Die 75. Filmfestspiele in Cannes 2022

Cannes Filmplakat 2022

Up to the sky – das diesjährige Plakat des Filmfestivals, alle Fotos: Cannes Filmfestival

Es gehört schon reichlich Chuzpe dazu, das wichtigste Filmfestival der Welt mit einem Zombie-Film zu eröffnen. Regisseur ist immerhin Michel Hazanavicius, der 2011 mit THE ARTIST seinen internationalen Durchbruch bei den Filmfestspielen von Cannes gefeiert und gleich fünf Oscars eingestrichen hat. Sein neuer Film ist das Remake von ONE CUT OF THE DEAD (2017) von Shinichiro Ueda, der zunächst unter dem Titel Z herausgebracht werden sollte. Auf Wunsch der ukrainischen Regierung aber in COUPEZ! umbenannt wurde. 

Vor der Aufführung des Films wurde bei der Eröffnungszeremonie des Festivals, natürlich auch hier (wie bei gefühlt allen Großveranstaltungen derzeit) der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj live zugeschaltet. Er erinnerte daran, dass wir hier in Frieden Filme schauen, während in der Ukraine täglich Menschen sterben. Er sei gespannt, ob das Filmfestival zum Ende dieses barbarischen Krieges beitragen könne und forderte, dass die Filme Haltung zeigen. Angesichts der vielen Diktatoren in der Welt, sei es an der Zeit, dass ein Film gedreht wird wie seinerzeit Chaplins DER GROßE DIKTATOR. 

Tatsächlich ist der Krieg noch viel zu jung, als dass die Filmindustrie hier schon Antworten geben könnte. Dennoch hatte man bei einigen Filmen das Gefühl, dass sie genau das versuchten. Mag sein, dass diese Filme nicht unbedingt unter einem entsprechenden politischen Hintergrund entstanden sind, so aber heute von uns gesehen werden. 

Coupez!

Szene aus dem Eröffnungfilm Coupez!

So konnte man dann auch den folgenden Eröffnungsfilm COUPEZ! als sinnloses Blutbad sehen, zwar besser gearbeitet als das Original und nicht nur Zombiefilm, sondern auch ironische Komödie über einen Filmdreh, bei dem nach einer Folge von Pleiten, Pech und Pannen am Ende ein reichlich überdrehter Splatterfilm im Kasten ist. COUPEZ bedeutet übersetzt Schnitt, womit natürlich in erster Linie das Blutgemetzel, aber auch der Filmschnitt gemeint ist, wie es der internationale Titel FINAL CUT auf den Punkt bringt.

 

“Was können wir mehr tun als die Waffe der Massenemotionen zu ziehen, um das Gewissen zu wecken und die Gleichgültigkeit der Menschen aufzurütteln?” resümierte Vincent Lindon in seiner Begrüßungsrede als diesjähriger Jury-Präsident und gab damit die vielleicht beste Antwort auf Selenskyjs Eingangsfrage. Tatsächlich weist das Line Up einige Filme aus, die sich mit dem Ukraine-Krieg beschäftigen und ist dabei erstaunlich aktuell. So ist zum Beispiel der litauische Filmemacher Mantas Kvedaravičius erneut in den Donbass gereist, um dort eine Fortsetzung seiner Dokumentation MARIUPOLIS von 2015 zu drehen. Bei den Dreharbeiten ist er im Kriegsgeschehen umgekommen und seine Teammitglieder haben alles getan, um den Film fertigzustellen, so dass er hier in Cannes der Weltöffentlichkeit vorgestellt werden konnte. 

