Starke deutsche Filme und ein eher schwacher internationaler Wettbewerb kennzeichneten die 74. Ausgabe der Berliner Filmfestspiele. Generell führten so einige Jury-Entscheidungen bei vielen Kolleg*innen zu Kopfschütteln. So sorgte die afrikanische Jury-Präsidentin dafür, dass mit Mati Diops Film DAHOMEY über zurückgeführte Raubkunst nach Afrika zum zweiten Mal in Folge ein Dokumentarfilm den Goldenen Bären gewann. Mati Diop ist 2019 in Cannes für Ihren Spielfilm ATLANTIQUE mit dem Grand Prix ausgezeichnet worden und versteht das Kino als Werkzeug der Wiederaneignung, um verloren gegangene Bilder wiederherzustellen, entwürdigende koloniale Darstellungen zu hinterfragen und neue Held*innen zu erfinden. Ihr Film wurde von der Online-Plattform MUBI gekauft und wird wahrscheinlich nie ins Kino kommen.
Die schwache Präsenz von internationalen Filmen mit Kinoformat zeigte sich bereits beim Eröffnungsfilm SMALL THINGS LIKE THESE, in dem der belgische Regisseur Tim Mielants ein irisches Thema auf die Leinwand brachte. Bereits 2002 verfilmte Peter Mullen die Zustände in den Magdalenen-Wäschereien in dem bewegenden, in den sechziger Jahren angesiedelten Film DIE UNBARMHERZIGEN SCHWESTERN. Grundlage der Neuverfilmung ist nun der Roman von Claire Keegan, die ihre Geschichte 1985 ansiedelt und aus der Perspektive des Kohlenhändlers Bill Furlong erzählt.
Der rechtschaffene Familienvater von fünf Töchtern erhält eines Tages eher zufällig Einblick in die Verhältnisse hinter den Mauern des örtlichen Klosters, wo nicht nur seine Töchter zur Schule gehen, sondern auch gefallene Mädchen, die ungewollt schwanger geworden oder sonstwie vom rechten Weg abgekommen sind, zu Zwangsarbeit gezwungen werden. Von einem klaren inneren moralischen Kompass geleitet, will er die Zustände nicht ignorieren, merkt aber schnell, dass er sich damit viel Ärger einhandelt. Cillian Murphy (OPPENHEIMER) zeigt auch hier seine Qualitäten. Sein zurückhaltendes, aber umso intensiveres Spiel trägt den Film, der ansonsten sehr düster daherkommt. Das passt zwar zum Inhalt, der Aufbau eines deutlicheren Spannungsbogens wäre dennoch wünschenswert gewesen. So mangelt es dem Film an Stringenz und macht es den Zuschauer*innen schwer, Empathie zu entwickeln. Warum ausgerechnet dieser Film den Wettbewerb eröffnete, wurde in Berlin mit zwinkerndem Auge kolportiert: So liefen mit Emily Watson (ausgezeichnet für die Beste Nebenrolle) und Cillian Murphy wenigstens zwei Stars über den roten Teppich, wobei letzterer derzeit als heißester Kandidat für einen Oscar als Bester Darsteller (OPPENHEIMER) gehandelt wird.
Ein Fall zum Kopfschütteln war der Preis der Jury, den Bruno Dumont für sein Science Fiction-Drama L’ EMPIRE (The Empire) gewann, indem er die Entscheidungsschlacht zweier großer Weltraummächte im ewigen Kampf um Gut und Böse in ein Fischerdorf an die nordfranzösische Opalküste verlegt, wo biedere Fischer sich bald als perfide Aliens entpuppen. Sein Kindheitswunsch, auch mal einen Science Fiction-Film a la STAR WARS machen zu wollen, wirkt hier wie die obligatorische Modelleisenbahn, von der sich erwachsene Männer nicht lösen können.
Auch Oliver Assayas scheint sich während des Lockdowns schwer gelangweilt zu haben. In dieser Zeit ist jedenfalls sein neuer autobiographischer Film HORS DU TEMPS gedreht worden, vor dem mich schon eine Kollegin warnte. Der Film müsse sehr schlecht sein, ansonsten würde er garantiert in Cannes laufen. Und tatsächlich behielt sie recht, denn das Familiendrama mit autobiographischen Zügen erzählt von der Zeit, die der Filmregisseur Etienne bei seinem Bruder Paul, einem Musikjournalisten, im Haus der Eltern auf dem Lande verbrachte. Beide haben eine neue Freundin am Start, verstehen sich aber nicht besonders gut. Man sieht, dass sie im Miteinander in Toleranz geübt sind, aber Langeweile und Lagerkoller sorgen am Ende doch für einen handfesten Streit, aus dem der Zuschauer aber auch nicht viel ziehen kann.
Mehr Kinoqualität hat da schon LANGUE ÉTRANGÈR (Port á Prince) von Claire Burger zu bieten. Sie erzählt von der 17-jährigen Fanny, die etwas schüchtern ist und gerne mit kleinen Lügen Aufmerksamkeit auf sich zieht. Um etwas kontaktfreudiger zu werden, nimmt sie an einem Deutsch-Französischen Schüleraustausch-Programm teil, das sie zu Lena nach Leipzig führt. Doch Lena ist gar nicht daran interessiert, für die noch kindhafte Französin den Babysitter zu spielen und hat auch nicht vor, den Gegenbesuch in Frankreich wahrzunehmen. Doch mit ihren Lügen kann Fanny schnell Lenas Interesse an ihr wecken, das sich dann schnell zu totaler Solidarität steigert. So tritt sie dann auch den Gegenbesuch in Frankreich an, um den Problemen ihrer neuen Freundin auf den Grund zu gehen.
Während normalerweise bei einem solchen Schüleraustausch die jeweiligen Eltern dem Gast eine heile Familienwelt vorspielen, lässt die Regisseurin Claire Burger diese von den beiden Mädchen dekonstruieren. Dabei kämpfen die jeweiligen Mütter um ihr Familienideal. Sie werden von Nina Hoss und Chiara Mastroianni verkörpert, was dem Film Tiefe gibt, doch am Ende verlagert die Regisseurin ihren Schwerpunkt dann doch wieder zugunsten eines Generationenporträts der Klimakleber*innen. Hier wäre familienpsychologisch deutlich mehr drin gewesen.
