Minjan

Berlinale 2020

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Minjan - 2020 Filmposter
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„Minjan“ – das ist Quorum von mindestens zehn mündigen Juden, um einen vollständigen Gottesdienst abhalten zu können. Eric Steel macht ebendiesen zum Ausgangspunkt seines Films über einen schwulen jungen Mann, der nach Halt und (s)einem festen Platz in der Welt sucht. Daneben zeichnet er eine sehr präzise Milieustudie von einer geschlossenen Parallelgesellschaft vor dem Hintergrund der New Yorker Vorstadt in den 80ern.

David (Samuel H. Levine) ist doppelt kasteit. Erstens ist ihm das Leben in seiner jüdischen Gemeinde durch seine russischen Wurzeln erschwert, zweitens ist er auch noch homosexuell. Keine einfache Kombination. Mit 17 steht er an der Schwelle des Erwachsenseins. Hin- und hergerissen zwischen der vollständigen Integration in die konservativ jüdische Glaubensgemeinschaft und der Auslebung seiner schwulen Identität erzeugt einen tiefen Zwiespalt, der dem in sich gekehrten Jungen in seinen wachen, aufmerksamen Augen abzulesen ist. Doch er bricht sich zwischendurch auch in unkontrollierten Wutausbrüchen bahn, wie als er quasi willkürlich einen Klassenkameraden verprügelt. Dafür kassiert wiederum er von seinem Vater, einem ehemaligen Boxtrainer, später ein blaues Auge, als der den vom Unterricht dispensierten David abholen muss. Der Vater, ein grober Speck- und Muskelberg mit Doppelmoral, liefert ihm kein Vorbild ab, dem man gerne nacheifern würde. Identifikationsfiguren findet David hingegen in seinem Großvater Josef (Ron Rifkin), den er regelmäßig besucht, wie auch dessen zwei miteinander zusammenlebenden Nachbarn Herschel (Christopher McCann) und Itzik (Mark Margolis). David freundet sich allmählich mit den beiden alten Männern an und stellt außerdem fest, dass sie offenbar etwas mehr miteinander verbindet als ein bloßes Mitbewohnerverhältnis. Dass der Rest der lokalen Gemeinde diesbezüglich ein Auge zudrückt, ermutigt David indirekt dazu, auch selbst erste kleinere Streifzüge in die Schwulenszene von East Village zu unternehmen und damit eine für ihn völlig neuartige Subkultur zu erkunden.

Mit wohldosierter Zurückhaltung wird dieser Selbsterforschung Davids zugesehen. Die Bilder bleiben zumeist unaufdringlich und lediglich aus einer sicheren Distanz anteilnehmend, so als wolle man ihn bei seiner Vertiefung in die alltäglichen Geschehnisse und in sich selbst nicht aufstören. Dass dabei trotzdem eine große Nähe zum Protagonisten entsteht, verdankt sich dem intensiven Spiel Samuel H. Levines, der die Schwierigkeiten bei der Darstellung schweigsamerer, introvertierterer Figuren mit Bravour meistert: über seine Gestik und Mimik vermittelt er eine zurückgehaltene, aber sehr tiefe Sensibilität. Schwebend zwischen den ihm beigebrachten religiösen Dogmen aus dem Gottesdienst und dem liberalen Literaturunterricht in der Schule, deckt er fortschreitend die Widersprüchlich- und Doppelbödigkeiten der nur an der reinen Oberfläche intakten, kleinen Gemeinde-Sphäre auf, die ihn bislang innerhalb ihrer Grenzen hielt. Zeitgleich lernt er, dass außerhalb ebendieser nicht nur das große Leben, sondern auch ganz andere Realitäten lauern. So etwa die HIV-Epidemie, die in den 80ern in den großstädtischen Gefilden der USA wütet. Mit behutsamer Ruhe, die in Kontrast zu den Geschwindigkeiten des zeitgenössischen Kinos steht, schildert Eric Steele diese Selbstfindung, in der er minutiös die große Frage nach der Vereinbarkeit von unterschiedlichen Lebensmodellen verhandelt. Der Rabbi in seinem Film findet zumindest eine relativ versöhnliche Antwort darauf, denn „wenn man alle Bettler, Diebe und Homosexuellen ausschließen würde, hätten wir keinen Minjan.“