Filmstill Tschaikovsky's Wife

Tschaikovsky’s Wife

Auch THE NATURAL HISTORY OF DESTRUCTION des Ukrainers Sergei Loznitsa beschäftigt sich mit einem Krieg, dem Bombenkrieg auf deutsche Städte während des zweiten Weltkrieges und evoziert erstaunlich Vergleiche. Bei Kirill Serebrennikov hatte man dagegen das Gefühl, er habe seinen Film TCHAIKOVSKY’S WIFE (Prokino)  nur gemacht, um Putin zu ärgern. Dieser hatte ihn 2017 für seine Ballett-Inszenierung über Nurejew, in der er dessen in Russland immer noch verschwiegene Homosexualität offenbarte, in einen langen Hausarrest geschickt. Während alle anderen russischen Vertreter und Delegationen in diesem Jahr in Cannes zu unerwünschten Personen erklärt und ausgeladen wurden, konnte Serebrennikov seinen neuen Film diesmal im Wettbewerb präsentieren. Bei seiner dritten Cannes-Beteiligung durfte er sogar erstmals über den roten Teppich laufen und den Festivalpalast betreten – bisher hatte er nie eine Ausreisegenehmigung bekommen. Der Ukraine-Krieg war für ihn die letzte Warnung, Russland endgültig zu verlassen, er lebt und arbeitet heute in Berlin. Zuvor hatte man ihm bereits die staatliche Filmförderung gestrichen, denn auch sein neuer Film legt den Fokus auf Tschaikovskys Homosexualität.

Zentrale und titelgebende Figur ist aber Antonina Miliukova, die geradezu eine Obsession für Tschaikovsky entwickelt. Die unsterblich in ihn verliebte junge Frau setzt alle Hebel in Bewegung, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Sie schreibt ihm zwei leidenschaftliche Briefe, ringt ihm ein Treffen ab und überredet ihn schließlich, sie zu heiraten, immerhin bringt sie eine ansehnliche Mitgift mit ins Haus. Und Geld kann Tschaikowsky gerade gut gebrauchen. Zum anderen würde es den ewigen und nicht unberechtigten Gerüchten entgegentreten, dass sich sein sexuelles Interesse ausschließlich auf Männer richtet. Obwohl der geniale Komponist Antonina mehr oder weniger klausuliert reinen Wein einschenkt, verdrängt die junge Frau in ihrem Liebeswahn das Problem, und so steht die Ehe von Anfang an unter keinem guten Stern. Immer mehr lässt er sie seine Verachtung spüren und treibt sie so zunehmend in den Wahnsinn. Serebrennikov inszeniert dies bildgewaltig und düster und setzt dabei ganz auf seine stark aufspielende Hauptdarstellerin Alyona Mikhailovanvertrauen.

 

Top Gun: Maverick

Tom Cruise war der umjubelte Star an der Croisette

Am zweiten Tag hatte man dann kurz das Schreck-Gefühl, der Krieg hätte einen auch in der Realität eingeholt, als Starfighter im Formationsflug über die Croisette donnerten. Im Nachhinein stellte sich dies jedoch nicht als Mobilmachung, sondern als freundlicher Gruß des französischen Militärs an Tom Cruise heraus, der hier gerade mit einer Goldenen Ehrenpalme für seine Lebenswerk geehrt wurde und nach 36 Jahren den zweiten Teil seines Top Gun-Erfolges präsentierte. Dabei stellte sich TOP GUN 2 – MAVERICK als reines Star-Vehikel für seinen charismatischen Hauptdarsteller heraus, der nicht altern will und angeblich seine Stunts immer noch selber macht. Auf Nachfrage bei der Pressekonferenz antwortete er, dass er nicht verstehe, warum er danach ständig gefragt werde. Fred Astaire hat jedenfalls auch niemand gefragt, warum er in seinen Filmen tanzt.

Dass Altbewährtes im Kino immer noch funktioniert, zeigt der Film derzeit in den Multiplexen mit bemerkenswerten Zahlen. Bei der Filmkunst scheint es nicht so leicht zu sein. Schon im letzten Jahr wies das Line-Up des Festivals einige Filme aus, die auf der Suche nach etwas Neuem waren. Der Gewinner TITANE ist vielleicht das beste Beispiel, aber auch IN DEN BESTEN HÄNDEN, WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT, FRANCE und DER SCHLIMMSTE MENSCH DER WELT suchten nach neuen Formen des Erzählens. Und auch die diesjährige Auswahl wies viele moderne und vielversprechend Filme und Themen aus, allein konnten die meisten nicht überzeugen.