Weniger eine stringente Geschichte als eine Collage ungewöhnlicher Bilder präsentiert uns der kolumbianische Regisseur Nelson Carlo De Los Santos Arias in seinem Wettbewerbsbeitrag PEPE. Erzähler des Films ist ein gleichnamiges Nilpferd, das einst mit drei weiteren Artgenossen dem Drogenboss Escobar gehörte. Nach dessen Entmachtung brachen die aus Afrika stammenden Tiere aus dem vernachlässigten Anwesen des Drogenbosses aus und streiften umher. Pepe wurde schließlich in den USA mit behördlicher Genehmigung erschossen und erlangte dadurch Berühmtheit.
Aus der Perspektive des toten Tieres erzählt Pepe nun aus dem Off in verschiedenen Sprachen seine Geschichte, zieht uns hinein in eine Zwischenwelt, bei der Traum und Wirklichkeit immer wieder verschwimmen. Zu sehen sind Aufnahmen von Flusslandschaften, immer wieder tauchen Nilpferde auf, eingestreut werden Spielszenen mit Menschen, etwa ein sich streitendes Ehepaar oder Gespräche von Safari-Teilnehmenden mit ihrem Reiseleiter. Die wilde Mixture aus verschiedenen Genres und Stilen wurde von der Berlinale-Jury mit dem Regiepreis bedacht.
Nach seinem furiosen Erstlingsfilm THE GUILTY, der sowohl in Sundance als auch bei der Filmkunstmesse Leipzig 2018 den Publikumspreis gewann und mit Jake Gyllenhall drei Jahre später neu verfilmt wurde, gab der dänische Regisseur Gustav Möller nun mit SONS (Ascot) sein Berlinale-Debüt, wieder mit einem Psychothriller. Im Mittelpunkt steht die Gefängniswärterin Eva. Sie ist beliebt, gibt im Knast Yoga-Kurse und gilt eher als gutmütig. Das ändert sich, als sie in einem Neuzugang den Mörder ihres Sohnes wiedererkennt. Ohne ihre Verbindung mit ihm preiszugeben, lässt sie sich in den Hochsicherheitstrakt versetzen und versucht ihm, das Leben möglichst schwer zu machen, schmuggelt ihm bei einer Razzia sogar Drogen in die Zelle, um ihn zu diskreditieren, und schlägt ihn, als er gewalttätig wird, so stark, dass er schwer verletzt ins Krankenhaus muss. Das macht sie wiederum angreifbar, denn nun kann er sie verklagen, was im weiteren Verlauf zu einem Machtspiel wird, bei dem mal die eine, mal der andere die Oberhand gewinnt. Ein auch für den Zuschauer beklemmender und bedrückender Film mit einer starken Hauptdarstellerin, der jedoch nicht die gleiche Spannung entfalten kann wie Möllers Debüt.
Den Silbernen Bären als bester Hauptdarsteller konnte sich Marvel-Star Sebastian Stan sichern für seine Rolle in Aaron Schimbergs A DIFFERENT MAN. Darin spielt er einen durch die Erkrankung Neurofibromatose stark entstellten Schauspieler namens Edgar, der durch ein neues Medikament innerhalb kurzer Zeit von seinem Leiden geheilt wird. Er beschließt, ein neues Leben zu beginnen, erklärt sich selbst für tot und nimmt die Identität eines Jugendfreundes an. Das beendet zu seinem Bedauern auch die zarte Annäherung an seine neue Nachbarin Ingrid, die nach seinem angeblichen Ableben ein Stück über ihn schreibt, in dem die beiden ein Paar – eine Art Beauty and the Beast – werden. Als sie einen Hauptdarsteller für die Inszenierung sucht, meldet sich Edgar und bekommt die Rolle. Doch plötzlich taucht ein gewisser Oswald auf, der dem alten Edgar zum Verwechseln ähnlich sieht, jedoch ein viel größeres Selbstbewusstsein hat und zu einer ernsthaften Konkurrenz erwächst.
Stans Verkörperung dieser vielschichtigen Figur ist solide, die Auszeichnung aber angesichts der sehr guten Leistungen zahlreicher anderer Kandidat*innen für diesen Preis ein wenig zu hoch gegriffen. Bemerkenswerter ist da schon eher das kunstvoll angelegte Spiel des Regisseurs mit unseren Vorstellungen von Schönheit und inneren Werten, das Schimberg hier als philosophisch untermauerte Komödie mit Elementen des Psychothrillers kombiniert. Nicht nur im Film, sondern auch im wirklichen Leben stahl der Darsteller des Oswald, Adam Pearson, dem Preisträger die Show. Der tatsächlich an Neurofibromatose erkrankte Schauspieler war ein viel beachteter Gast und fühlte sich auf dem Roten Teppich sichtlich wohl.
Die europäisch-afrikanisch-asiatische Koproduktion BLACK TEA beginnt mit einem Knalleffekt. Die ivorische Braut Aya lässt ihren Bräutigam vor versammelter Mannschaft am Altar sitzen. Er werde mit ihr nicht glücklich, teilt sie ihm mit und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Wenige Filmminuten später finden wir uns im chinesischen Guangzhou wieder, wohin Aya immigriert und anscheinend gut integriert ist. Sie arbeitet in einem Teeladen, wo sie von ihrem Chef Cai in die Geheimnisse der Teeherstellung und -verkostung eingeführt wird. Der zwischen beiden aufkeimenden Romanze stehen jedoch zunächst Vorurteile des Umfeldes und unverarbeitete Geschehnisse aus der Vergangenheit entgegen.
Abderrahmane Sissakos Inszenierungsstil erinnert an Wong Kar Wei, kann jedoch dessen Virtuosität nicht erreichen. Immerhin gelingen ihm schöne, harmonische Bilder und Stimmungen, die teilweise so märchenhafte Züge annehmen, dass einige Kritiker das Geschehen gar als Traum interpretieren.
