Wie im echten Leben

Quinzaine des Réalisateurs, Cannes 2021

Infos Vorführungen

Informationen

Als investigative Journalistin heuert die renommierte Schriftstellerin Marianne (Juliette Binoche) als Putzfrau an der nordischen Atlantikküste Frankreichs an. Sie will die prekären Arbeitsbedingungen der Geringverdienenden durchleuchten und in einem Undercover-Ermittlungsroman veröffentlichen. Als sie sich mit einer jungen Putzfrau anfreundet, mit ihr durch dick und dünn geht und ihr dennoch ihre Identität verschweigt, kommt sie in die Bredouille - Karriere oder Freundschaft, was ist ihr wichtiger?

Irgendwie erinnert das Thema einen sofort an Günter Wallraff, der Mitte der 1980er Jahre verdeckt als Türke Ali bei einer Leiharbeiter-Firma anheuerte und Ausbeutung, Ausgrenzung und Missachtung erfuhr. Sicher wird auch er damals sich mit dieser Problematik beschäftigt haben, und tatsächlich ist die Entscheidung nicht leicht. Auf der einen Seite hintergeht man Kollegen, denen man eigentlich helfen will, auf der anderen Seite kann der Roman viele Menschen auf die düsteren Verhältnisse aufmerksam machen.

Wer könnte im Kino ein solches Dilemma besser verkörpern als Juliette Binoche? Ihr fällt es nicht schwer, sich mit den Arbeiterinnen anzufreunden, ihre Vorlieben und Gewohnheiten zu teilen und doch immer nur ihr Ding im Kopf zu haben. Sie gibt den  Komfort der Pariser Kulturelite auf und reist in die nordfranzösische Hafenstadt Caen, wo das Wetter launisch ist und das Leben rauh. Im Jobcenter gibt sie vor, nach einer Scheidung jede Stelle anzunehmen – egal wie schmutzig sie sich die Hände machen muss. Marianne will einen Job, den in Frankreichs Mittelschicht niemand mehr machen  will. Ein Job als Putzfrau erweist sich als Glücksfall – extreme Schinderei, dumme  Sprüche vom Chef, unfaire Bezahlung – ein Klassiker der Drecksarbeit. Als sie sich nach einer aufmüpfigen Bemerkung die Kündigung einhandelt, bringt ihr das die überwältigende Unterstützung ihrer Kolleginnen ein, alles stahlharte Putzprofis und echte Freundinnen. Besonders mit der taffen Christele, die sich allein mit drei Kindern durchs Leben schlägt, freundet sie sich an. Dank ihr schafft es Marianne in die Putzkolonne des Fährhafens. 12 Arbeiterinnen, 230 Kabinen und 1,5 Stunden Zeit ist die Vorgabe. Es klingt wie eine verwegene Wette, die täglich gewonnen und irgendwie auch verloren wird. Mit Christèle, Marilou und Justine verbindet Marianne bald eine so tiefe Freundschaft, dass ihre wahre Identität zum größten Problem wird. 

Wenn am Ende des Films die Putzfrauen, die zur Pariser Buchpräsentation gekommen sind, ihre Gefühlslage als “unterbezahlt, unentbehrlich, aber nicht mehr ungesehen!” der Presse zu Protokoll geben, sind nicht alle bei der schicken Premiere dabei, ausgerechnet  Christele und einige andere haben ihr nicht verziehen.

Emmanuel Carrère, eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Frankreichs, dessen autofiktionalen Texte (z.B. „Das Reich Gottes“, „Alles ist wahr“ und die jüngste Neuerscheinung „Yoga“) nicht nur in Frankreich, sondern auch bei uns ein großes Publikum erreichen, gibt hier gleichzeitig sein Spielfilmdebüt als Regisseur. Geschickt wandelt er auf dem schmalen Grat zwischen vertrauensbildenden Maßnahmen und anschließendem Vertrauensmissbrauch. Ein Drahtseilakt, bei dem es dem Film manchmal genauso ergeht wie seiner Protagonistin: Hier und da kommt er den Arbeiterinnen aus Caen, die sich in einer herausragenden schauspielerischen Leistung und mit viel Leidenschaft selbst verkörpern, etwas zu nahe und vermittelt uns gerade deswegen ein wahrhaftiges, emotional nachvollziehbares Bild ihres Lebens. 

Galerie