Triangle of Sadness

Noch ist alles entspannt: Szene aus Goldene Palme-Gewinner Triangle of Sadness

So zum Beispiel TRIANGLE OF SADNESS (Alamode), mit dem Ruben Östlund dem großen internationalen Erfolg von THE SQUARE nacheiferte. Es ist ein Triptychon auf unsere Gesellschaft, das er gewohnt böse und satirisch zum Besten gibt. Dabei ist die erste Episode ausgesprochen gelungen und zeigt uns ein Casting a la ‘Germanys Next Top Model’, einziger Unterschied: Es sind alles männliche Models. Was hier an männlicher Eitelkeit geboten wird, ist absolut sehenswert, allen voran das Warm Up, um die Models auf Temperatur zu bringen. Einer von ihnen ist Carl, der mit seiner Kollegin Yaya zusammen ist. Sie werden auf eine Luxusyacht eingeladen, was sie mit einigen halbseidenen Superreichen und einem marxistischen Kapitän (Woody Harrelson), der sich vor dem Captains-Dinner drücken will, zusammenbringt. Östlund zeichnet die sozialen Unterschiede zwischen Crew und Gästen so pointiert, dass man sich an Fellinis SCHIFF DER TRÄUME erinnert fühlt. In der dritten Episode geht das Schiff dann unter und einige der Besatzung können sich auf eine einsame Insel retten. Hier scheinen sich die Rollen- und Klassenverhältnisse umzukehren, denn den Models und Millionären fehlt jeglicher Überlebensinstinkt, von nun an übernimmt die Putzfrau das Ruder.

Auch zwei deutsche Schauspiel-Ikonen finden wir hier wieder: Sunnyi Melles darf sich leibhaftig im Morast suhlen, während sich Iris Berben als Schlaganfallgeschädigte mit einem einzigen Satz durch den ganzen Film quälen muss. Die deutsche Beteiligung (Filmförderung Hamburg) am Film ist sicherlich auf Östlund Frau Sina zurückzuführen, die er vor fünf Jahren kennenlernte, als er auf dem Filmfest Hamburg THE SQUARE vorstellte. Sie ist Modefotografin und war der Auslöser für ihn, über das Konzept von Schönheit und der Auswirkung des Materialismus auf die Menschen nachzudenken. Das alles klingt vielversprechend und man würde erwarten, dass Östlund hier die äußere Schönheit einer inneren gegenüberstellt. Schließlich geht es in seinen vorherigen Filmen HÖHERE GEWALT und THE SQUARE um die Verantwortung des Einzelnen und wie er damit umgeht. Doch Östlund geht nicht in die Tiefe, inszeniert mit viel Spass und guten Bildeinfällen gesellschaftliche Gegensätze. ‘Der Spiegel’ wollte ihm schon die ‘Palme der Plattheit’ vergeben, tatsächlich wurde es wie schon bei THE SQUARE die Goldene. Offensichtlich hat der Jury der Film genauso gut gefallen wie dem vorwiegend jungen Publikum, und wir können uns nur der Meinung von Julia von Heinz anschließen, die sich fragte: “Ist das Aktivismus mit einfachsten Botschaften oder großes Kino? Für mich braucht es im Moment dieses dynamische Verhältnis zwischen unserer Wirklichkeit und dem Kino. Nur so kann auch ein junges Publikum zurück ins Kino geholt werden.“

Tory and Lokita

Halten zusammen: Tory and Lokita

Genauso umstritten wie die Goldene Palme war der Special Award, der anlässlich des 75. Jubiläums des Festivals zusätzlich vergeben wurde. Er ging an die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne und hätte auch ein Ehrenpreis für ihr Gesamtwerk sein können. Immerhin haben sie bereits neunmal am Wettbewerb teilgenommen und achtmal einen Preis gewonnen. Doch der Preis ging an ihren neuen Film TORI AND LOKITA. Für uns einer der besten Filme in Cannes, doch ein französischer Kollege meinte, dass die Dardennes eigentlich nur einen Film gedreht hätten und zwar immer den gleichen. Alle ihre Filme sind bewegend, sozial engagiert und für die Gesellschaft ungemein wertvoll, doch irgendwie immer gleich. Irgendwo mag er da Recht haben, aber es ist auch immer wieder spannend, wie die beiden Altmeister ihr Ohr am Puls der Zeit haben und sich immer wieder neu erfinden. 