Ebenso märchenhaft und sehr musikalisch geht es in GLORIA!, dem Wettbewerbsbeitrag der italienischen Schauspielerin und Musikerin Margherita Vicario zu, die die Musik zum Film auch gleich selbst komponiert hat. Sie siedelt ihren Film Ende des 18. Jahrhunderts in Venedig an, wo eine Gruppe Schülerinnen in einer etwas heruntergekommenen Musikschule die Popmusik erfindet. Der Papst hat sich angesagt und um ihn zu ehren, soll der Schulleiter eine eigene Messe für ihn komponieren. Doch der hat eine Blockade und so kommt es wie gerufen, dass das stumme Hausmädchen Teresa im Keller des Hauses ein bisher unbekanntes Instrument mit Tasten entdeckt, das sich hervorragend zum Musizieren und Komponieren eignet. Und während der Schulleiter noch verzweifelt nach Ideen sucht, singt und klingt es bald im ganzen Haus: die Mädchen machen ihr eigenes Ding, nicht nur musikalisch, sondern gleich auch mit Texten, die ihre eigene Lebenswelt widerspiegeln. Dass dies nicht überall auf Begeisterung stößt, ist vorhersehbar, doch die jungen Musikerinnen lassen sich nicht so schnell einschüchtern.
„Ich möchte meinen Film allen begabten, vergessenen Musikerinnen widmen, die nie ihre Kreativität entfalten konnten und deren Kompositionen nur selten überliefert wurden“, so die Regisseurin auf der Pressekonferenz in Berlin. Ein sicherlich ehrenwertes Anliegen, doch bei allem Spaß, den der Film im Großen und Ganzen macht, wäre etwas weniger Kitsch und Vorhersehbarkeit wünschenswert gewesen.
Mit Trauer und Verlust beschäftigt sich ANOTHER END von Piero Messina. Sein Science Fiction-Film mit Gael Garcia Bernal in der Hauptrolle stellt eine neue Technologie in den Mittelpunkt, die es Hinterbliebenen von Verstorbenen ermöglicht, für kurze Zeit noch einmal Kontakt zu ihren Liebsten aufzunehmen, um von ihnen Abschied nehmen zu können und Dinge zu erledigen, für die keine Zeit mehr blieb. Hierfür wird einem Host das Bewusstsein der Toten einprogrammiert, ist der vorgesehene Zeitraum abgelaufen, vergisst dieser alles wieder.
Sal hat seine Frau Zoe verloren und seine Lebenslust gleich mit. Er trauert so sehr, dass seine Schwester Ebe ihm rät, die neue Technologie auszuprobieren. Sal hält davon zunächst nichts, lässt sich aber dann doch überreden. Im Host Ava findet er tatsächlich seine Frau wieder, verliebt sich neu in sie und als das Programm endet, ist er nicht bereit, Zoe/Ava so einfach gehen zu lassen.
Ein interessanter Stoff, doch leider hat Messina zu wenig daraus gemacht. Statt auf die sich angesichts der neuen Technologie ergebenden moralischen Fragen einzugehen, konzentriert er sich auf die Liebesgeschichte, die jedoch zu wenig Potential bietet, um auf Dauer zu fesseln.
Nach dem Element Wasser in AQUARELA und der Tierwelt in GUNDA beschäftigt sich der Dokumentarfilmer Victor Kossakovsky in ARCHITECTON (Neue Visionen) mit dem Baustoff Stein. Bildgewaltig zeigt er uns riesige Steinbrüche in den Alpen, historische Tempelanlagen, 3-D-Betondrucker auf Baustellen ebenso wie Trümmer von eingestürzten Bauten nach dem Erdbeben in der Türkei oder von Putins Raketen zerstörte Wohnhäuser. Antike Ruinen, die zum Teil Jahrtausende überdauert haben, werden effektvoll kontrastiert mit modernen Bauten aus Beton, die meist nach rund 40 Jahren wieder abgerissen werden. Sein Anliegen: der Mensch sollte verstärkt im Einklang mit seiner Umwelt leben und eine nachhaltigere Bauweise anstreben.
In einem Epilog spricht er mit dem italienischen Architekten Michele De Lucchi. Dieser legt in seinem Garten einen Kreis aus Granitsteinen als magischen Zirkel an, den kein Mensch fortan mehr betreten soll. So sollen auch die Stadtplaner verfahren, wünscht er sich, damit sich die Natur ein Stück Erde zurückerobern könne. Bei der Pressekonferenz zum Film kommt Kossakovsky auf das Tempelhofer Feld in Berlin zu sprechen als gutes Beispiel für ein solches Vorgehen – ebenso ein Stück Landschaft, das bisher weder bebaut wurde noch zu anderen Zwecken freigegeben wurde.
Bei seinem Essayfilm kommt der russische Regisseur fast ohne Worte aus und setzt ganz auf die Opulenz seiner Bilder, die uns zum Teil wie bei der hautnahen Verfolgung eines Erdrutsches förmlich erschlagen. Unterlegt werden diese Bilder mit der Musik Evgueni Galperines’ und dem Sounddesign von Alexander Dudarev, die dem Geschehen eine weitere Dimension hinzufügen.
Weniger kulinarisches Kino als Einblick in das Innenleben einer Küche im fiktiven New Yorker Restaurant The Grill mit all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlichster Nationen gewährt uns der Wettbewerbsbeitrag LA COCINA von Alonso Ruizpalacios. Rooney Mara spielt darin eine tragende Rolle einer Kellnerin, die von einem Kollegen schwanger ist, aber das Kind im Gegensatz zu ihm abtreiben möchte.
Erzählt wird vorwiegend aus der Perspektive der jungen minderjährigen Estela aus Mexiko, die gerade ihren Job in der Küche angetreten hat und dort wie viele andere illegal arbeitet. Ruizpalacios wollte wohl einen Mikrokosmos der amerikanischen Gesellschaft zeigen, verzettelt sich dabei aber zu sehr. Probleme wie die amerikanische Einwanderungspolitik werden zwar oberflächlich angeschnitten, aber nicht ausdiskutiert. Hier wäre mehr möglich gewesen.
