Filme gab es auch in der Un Certain Regard zu sehen. Einer der ersten hieß schon so, nämlich der deutsche Beitrag von Valeska Grisebach WESTERN (Piffl), eine Komplizen Film Produktion, die im letzten Jahr mit TONI ERDMANN ganz Cannes aufhorchen ließ. Grisebach erzählt von einer Gruppe deutscher Bauarbeiter, die für einen Auftrag in die bulgarische Provinz kommen und dort mit der Bevölkerung in Kontakt geraten. Die sieht die Anwesenheit der Deutschen skeptisch, hat sie doch schon vor 75 Jahren nichts Gutes gebracht. So überwirft sich Vincent, der Boss der Truppe, auch schnell mit den Einwohnern, während Meinhard eine behutsame Annäherung gelingt, die ihm dann wieder Scherereien im eigenen Lager einbringt. Grisebach erzählt mit großem Feingefühl und mischt immer wieder Westernelemente in ihre Studie, die recht archaisch von der Begegnung zweier Kulturen erzählt. Ein sehenswerter Film, für den es nicht leicht sein wird, ein Publikum zu finden.

Einen Erfolg konnte auch Taylor Sheridan, der das Drehbuch für SICARIO und HELL OR HIGH WATER schrieb, mit seinem Erstlingswerk WIND RIVER verbuchen. Er wurde mit dem Preis für die Beste Regie in der Reihe Un Certain Regard ausgezeichnet. Der bereits in Sundance erfolgreich gelaufene Thriller spielt in der rauen Wildnis des Wind River Reservats in Wyoming. Dort findet der Wildtierjäger Cory Lambert die erfrorene18-jährige Nathalie, eine indianische Ureinwohnerin, die, wie sich später herausstellt, vergewaltigt wurde und vor ihrem Tod kilometerweit barfuß durch den Schnee um ihr Leben lief. Zur Aufklärung des Falles entsendet das FBI seine Agentin Jane Banner aus Las Vegas, die gemeinsam mit Lambert und den örtlichen Behörden versucht, dem Mörder auf die Spur zu kommen, dabei aber erst einmal mit der für sie neuen Umgebung zurechtkommen muss. Lambert hat großes Interesse an der Suche des Schuldigen. Das Opfer war die beste Freundin seiner Tochter, die unter ähnlichen Umständen vor Jahren ums Leben kam und deren Mörder nie gefunden wurde.

Jeremy Renner, Oscar-nominiert für seine Rolle in Kathryn Bigelows HURT LOCKER und sonst meist in Mainstream-Filmen unterwegs, spielt den seelisch verwundeten Wildtierjäger überzeugend, und auch Elisabeth Olsen, Schwester der Olsen-Zwillinge Mary Kate und Ashley, fällt positiv auf. Gleiches gilt für die passend zum Film komponierte Musik von Nick Cave und Warren Ellis. Sheridan gelingt ein karger, aber auch atmosphärisch dicht inszenierter Thriller, in dem es neben der Aufklärung eines Mordes auch um Trauer, Verlustbewältigung und Rache geht. Dabei nimmt er ebenfalls die soziale Situation der amerikanischen Ureinwohner in den Blick, deren Leben im Reservat geprägt ist von Armut und Arbeitslosigkeit. Die eiskalte lebensfeindliche Schneelandschaft Wyomings spiegelt dabei kongenial eine Gesellschaft wider, in der menschliche Wärme kaum noch eine Chance hat.