Auf der Suche nach sozialen und gesellschaftlichen Missständen auf den Straßen Belgiens haben sie diesmal das Schicksal von Tori und Loklta ausgemacht. Beide sind Flüchtlinge aus Afrika, der etwa achtjährige Tori hat aufgrund seines Alters eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, während die fast erwachsene Lokita ihren Flüchtlingsstatus noch beweisen muss. Zusammen sind sie ein unschlagbares Team und wissen sich im Dschungel der belgischen Unterwelt durchzuschlagen. Sie behaupten, Geschwister zu sein, und als die Behörden mit einem DNA Test drohen, steht ihre gemeinsame Existenz auf dem Spiel.

Ungeheuer einfühlsam und eindringlich lassen uns die Dardennes am Schicksal der beiden traumatisierten Kinder teilhaben. Sie müssen sich allein durch eine ihnen fremde Welt schlagen und besitzen nur ihre bedingungslose Freundschaft, die gleichzeitig ihre Achillesferse ist, denn nur zusammen sind sie stark. Während die Behörden ihnen formale Steine in den Weg legen, rutschen sie über eine Pizzeria, für die sie Auslieferungen durchführen, auf die schiefe Bahn. Der Weg vom Pizzaboten zum Drogenkurier ist nicht weit, und das verdiente Geld reicht nicht, um Lokitas Mutter in Afrika zu helfen. Wenn am Ende der Drogendeal aufzufliegen droht, wird Lokta von den Mafiosis brutal erschossen, während sich Tori in eine ungewisse Zukunft retten kann. 

Die Dardennes klären den Fall nicht auf, lassen die Polizei aus dem Spiel, lediglich bei der Beerdigung hält Tori eine kurze Rede, in dem er seinem Unverständnis Ausdruck verleiht, warum die Behörden Lokita keine Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt haben. Dann würde sie noch leben und er hätte noch seine ‚Schwester‘. Das offene Ende des Films erscheint gerechtfertigt, da dies kein Einzelfall ist, sondern die Flüchtlinge überall auf der Welt – auch bei uns – ausgenutzt und missbraucht werden und ihnen unter Umständen größere Menschenrechtsverletzungen drohen als zuhause.

Close

Mehr als gute Freunde? Die beiden Protagonisten in Close

Lukas Dhont gewann hier vor vier Jahren für sein Transgender-Erstlingswerk GIRL die Goldene Kamera. Nun durfte er mit seinem zweiten Film CLOSE (MUBI) gleich im Wettbewerb starten und gewann ex aequo den Großen Preis der Jury. Gewohnt einfühlsam folgt er hier den den beiden 13-jährigen Jungs Léo und Rémi. Sie sind enge Freunde, vielleicht sogar ein wenig zu eng. Ständig sieht man sie zusammen, in der Schule, in der Freizeit, zuhause, wo sie von den jeweiligen Eltern wie ihr zweiter Sohn behandelt werden. Sie lieben es einander nah zu sein, eine völlig unschuldige Nähe, die in diesem Sommer zu Ende gehen soll. Denn wie dem Zuschauer, der hier eventuelle homosexuelle Andeutungen zu erkennen meint, geht es auch Léo, er spürt die fragenden Blicke der Kommilitonen, die versteckten Beobachtungen der Erwachsenen. Überall liegt die Frage in der Luft: “Seid ihr zusammen, seid ihr ein Paar?” Léo weiß nicht einmal selbst die Antwort, aber es ist ihm unangenehm, so beobachtet zu werden. Er distanziert sich mehr und mehr von Remy, spielt plötzlich lieber mit den anderen Fußball, bis Rémi zum großen Schulausflug nicht erscheint. 

Als die Klasse wieder nach Hause kommt, werden die Schüler von ihren Eltern empfangen, etwas Schreckliches ist passiert: Remy hat sich umgebracht. Fortan wird Léo seines Lebens nicht mehr froh, die Schulpsychologin geht ihm auf den Nerv und mit seinen Eltern mag er auch nicht über seine Schuldgefühle reden. Er besucht Rémis Mutter, schaut sich nochmal im Kinderzimmer seines Freundes um, doch einen Abschiedsbrief hat niemand gefunden. Rémis Mutter spürt, dass da irgendwas in Léo brodelt, doch sie kann es ihm nicht entlocken. Es braucht einen langen Annäherungsprozess, bis Léo Vertrauen fasst und den Mut hat, seine Schuldgefühle zu thematisieren.