In die Bergwelt des Himalaya entführt uns Regisseur Min Bahadur Bham mit SHAMBHALA, dem ersten nepalesischen Film im Wettbewerb der Berlinale. Zu Beginn wird darin die junge Pema nach altem Brauch mit gleich drei Männern verheiratet: Mit dem Yak-Bauer Tashi, seinem in einem Kloster lebenden Bruder Karma und dem kleinen Dawa, der noch Schüler ist. Als Tashi von einer Geschäftsreise nach Lhasa nicht zurückkehrt, macht sich Pema in Begleitung von Karma auf, um den Verschollenen zu suchen. Eine beschwerliche Reise, denn Pema ist schwanger. Wie Pera erfährt, gibt es Gerüchte, ihr Kind stamme nicht von Tashi, sondern vom Dorflehrer Ram. Diese seien auch zu Tashi gedrungen, was sein Fernbleiben erklären könnte.
Mehr und mehr löst die Reise einen Selbstfindungsprozess aus. Der zurückhaltende Karma erprobt sich in weltlichen Herausforderungen und auch Pema wird zunehmend selbstbewusster und emanzipiert sich von den archaischen Ritualen ihrer Gesellschaft. Gedreht wurde in einer Zone zwischen Nepal und Tibet auf 5.000 Meter Höhe, die atemberaubende Landschaftsaufnahmen ermöglichte, ein großes Plus des Films, der sich allerdings viel Zeit nimmt und stellenweise ein wenig mehr Tempo gut vertragen könnte.
Immerhin gab es auch zwei Auszeichnungen, mit denen wir d’accord waren. So gelingt es dem österreichischen Kameramann Martin Gschlacht, die düstere Geschichte aus dem Oberösterreich des 18. Jahrhunderts, die Veronika Franz und Severin Fiala in DES TEUFELS BAD (Playon) erzählen, in kongeniale Bilder zu fassen. Hier kommt die erzkatholische und hypersensible Agnes in ein Dorf, wo sie mit dem Bauern Wolf verheiratet wird. Doch warm wird sie mit ihrem neuen Ehemann nicht und schon gar nicht mit dessen Mutter, die die neue Frau auf dem Hof argwöhnisch beäugt und für eine gefühlskalte Welt aus Arbeit und funktionieren müssen sorgt. Je mehr sich Agnes dieser Welt entzieht, desto isolierter und enger wird ihre eigene, und als auch die Flucht zu ihren Eltern nichts verändert, scheint eine Gewalteskalation der einzige Ausweg.
Veronika Franz und Severin Fiala entwerfen hier nicht nur das abgründige Psychogramm einer Frau, sondern führen auch ihre Religiosität ad absurdum und demaskieren die Kirche als Machtzentrum, das eine bitterarme Bauernschaft weiter funktionieren lässt. So predigt der Pastor von der Kanzel, dass es schon besser sei, sein eigenes Kind zu töten, als sich selbst umzubringen, denn im ersten Falle könnte die Todsünde immerhin noch gebeichtet werden.
Einen Vorteil hatte die schwache internationale Filmauswahl, sie ließ die deutschen Filme umso besser aussehen und machte die Berlinale immer mehr zu einer woken Leistungsschau des deutschen Films. Die hat aus unserer Sicht Matthias Glasner mit seinem dreistündigen Film STERBEN (Alamode) gewonnen. Trotz des abschreckenden Titels und des düsteren Themas war er ein Highlight des diesjährigen Wettbewerbs und hielt sogar einige Lacher bereit. Dies verdankt er einem zum Teil absurden Humor, der von brillanten schauspielerischen Leistungen seines Ensembles getragen wird, allen voran Corinna Harfouch und Lars Eidinger. Es ist einer der persönlichsten Filme des Regisseurs, wie er bei der Pressekonferenz erzählte, und speist sich aus Erinnerungen an seine Eltern. Das Drehbuch wurde mit einem Silbernen Bären belohnt.
Im Mittelpunkt steht die Familie Lunies. Mutter Lissy kümmert sich um ihren dementen Ehemann, kann die Aufgabe aber kaum noch stemmen, leidet sie doch selbst an diversen Krankheiten und Beeinträchtigungen. Ihr Sohn Tom wohnt im fernen Berlin und ist beruflich wie familiär stark eingespannt. Er probt als Dirigent mit einem Jugendorchester die neue Symphonie seines depressiven Freundes Bernard, außerdem muss er sich um seine schwangere Freundin kümmern, deren Kind – wie seine Mutter lakonisch bemerkt – leider nicht von ihm ist. Dritte im Bunde ist Toms Schwester Ellen, die kaum Kontakte zur Familie hat. Die impulsive Zahnarzthelferin hat Alkoholprobleme und bändelt mit einem Kollegen an, der verheiratet ist und zwei Kinder hat.
Warum sind wir so, wie wir sind? Diese zentrale Frage bildet den Kern dieses berührenden Films, die Stück für Stück im Laufe seiner dreistündigen Laufzeit offengelegt wird. Höhepunkt bildet eine rund 20-minütige Szene zwischen Mutter und Sohn, in der sich beide schonungslos offen ihre Abneigung zueinander bekunden – ein schauspielerisches Glanzstück, das lange im Gedächtnis bleibt.
Einem eher unbekannteren Kapitel des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus widmet sich Andreas Dresen in seinem Wettbewerbsbeitrag IN LIEBE, EURE HILDE (Pandora). Die im Zentrum stehende Hilde kam Anfang der vierziger Jahre in Kontakt mit der Widerstandsgruppe Die Rote Kapelle durch Hans Coppi, in den sie sich verliebt hatte und dem sie bei den Aktionen seiner Freunde half. Sie verteilten Flugblätter, hörten Radio Moskau ab, verschickten Funksprüche in die Sowjetunion. Als sie schwanger wurde, heirateten die beiden und erlebten einen glücklichen Sommer. Doch ihre Aktivitäten wurden entdeckt und die Gruppe landete im Gefängnis. Auch wenn tragischerweise nur einer dieser Funksprüche ankam – die Gruppe wurde zum Tode verurteilt, auch Hilde, die ihren Sohn aber noch gebären und acht Monate lang im Gefängnis großziehen durfte.
Dresen verzichtet bewusst auf Nazi-Aufmärsche, Hakenkreuz-Symbolik und andere typische Klischeebilder. „Mir war wichtig, die jungen Leute als sehr modern darzustellen und deutlich zu machen, dass dies alles auch heute passieren könnte“, betonte der Regisseur bei der Pressekonferenz. Hilde Coppi war eine sehr stille, eher ängstliche Person, die durch die Geschehnisse über sich hinaus wuchs und vor allem so lange es ging, für ihren Sohn Hans da sein wollte, der übrigens an der Premiere im Berlinale-Palast persönlich teilnehmen konnte.
