Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein

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Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein - 2019 Filmposter
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Der österreichische Schriftsteller und Aktionskünstler André Heller kann nicht nur beruflich auf ein bewegtes Leben zurückblicken, auch sein persönlicher Werdegang bietet genug Stoff für spannende Fiktionalisierungen. Die Adaption seines gleichnamigen autobiografischen Romans wird von Rupert Hennig mit derselben überbordenden Fantasie umgesetzt, die auch Hellers Werk auszeichnet, und von einem hervorragenden Ensemble gespielt. Humorvoll, surreal und voller Eigensinn wird hier die Nachkriegsgeschichte in einem äußerst unterhaltsamen Arthouse-Film verarbeitet.

Ende der 1950er Jahre hat der kleine Paul Silberstein (Großartig: Valentin Haag) wenig zu lachen. Zwar ist er durch seine Familie weitläufig von Reichtum und Einfluss umgeben, doch fehlt es in jeglicher Weise an Liebe und Mitgefühl. Als Nachkomme eines Wiener Zuckerbäckerimperiums sind seine jüdischen Wurzeln ihm zwar bekannt, aber sie werden von seinen Eltern, die sich auch sonst nichts zu sagen haben, verleugnet.

Pauls Vater Roman (Karl Markovics) ist schon lange zum Katholizismus konvertiert und terrorisiert seine Kinder mit seinen narzisstischen Fantasien, was deren berufliche Zukunft anbelangt; dafür schickt er sie in ein kirchliches Elite-Internat, in dem die Priester ein hartes Regiment führen. Der ältere Bruder hat sich den Wünschen des Vaters angepasst, doch Paul denkt gar nicht daran, diesem ganzen Unsinn sein Selbst zu opfern. Auch wenn ihn eigentlich niemand unterstützt, so hilft ihm doch seine unbändige Fantasie, durch die er die Kälte und Gewalt, die ihn umgibt, überleben will.

Hennigs Film erzählt diese Coming-of-Age-Geschichte mit ganz außergewöhnlichen Mitteln, die man so beispielsweise aus den Filmen von Jean-Pierre Jeunet („Die fabelhafte Welt der Amelie“) kennt. Mit vielen Frosch- und Vogelperspektiven sprengt die Kamera auch bildlich die Erstarrung, in der sich Familie Silberstein befindet, bevor allmählich die verdrängten Traumata des Krieges sichtbar werden können. Der kleine Paul entdeckt immer mehr Details aus der dramatischen Lebensgeschichte seines Vaters, der schon früh dazu gezwungen war, sich selbst aufzugeben und die persönlichen und kulturellen Wurzeln zu kappen, um sein Überleben zu sichern. Umso stärker setzt sich sein kleiner Sohn dem nun entgegen, und kämpft mit originellen Mittel darum, der Autor seiner eigenen Geschichte zu werden, und jemanden zu finden, dem er sich mitteilen kann. Seine Tagebucheinträge mit unsichtbarer Tinte sind ebenso rebellisch wie die permanente Unterwanderung der klösterlichen Schulmoral durch Liebesbriefe an ein Mädchen, das er jenseits der Internatsmauern nur von weitem gesehen hat. Doch gerade im Schreiben und Geschichtenerfinden entdeckt Paul endlichen den Bezug zu sich selbst, den sein Umfeld ihm zu geben nicht bereit ist. Als Zuschauer nimmt uns der Film mit in die lebhafte Gedankenwelt des innerlich sehr starken und eigensinnigen Kindes, an dem sich bereits Züge eines zukünftigen Aktionskünstlers zeigen. In recht epischer Länge, aber mit sehr viel (österreichischem) Humor gelingt Hennig ein außergewöhnlicher und sensibler Unterhaltungsfilm, der Mut macht, auch gegen alle falschen Autoritäten sein Ich zu behaupten und weiter zu erforschen, auch wenn keiner an einen glauben will. Durch die Kraft der Kunst und des Schreibens findet Paul seinen Weg, der ihn an den grausamen Disziplinierungsversuchen von Kirche und Erziehung schließlich vorbeiführt: In ein innerlich und äußerlich freies Leben, das die Grenzen seiner Möglichkeiten selbst ausloten wird.