Es ist ein Film der leisen Töne, den Dhont hier als einfühlsames psychologisches Porträt in Szene setzt. Seine Erzählweise ist subtil und sehr langsam, dafür geht er ganz tief und zeigt am Ende, dass in Ehrlichkeit und Vergebung der Schlüssel für die Bewältigung eines Traumas liegt. 

Stars at Noon

Szene aus Stars at Noon

Der zweite Jurypreis ging an STARS AT NOON (Weltkino) von Claire Denis und war erheblich umstrittener. Die gebürtige Pariserin entwickelt sich gerade zur Vielfilmerin und ist seit HIGH LIFE mit Robert Pattinson erheblich kommerzieller geworden. Gerade erst hat sie auf der Berlinale AVEC AMOUR ET ACHARNEMENT vorgestellt, da wartet sie in Cannes mit einer Romanverfilmung auf, die Geheimnisse, Verrat und große Leidenschaft im Nicaragua der achtziger Jahre auf unterhaltsame Weise in die heutige Zeit versetzt. Dafür bedient sie sich der weiblichen Reize von Margaret Qualley, der Tarantino vor drei Jahren im ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD zum internationalen Durchbruch verhalf. Als investigative amerikanische Journalistin, deren Auftraggeber nichts mehr von ihr wissen will, sitzt sie ohne Geld in einem dreckigen Hotelzimmer fest, wo sie sich mit Liebesdiensten eine Art Aufenthaltsgenehmigung von Polizei und Politik sichern kann oder aber auch nur 50 Dollar und eine Stunde mit Klimaanlage mitnimmt. Als sie bei einem solchen Techtelmechtel an den Briten Daniel (Joe Alwyn) gerät, der angeblich für einen Ölkonzern arbeitet, gerät sie ins Fadenkreuz des nicaraguanischen Geheimdienstes, aber auch der CIA scheint hier mächtig mitzumischen. Alle Schutzpatrone lassen sie plötzlich fallen, und so muss sie mit dem adretten Engländer die Flucht nach Panama antreten. Das ist zum Teil schön anzusehen, doch fragt man sich, was Denis eigentlich erzählen will. Schließlich handelt es sich bei der Vorlage um einen Roman über die nicaraguanische Revolution, doch von einer politischen Haltung ist hier nichts zu sehen.

 

The Eight Mountains

Romanverfilmung The Eight Montains

Auch der Jury-Preis wurde geteilt und ging ex aequo an Jerzy Skolimowskis EO, einer modernen Adaptation von Robert Bressons AUF WIEDERSEHEN BALTHAZAR – den wir leider nicht sehen konnten – und THE EIGHT MOUNTAINS (DCM) von Charlotte Vandermeersch und Felix Van Groeningen. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Paolo Cognetti und vereint mit Luca Marinelli (Martin Eden / Coppa Volpi 2019) und Alessandro Borghi (Devils) zwei italienische Stars auf der Leinwand. Sie spielen zwei Jungs, die sich irgendwo in einer verlassenen Gegend im Aosta-Tal begegnen. Pietro stammt aus Turin und macht hier mit seinen Eltern Urlaub und der einheimische Junge gleichen Alters, Bruno, rettet ihn aus der aufkommenden Langeweile. Während Bruno sein ganzes Leben in dieser einsamen Bergwelt verbringen wird, kehrt Pietro bald zurück in die Stadt. Als erwachsenen Mann zieht es ihn hinaus in die weite Welt, doch kommt er immer wieder hierhin zurück. In ihren Begegnungen erinnern sie sich ihrer Herkunft, teilen die Idee, nicht in die Fußstapfen ihrer Väter treten zu wollen. Sie erzählen sich gegenseitig von Liebschaften und Verlusten, entfalten ihre Wünsche und Träume und erinnern sich ihrer Herkunft, bis Pietro feststellen muss, dass es in seinem Leben nur eine fest Konstante gab: die Freundschaft zu Bruno.