Beim Drehbuch zum Film arbeitete Dresen erneut mit Laila Stieler (RABIYE KURNAZ) zusammen. Doch diesmal gelingt es den beiden nicht, die gleiche Wucht zu entfachen. Liv Lisa Fries, bekannt durch ihr lebhaft-expressives Spiel in BABYLON BERLIN, muss sich sichtlich zurücknehmen und wirkt zuweilen sogar fehlbesetzt. Insgesamt ist IN LIEBE, EURE HILDE dennoch ein wichtiger Film gerade in unserer heutigen Zeit. Auf die Frage, wie Dresen die Ausladung der AfD-Vertreter zur Berlinale-Eröffnung beurteilt, meinte er: „Ich freue mich grundsätzlich über jeden, der meinen Film sieht. Und Vertreter einer bestimmten Partei können davon sicher besonders viel lernen.”
Dass das Thema Nationalsozialismus auch die junge Generation von Filmemacher*innen bewegt, zeigten nicht nur Filme wie STELLA. EIN LEBEN und DIE PASSFÄLSCHER aus der jüngsten Vergangenheit, sondern auch Julia von Heinz neuer Film TREASURE (Alamode), der als Special Gala außerhalb des Wettbewerbs zu sehen war. Er beruht auf dem Bestseller “Zu viele Männer” der australisch-amerikanischen Schriftstellerin Lily Brett. Stephen Fry und Lena Dunham, die auch produziert hat, spielen Vater Edek und Tochter Ruth in dieser Generationen-Komödie, die die beiden mit ihrer Vergangenheit und Herkunft konfrontiert. Edek hat das KZ in Auschwitz überlebt und sich in New York ein neues Leben aufgebaut. Dort wurde Ruth geboren, die jetzt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Polen besuchen und nach ihrer Herkunft forschen will. Begeistert ist Edek von dieser Idee nicht, trifft sich aber mit seiner Tochter am Flughafen von Warschau, um sie nicht allein durch dieses ‘gefährliche Land’ reisen zu lassen. Von Anfang an durchkreuzt er ihre Reisepläne, will nicht nach Lodz, wo die Familie einst lebte, sondern lieber in Warschau nach dem Ghetto suchen, das längst nicht mehr existiert. Am Ende setzt Ruth sich durch, sie besuchen die Fabrik der Familie in Lodz, wo sie unter dem Dreck der Jahrzehnte einen Mosaikfußboden freilegt, der auf vergangene goldene Zeiten hinweist. In ihrem ehemaligen Wohnhaus lebt immer noch die gleiche Familie, die nach der Deportation ihrer Familie die Wohnung zugeteilt bekam. Sie essen noch heute von ihrem Geschirr, benutzen ihre Möbel und sind recht distanziert, weil sie befürchten, dass sie ihr Eigentum zurückfordern werden.
So deckt Ruth Stück für Stück die Familiengeschichte auf, versteht aber, spätestens beim Besuch von Auschwitz, dass manch eine Erinnerung für den Vater zu schmerzhaft ist.
Er ist ein Meister des Verdrängens, will nicht an das Grauen seiner Vergangenheit erinnert werden, sondern lieber sein Leben in vollen Zügen genießen. Ruth hingegen will alles ganz genau wissen, kann sich aber nur an wenigem erfreuen, so sehr hat das schwere Los der Familiengeschichte ihre Kindheit belastet. So zeigt der Film, wie der Holocaust über Generationen nachwirkt und warum er auch heute noch jüngere Generationen beschäftigt.
Ebenfalls als Special Gala zu sehen war Tilman Singers CUCKOO (Weltkino), ein deutsch-amerikanischer Thriller, dessen Hauptdarstellerin und Zugpferd Hunter Schafer durch die Serie EUPHORIA bekannt wurde. Sie spielt Gretchen, eine Teenagerin, die widerwillig mit ihrem Vater, ihrer Stiefmutter und dessen Tochter in die deutschen Alpen zieht. Dort wird sie nicht nur von unheimlichen Geräuschen und bedrohlichen Visionen einer sie bedrohenden Frau geplagt, sondern stößt auch auf ein düsteres Geheimnis, bei dem verstörende Experimente eine Rolle spielen.
Tilman Singer, der bereits mit seinem ersten Film LUZ (2018) erfolgreich war, gelingt hier
ein atmosphärisch dichter Horrorfilm mit einer eindringlich aufspielenden Hunter Schafer, in dem er erneut sein Gespür für frische Talente und spannende Plots beweist.
Seine eigene Neuauflage der Salomé-Inszenierung in Toronto diente Regisseur Atom Egoyan als Basis für seinen neuen Film SEVEN VEILS. Grundlage der Strauss-Oper ist wiederum Oscar Wildes Version des biblischen Stoffes. Darum webt Egoyan die Geschichte der von Amanda Seyfried gespielten Regisseurin Jeanine, die eine Salomé-Inszenierung ihres jüngst verstorbenen ehemaligen Mentors und Liebhabers fortführen soll. Bei ihrer Arbeit vermischen sich zunehmend die Bühnenhandlung mit den Erinnerungen und persönlichen Dämonen der Protagonistin. Auch das Thema Missbrauch spielt eine Rolle, das jedoch nicht immer schlüssig in die Handlung integriert wird. Insgesamt eine solide Leistung, die jedoch nicht an Egoyans große Werke wie THE SWEET HEREAFTER oder EXOTICA heranreicht.