Der Film wurde gemischt aufgenommen, je nachdem, ob sich der Zuschauer durch die subtile Inszenierung, die sensiblen Dialoge und die beeindruckenden Naturaufnahmen in diese Bergwelt hineinziehen ließ oder nicht. Auch wenn uns als Flachländler diese Bergromantik nicht so richtig packen konnte, ist es umso erstaunlicher, dass sie von zwei Belgiern, die nun auch nicht gerade in den Bergen zuhause sind, so eindrücklich inszeniert wurde.

Decision to leave

Decision to leave

Zwei Preise wurden ex aequo vergeben, ein zusätzlicher Preis zum 75. Jubiläum, das zog die Preisverleihung derart in die Länge und vermittelte den Eindruck, dass beinahe jeder Film irgendeine Auszeichnung bekam. Dabei war die Jury offensichtlich bemüht, die Preise möglichst gleichmäßig zu verteilen. Das betraf nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Breite der unterschiedlichen Themen und ihrer geographischen Herkunft. So ging auch das asiatische Kino nicht leer aus. 

Die Silberne Palme für die Beste Regie ging an DECISION TO LEAVE (Koch Films) von Park Chan-wook, der eigentlich für ziemlich brutale Filme wie SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE und OLDBOY bekannt ist. Hier jedoch schlägt er andere Töne an. Was zunächst wie ein typischer Film Noir beginnt, entwickelt sich zu einer zärtlichen Romanze zwischen der Witwe des Toten und dem Ermittler. Ermitteln muss der von Schlaflosigkeit geplagte Kommissar in einem mysteriösen Todesfall, bei dem ein erfahrener Hobbykletterer bei einer Bergbesteigung ums Leben kommt. Zunächst sieht alles nach einem Unfall oder Selbstmord aus, doch der Kommissar hat Zweifel, und so sucht er die Witwe des Toten auf, um sie zu befragen. Obwohl sich in ihm ein grausiger Verdacht regt, entwickelt der Kommissar eine leidenschaftliche Obsession für seine Hauptverdächtige. Er lässt sie nicht mehr aus dem Auge, beschattet sie sogar nachts vor ihrem Haus und tatsächlich werden seine Gefühle bald erwidert. Handelt es sich um eine ‘‘amour fou’ oder doch um eine typische ‘femme fatale’, die dem Kommissar den Kopf verdreht, um ohne Strafe davonzukommen?

Park Chan-wook inszeniert diesen Krimi handwerklich sicher mit einer geradezu zärtlichen Note, findet Platz für Humor und sein Faible fürs Morbide, wenn wir aus den Augen des Toten Ameisen auf dessen Augapfel beobachten, doch am Ende überrascht er mit einer Wendung, die alles auf den Kopf stellt. 

Szene aus Broker

Eine Familie ganz eigener Art: Szene aus Broker

Auch der Preis für den Besten Hauptdarsteller ging nach Asien. Der Südkoreaner Song Kang-ho, der uns noch aus PARASITE bestens im Gedächtnis ist, gewann für seine Rolle in BROKER (Koch Films) von Hirokazu Kore-edas. Der hat in den letzten Jahren unseren Familienbegriff mit Filmen wie SHOPLIFTERS (Goldene Palme 2018), UNSERE KLEINE SCHWESTER (2015) und LIKE FATHER LIKE SON (Jurypreis 2013) mächtig erweitert und auch in seinem neuen Film geht es um Familie.

Dong-soo arbeitet Teilzeit in einer Kirche, wo er gerade mit seinem notorisch klammen Freund Sang-hyun Nachtdienst schiebt, als die junge Prostituierte So-young, hier ihr Neugeborenes neben der Baby-Klappe ablegt. Die beiden Freunde nehmen das Kind aber nicht auf, sondern vernichten alle Beweise, dass es je abgegeben wurde, um es zu unterschlagen und an vermögende  Paare mit Kinderwunsch zu verkaufen. Doch das schlechte Gewissen treibt  So-young zurück zur Kirche, um sich tags drauf nach dem Wohl ihres Babys zu erkundigen. Damit bringt sie die beiden Freizeit-Ganoven mächtig in die Bredouille, doch sie können sie überreden, gemeinsam mit ihnen nach einer Familie zu suchen, bei der es ihr Baby besser hat. Was die beiden nicht wissen ist, dass sie längst auf dem Radar von Polizistinnen sind, die die beiden auf frischer Tat verhaften wollen. Es beginnt also ein Roadmovie, das das Trio rund um Busan führt, wo diverse Treffen mit potentiellen Käufern platzen, weil sich die Ganoven zu ungeschickt anstellen oder die Kunden ihnen nicht gut genug erscheinen. Was die beiden Polizistinnen fast um den Verstand bringt, imponiert So-young und als sich noch ein kleiner Waisenjunge ihnen anschließt, ist die Patchwork-Familie komplett. Mit jedem neuen Übergabetermin wird klarer, dass das Baby gar keine neuen Eltern braucht, sondern längst Teil einer funktionierenden Familie ist. Dies scheinen am Ende auch die Polizistinnen zu erkennen, die sich anfangs mit markigen Sprüchen wie “Wenn man keine Kinder will, sollte man keine in die Welt setzen.” motivieren und während der Reise mehr und mehr mit den Beweggründen aller Beteiligten konfrontiert werden.

So gelingt Kore-eda ein ausgesprochen harmonischer Film voller Mitgefühl und Melancholie, der zeigt wie sehr die Polizistinnen mit ihrem Schwarzweiß-Denken, das in vielen Staaten gerade auf dem Vormarsch ist, daneben liegen.

Zar Amir Ebrahimi in Holy Spider

Engagierte Ermittlerin: Zar Amir Ebrahimi in Holy Spider

Als Beste Schauspielerin wurde Zar Amir Ebrahimi ausgezeichnet, die in Ali Abbasis HOLY SPIDER (Alamode) die Journalistin Rahimi spielt, die in die heilige iranische Stadt Mashhad kommt, um im Fall eines Serienmörder zu recherchieren, der bereits 16 Prostituierte umgebracht hat. Doch schon bald stößt sie auf Widerstände, in ihrer Redaktion, bei der hiesigen Polizei und beim zuständigen Imam. Irgendwie scheint man sich nicht klar zu sein, ob der Mord an einer Prostituierten überhaupt ein Verbrechen ist. Weil die Polizei nicht sonderlich engagiert ermittelt, gibt Rahimi sogar den Lockvogel, um eine Festnahme des Täters zu ermöglichen. Vor Gericht muss sie feststellen, dass dieser einen Großteil der Öffentlichkeit hinter sich hat und die Anklagebank gar als Bühne für seine frauenfeindlichen Parolen nutzt.Trotzdem wird er zum Tode verurteilt, aber Kirchenvertreter sorgen dafür, dass das Urteil nicht vollstreckt wird, was am Ende durch das Militär dann doch durchgesetzt wird.

Der iranisch-stämmige, in Dänemark lebenden Regisseur Ali Abbasi, der uns zuletzt mit seiner skurrilen schwedischen Grenzer-Komödie BORDER betörte, rollt hier einen tatsächlichen Fall des sogenannten Spinnenmörders aus seiner Heimat auf. Dabei gibt er den Blick frei auf ein politisches System, in dem es die Journalistin schon schwer hat, allein weil sie eine Frau ist. Das Porträt des Killers bleibt hingegen diffus. Es wird immer wieder behauptet, dass er aus religiösen Motiven mordet, besonders religiös ist er aber nicht, dafür zeigt er einige psychologischen Auffälligkeiten, die ihm auch vom gerichtlichen Gutachter attestiert werden. Trotzdem bleibt sein Handlungsantrieb im Dunkeln. Der Prozess, das Urteil und seine Umsetzung werden am Ende zu einer Machtprobe zwischen Staat und Kirche.

Boy from Heaven

Boy from Heaven

Um das Gleichgewicht zwischen Politik und Kirche geht es auch in BOY FROM HEAVEN (X-Verleih) von Tarik Saleh (DIE NILE HILTON AFFÄRE),  der für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Für Adam, Sohn eines einfachen Fischers, geht mit einem Stipendium für die renommierte al-Azhar-Universität in Kairo ein Traum in Erfüllung. Sie ist das Epizentrum der religiösen Macht Ägyptens, doch als der Direktor gleich zu Semesterbeginn vor den Augen seiner Studenten zusammenbricht und stirbt, beginnt ein Machtkampf um die zukünftige geistige Führung, in dessen Strudel auch Adam gerät. Von einem dubiosen Regierungsbeamten als Informant angeworben, gerät er er nicht nur zwischen die Fronten der religiösen und politischen Eliten des Landes, sondern auch in Lebensgefahr.