Einer Psychotherapie im Weltall unterziehen muss sich Adam Sandler im Science-Fiction- Film SPACEMAN (Netflix) mit dem skurrilen Untertitel „Eine kurze Geschichte der böhmischen Raumfahrt“, eine Adaption des Romans „Spaceman of Bohemia” von Jaroslav Kalfař. Schon hunderte Tage unterwegs im All, um eine gigantisch große mysteriöse Wolke zu untersuchen, vermisst Astronaut Jakub vor allem seine Frau, die er schon zum zweiten Mal bei einer Schwangerschaft allein lassen muss. Die wiederum ist die Warterei auf ihren Mann satt und verlässt ihn. Das wagt aber niemand aus seinem Team ihm zu sagen, obwohl er es selbst schon ahnt. Psychologische Unterstützung erhält er unerwartet von einem spinnenartigen Alien, das plötzlich an Bord ist. Es bedroht ihn nicht, sondern diskutiert mit ihm über das Leben, die Liebe und seine schwierige Beziehung. Hört sich interessant an, ist aber leider zu behäbig erzählt, um dauerhaft zu fesseln.
Etwas zu blutig und actiongeladen kommt LOVE LIES BLEEDING (Plaion) der britischen Regisseurin Rose Glass daher, der nach seiner Premiere in Sundance als der neue THELMA und LOUISE gehandelt wurde. Seine Qualitäten verdankt er vor allem seiner Hauptdarstellerin Kristen Stewart, die sich als Fitnessstudio-Managerin Lou in einem Nest in New Mexico immer wieder in gewaltsame Machenschaften verstrickt, eigentlich aber nur aufhören will zu rauchen und ihre neue Romanze mit der Bodybuilderin Jackie genießen will. Doch daraus wird nichts – die kriminelle Vergangenheit ihrer Familie kommt immer wieder dazwischen. Das mit einigen Twists und Turns versehene Drehbuch treibt die Handlung, auf deren Weg so einige Leichen zurückbleiben, voran und hält die Spannung hoch. Dazu passt die stimmige Filmmusik von Clint Mansell, bekannt durch seine Zusammenarbeit mit Darren Aronofsky.
Auch als Berlinale-Special zu sehen war TURN IN THE WOUND von Abel Ferrara. In seinem neuesten Film beschäftigt er sich weder mit seiner neuen Familie in Italien (TOMMASO) noch spürt er seinen inneren Konflikten als Künstler (SIBERIA) nach. Ganz konkret begibt er sich in die Ukraine und lotet die Untiefen dieses Krieges aus, um nach dessen Sinn zu suchen.
Dafür zeigt er Bilder, die unsere Nachrichtensender nie zeigen würden. Er blendet nicht ab, wenn es unangenehm wird, zeigt Leichen, die auf der Straße liegen und verfolgt am Monitor wie russische Flugzeuge Bomben abwerfen, bis sie von der Luftabwehr unter tosendem Jubel der dabei Stehenden abgeschossen werden. Glasklar auch seine Interviews, die Dinge beim Namen nennen und nicht ausblenden, wenn es ernst wird, im Gegenteil, Ferrara fragt nach, wenn man sich das beschriebene Leid nicht vorstellen kann.
Sicher ist Ferraras Kriegsdoku schwere Kost, aber ungleich sympathischer als der arrogante Auftritt, den Sean Penn hier anlässlich seines Films SUPERPOWER im letzten Jahr hinlegte.
Im Forum war die Weltpremiere des Films MIT EINEM TIGER SCHLAFEN von Anja Salomonowitz zu sehen. Birgit Minichmayr verkörpert hier Österreichs erfolgreichste Künstlerin Maria Lassnig. Doch ihr Weg zum Erfolg war steinig, auf dem Land aufgewachsen, fand sie kaum Anerkennung für ihre Arbeit, aber auch in Wien war es nicht leichter. “Als Frau musst du immer doppelt so viel arbeiten wie ein Mann und wirst trotzdem als Letztes gefragt.” resümierte sie einmal, warum ihr Weg zum Erfolg so steinig war. So setzt sich ihre Kunst letztendlich am Kunstmarkt durch, als ihre Bilder für sechsstellige Summen verkauft wurden. Erst jetzt erhält sie Anerkennung, bekommt eine Professur angeboten, die sie natürlich ablehnt, denn mit dem Establishment hat sie längst gebrochen und fühlt sich der österreichischen “Hundsgruppe” näher, bei der sich der Künstler über sein Publikum stellt.
Salomonowitz’ Biopic ist spröde, manchmal sogar unzugänglich und kommt so der Künstlerin mit ihren eigenen Charaktereigenschaften näher. Es ist nicht chronologisch, sondern dreht sich um immer wiederkehrende Themen wie Kunstbetrieb, Emanzipation und das lieblose Verhältnis zu ihrer Mutter, deren Anerkennung sie nie wirklich erreichen konnte. Sie wird ihr ein Leben lang verwehrt bleiben, wie sie ein Leben lang mit ignoranten Dörflern, snobistischen Großstädtern und arroganten Kunstprofessoren zu kämpfen hat. Dabei verhärtet sie derart, dass sie immer unzugänglicher wird. Eine Paraderolle für Birgit Minichmayr, die sie über alle Altersstufen kongenial verkörpert, so dass die anfängliche Antipathie der Zuschauer gegenüber der Porträtierten am Ende umschlägt und diese sie nun als liebevollen Charakter voller morbidem Humor wahrnehmen.
Einem pointierten Humor mit wenig Worten frönt Minichmayr in Josef Haders ANDREA LÄSST SICH SCHEIDEN (Majestic), der im Panorama zu sehen war. Sie spielt Andrea, eine Polizistin in einer österreichischen Polizeidienststelle auf dem Land. Irgendwie hält sie den ganzen Laden zusammen, was damit zusammenhängt, dass sie einfach die Schlauste im Team ist. Nicht, dass es hier viel zu ermitteln gäbe, meist ist sie mit ihrem Kollegen auf Streife, um Verkehrsdelikte zu ahnden, denn hier wird man eigentlich nur wegen zu schnellem Fahren oder Alkohol am Steuer straffällig. Gerade hat sie ihrem Mann die Autoschlüssel weggenommen, weil er wieder betrunken nach Hause fahren wollte, da kommt sie selber mit dem Gesetz in Konflikt. Außer ihr weiß eigentlich niemand, was jetzt zu tun ist, und als die Ermittlungen noch einen zweiten Täter für das gleiche Verbrechen ausmachen, lernt sie den Dorflehrer Franz (Josef Hader) kennen, der noch weniger redet als sie. Dafür ist er viel schuldbewusster und hat schon die Koffer gepackt, um im Knast einzuchecken. Doch als das Kommissariat in der Landeshauptstadt St. Pölten die Ermittlungen übernimmt, wird alles noch komplizierter.
Josef Hader nutzt diese kleine Kriminalgeschichte, um dem Naturell seiner Landsleute näherzukommen. “Niederösterreich, das ist der Wilde Westen im Osten Österreichs. Endlose Rübenfelder, ein weiter Horizont und ein ewiger Wind. Kein Platz, um sich zu verstecken. Eine Gegend, in der Menschen nicht gut davonlaufen können.” erklärte Hader in Berlin. Andrea kennt alle persönlich, mit denen sie dienstlich zu tun hat. Kein schöner Job, weshalb es sie nach St. Pölten zieht. Und Franz zieht es ins Gefängnis. Er gilt im Dorf als verschrobener Intellektueller, mit dem längst niemand mehr spricht. Seine Schuldgefühle fressen ihn auf und vom Knast verspricht er sich eine reinigende Katharsis.
All dies erzählt Hader wortkarg, lakonisch und mit einem dunklen Humor, der nie die Melancholie übertönt, die in dieser Gegend zuhause zu sein scheint. Die Menschen hier sind nicht böser als anderswo, sie haben sich nur eine dickere Haut wachsen lassen gegen den Wind und gegen die Anfeindungen der anderen.
Michael Fetter Nathansky erzählt in ALLE DIE DU BIST (Port á Prince), seinem ersten Spielfilm nach seinem Abschlussfilm SAG DU ES MIR, eine magische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Strukturwandels im westdeutschen Braunkohle-Bergbau. Hierhin hat es Nadine verschlagen, die sich in den impulsiven Paul verliebt. Sieben Jahre später ist ihre Liebe aufgezehrt, von familiären, vor allem aber beruflichen Problemen. Dabei ist Nadine die gute Seele in ihrer vierköpfigen Familie, wie auch in der Firma. Hier ändern sich laufend die Bedingungen. Zwischen Rückbau, Umstrukturierung, Übernahme und Insolvenz geht es ständig hin und her. Für die Belegschaft ist das ziemlich nervenaufreibend, müssen sie sich doch ständig auf neue Verhältnisse einstellen. Erst Kurzarbeit, dann Überstunden und immer Angst vor Kündigung. Nadine ist da der ruhende Pol, sie behält die Nerven, ist das Bindeglied zwischen Belegschaft und Firmenleitung. Auch zuhause ist das nicht anders, sie muss die beiden Kinder im Griff haben und dann noch ihrem Mann beistehen, wenn er mal wieder eine Panikattacke hat.
Regisseur Michael Fetter Nathansky beobachtet sehr genau, was diese ständigen Umstellungen mit den Menschen machen. Er stellt unzählige Betriebsversammlungen Pauls Panik-Attacken gegenüber und zeigt, wie das Berufliche hier ins Private greift. Dabei lässt er Paul je nach seinem mentalen Zustand von einem Bullen, einem kleinen Jungen, einem großen Kind und ihm selbst verkörpern. Dazwischen Nadine, gespielt von der famosen Aenne Schwarz, die hier zwischen all dem Tohuwabohu nach ihrer verloren gegangenen Liebe sucht.
“Grandma you’re scaring our Kids” titelte eine Berliner Zeitung anlässlich der Besprechung ihres Berliner Auftritts im Rahmen ihrer „The Teaches of Peaches Anniversary Tour“ 2022. Gemeint ist die kanadische Performancekünstlerin Merrill Nisker, die sich seit zwei Jahrzehnten mit bissigem Humor und scharfsinnigem Verstand für LGBTQIA+ Rechte einsetzt und Fragen nach Gender- und sexueller Identität in den Fokus rückt.
Philipp Fussenegger und Judy Landkammer zeigen in ihrem Dokumentarfilm TEACHES OF PEACHES (Farbfilm) die Transformation der Kanadierin zur international gefeierten Künstlerin Peaches. Nach ihrem Durchbruch Anfang 2000 mit ihrem Hit „Fuck the pain away“ liefert sie Bühnenshows; die einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Peaches ist eine der spannendsten Künstlerinnen der letzten 20 Jahre. Rebellin, Feministin, Sängerin, Performerin, Künstlerin, Produzentin, Kuratorin, Rockstar. Die Kanadierin überschreitet Grenzen und provoziert jenseits des guten Geschmacks.
Die Regisseur:innen haben nicht nur ihre Anniversary Tour dokumentiert, sondern blicken auch mittels exklusivem privatem Archivmaterial auf Peaches zwanzigjährige Karriere zurück, die sie von ihren Wegbegleitern wie Chilly Gonzales, ihrer Freundin und langjährigen musikalischen Kollaborateurin Lesley Feist und ihrem Mann und Manager kommentieren lassen. So entsteht ein facettenreiches Bild von zwanzig Jahren Kampf um Genderrechte, dem zuzusehen auf der einen Seite viel Spass, auf der anderen Seite aber angesichts weltweit wieder aufkommender Homophobie und Abtreibungsverbote auch ein wenig traurig macht. Das hat offensichtlich auch die Künstlerin erkannt. Denn alles, was man erkämpft hat, muss täglich verteidigt werden und so macht sie sich im Alter von 56 Jahren noch einmal auf zu ihrer Anniversary Tour.
Fast schon dokumentarischen Charakter hat der Beitrag IVO (Piffl) von Eva Trobisch, der in der Reihe Encounters zu sehen war und die ambulante Palliativpflegerin Ivo bei ihrer Arbeit begleitet. In ihrem kleinen Skoda fährt sie umher, um die unterschiedlichsten Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, zu versorgen. Mit ihr erhalten wir einen intimen Einblick in die unterschiedlichsten Lebensverhältnisse und in einen Beruf, der viel Einfühlungsvermögen erfordert. Besonders schwierig wird es für Ivo bei ihrer Patientin Solveigh. Sie ist mit ihr schon seit langem befreundet, hat aber auch ein Verhältnis mit deren Mann Franz. Solveigh möchte ihr Leben schon vorzeitig beenden und bittet Ivo um Hilfe. Hauptdarstellerin Minna Wündrich verkörpert ihre Rolle glaubhaft und lebensnah. Trobisch vermeidet ganz bewusst die Gefahr der Überemotionalisierung, trotz des heiklen Themas hält sie die Zuschauer auf Distanz, die auch Ivo wahren muss, um ihren Beruf professionell ausüben zu können.
Die Nebenreihe Generations wurde von der kurdischen Regisseurin Soleen Yusef, die mit ihrem Debütfilm HAUS OHNE DACH 2016 den First Steps Award gewann, eröffnet. Mit SIEGER SEIN (DCM) erzählt sie auch ein wenig ihre eigene Geschichte: Mona ist mit ihrer kurdischen Familie aus Syrien nach Berlin geflüchtet und landet in einer Grundschule in Berlin-Wedding. Der Ausländeranteil der Schüler*innen liegt hier über 90 %, die Lehrer sind größtenteils frustriert und ansonsten herrscht hier Chaos vor. Ein Chaos, in dem sich auch Mona nicht zurechtfindet, spricht sie doch nur wenig Deutsch. Sie wird sogleich als Außenseiterin abgestempelt, doch ihr Lehrer erkennt in ihr eine gute Fussballerin, die das Mädchen-Fußballteam bereichern könnte, das gerade um die Schulmeisterschaft kämpft. Doch auch hier geht es ähnlich chaotisch zu, alle spielen gegeneinander, doch Mona gelingt es, ihren Mitspielerinnen klarzumachen: “Only teamwork makes the dream work.”
Die Regisseurin bezeichnete in Berlin ihren Film “als eine Art Hanni und Nanni für Kanaken” und zeichnet das Porträt einer starken Mädchenfigur, die auf der mit Jugendlichen ausverkauften Premiere im Haus der Kulturen der Welt gefeiert wurde.
Auch Asli Özarslan gibt uns in ihrem Film ELLBOGEN (JIP-Film) Einblick in das Leben einer jungen Frau: Halal wird bald 18. Das Abi hat sie nicht geschafft, und so steckt sie in Trainingsprogrammen des Arbeitsamtes fest. Auf ihre Bewerbungen bekommt sie nur Absagen, weshalb sie in der Bäckerei ihrer Mutter aushelfen muss. Früher hat sie noch Träume gehabt, doch nun bleiben alle Türen für sie verschlossen. Selbst an ihrem Geburtstag will man sie nicht in den Club lassen. Frustriert zieht sie mit ihren Freundinnen wieder ab und wird in der U-Bahn Station von einem jungen Studenten belästigt. Gemeinsam wehren sie sich gegen ihn mit tödlichem Ausgang. Halal flieht nach Istanbul. Sie spricht zwar die Sprache, kennt sich aber nicht aus und bekommt es bald mit der Polizei zu tun. Auch hier findet sie keine Arbeit, dafür bräuchte sie eine Arbeitserlaubnis, doch die ist schwer zu kriegen. In Deutschland wird sie inzwischen wegen Totschlags gesucht und so endet der Film in bitterer Aussichtslosigkeit.
Mag sein, dass der Film am Anfang etwas konstruiert wirkt. Insbesondere die erfolglose Arbeitssuche ist derzeit nicht ganz nachvollziehbar, dennoch berichtet der Film eindringlich von der Aussichtslosigkeit, die jungen Frauen mit Migrationshintergrund erwartet, wenn sie von dem von Familie und Gesellschaft vorgegebenen Weg abweichen.
Insgesamt kann man schon sagen, dass viele deutsche Filme, die in Berlin zu sehen waren, interessante Themen recht differenziert und mit guten schauspielerischen Leistungen in Szene setzen, dabei aber meist auf Fernsehniveau verharrten. Da war Nora Fingscheidt die berühmte Ausnahme, die mit THE OUTRUN (StudioCanal) einen auch visuell überwältigenden Film vorlegte.
Nach ihrem großen Erfolg mit SYSTEMSPRENGER, der im Berlinale-Wettbewerb 2019 lief, war ihr neuer Film nur im Panorama zu sehen, weil er bereits in Sundance lief. Er beruht auf dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Amy Liptrot, mit der sie in enger Zusammenarbeit auch das Drehbuch verfasste. Einfühlsam über wechselnde Zeitebenen hinweg schildert der Roman den Weg der Protagonistin Rona aus ihrer Alkoholsucht, der sie zurück in ihre Heimat führt. Bei ihrer Familie auf den Orkneyinseln versucht sie, den Verführungen der Großstadt London zu entkommen, muss sich dort aber anderen Dämonen ihrer Vergangenheit stellen. In der Abgeschiedenheit der Natur findet Rona die Ruhe, um zu sich zu kommen. Sie schwimmt mit den Robben im eiskalten Meer, nimmt einen Job bei einer Vogelschutzstation an, erinnert sich an die Sagen und Mythen ihrer Heimat, die ihr Erdung und Halt verleihen.
Schwarzweiß-Aufnahmen und Animationen sind weitere Stilmittel, die Fingerscheidt in ihre Erzählung einbindet, um damit das Geschehen neben den atemberaubenden Aufnahmen der rauen Landschaft aufzulockern. Allerdings machen es die Zeitsprünge dem Zuschauer auch nicht gerade leicht, der Handlung zu folgen, wobei die wechselnden Haarschattierungen der Protagonistin ein wenig Orientierung bieten. Einmal mehr erweist sich Saoirse Ronan als begnadete Schauspielerin, die mit ihrem eindringlichen Spiel die Handlung trägt. Sie hat den Stoff entdeckt, der sich auf Amy Liptrot Tagebücher gründet und ihn Nora Fingscheidt angetragen. “Die Tagebücher waren weniger Beschreibungen von Tageserlebnissen als vielmehr Beschreibungen von Sinneseindrücken, die immer im Kontext zur Natur standen.” erzählte Fingscheidt in Berlin. Das habe sie inspiriert, diese Geschichte einer Alkoholikerin mit starken Naturaufnahmen zu erzählen. Eine mutige Idee, die auch Dank der hervorragenden Arbeit ihres schweizerischen Kameramanns Yunus Roy Imer, mit dem sie schon bei SYSTEMSPRENGER zusammengearbeitet hat, zum Arthaus-Hit des Frühjahrs avancieren könnte.