Wenn am Ende der Wille des Staatspräsidenten durchgesetzt ist, will man ihn loswerden. Immerhin darf er sich entscheiden zwischen Todesstrafe und lebenslanger Haft. Doch er ist nicht bereit, das ihm von Gott vorgesehene Schicksal zu akzeptieren und beginnt die einzelnen Parteien gegeneinander auszuspielen.

Es ist nicht immer ganz klar, ob Tarek Saleh einen politischen Thriller oder eine Innenansicht des religiösen Machtapparates machen wollte. Irgendwie ist ihm beides gelungen und das im faszinierenden Umfeld der weltweit größten religiösen Universität al-Azhar in Kairo, was dem Film Spannung und Tempo verleiht. Am Ende jedenfalls müssen kirchliche und weltliche Kräfte zu einem Kompromiss kommen und die Korruption in den eigen Reihen überwinden. Dass es dabei zu Kollateralschäden kommt, wird gerne als gottgewolltes Schicksal in Kauf genommen. 

Crimes of the future

Harte Kost: Lea Seydoux und Kristen Stewart in Crimes of the future

Aber es gab auch einige Filme im Wettbewerb, die hinter den Erwartungen zurückblieben. So eilte David Cronenbergs Body-Horror-Film CRIMES OF THE FUTURE (Weltkino) der Ruf voraus, er sei derart harte Kost, dass viele vorzeitig das Kino verlassen würden. Zwar ist sein neuer Film eine Art Rückkehr zu seinen Wurzeln und mit Léa Seydoux und Kristen Stewart attraktiv besetzt, doch Cronenberg verschenkt sein Thema, dass am ehesten an EXISTENZ erinnert, wo er den Protagonisten Körperöffnungen implantieren ließ, mit denen sie sich an Computerspiele anschließen konnten. Diesmal nutzt der Protagonist Saul (Viggo Mortensen) eine genetische Erfindung, mit der man sich beinahe beliebige Organe wachsen lassen kann, für eine Performance-Show, bei der er diese auf offener Bühne vor einem begeisterten Publikum gleich wieder herausoperieren lässt. Dass er dabei seine Gesundheit ruiniert, ist dabei eher zweitrangig, seine Show wird Kult, findet begeisterte Anhänger und viel Nachahmer und muss mit immer neuen Sensationen aufwarten. Das schafft natürlich viele Interpretationsansätze, die auf Schönheitschirurgie ode gewisse Fernsehformate abzielen könnte. Als sich Saul mit dem Gedanken trägt, an einem Schönheitswettbewerb für innere Organe teilzunehmen, kommt einem tatsächlich kurz der Gedanke, dass dies wohl der erste Topmodel-Contest wäre, bei dem es auf innere Werte ankommt. Tatsächlich hat Cronenberg aber mit Gesellschaftskritik und Satire wenig am Hut, sondern inszeniert lieber den Hype der Möglichkeit, sich etwas wachsen zu lassen und rückt lieber die jugendlichen Körper seiner Protagonistinnen ins beste Licht. 

Showing Up

Michelle Williams als Künstlerin in Showing Up

Auch Kelly Reichardt (WENDY & LUCY, MEEK’S CUTOFF, FIRST COW) enttäuschte uns. In SHOWING UP erzählt sie von einer Künstlerin (Michelle Williams), die kurz vor einer wichtigen Ausstellung steht und mit einigen Turbulenzen zu kämpfen hat. Sie wohnt in einer ländlichen Gegend in Portland, Oregon, und leidet unter ihrer nicht sehr rücksichtsvollen Familie, genauso wie unter der etwas schlichten Nachbarschaft und ihrer Vermieterin, die einfach den Warmwasser-Boiler nicht reparieren lassen will und ihr stattdessen eine Taube mit gebrochenem Flügel zu Pflege aufdrängt. Die soll dann wohl die Metapher sein, die uns durch den ganzen Film begleitet und signalisiert, dass sich unsere Protagonistin in diesem Umfeld nicht frei entfalten kann. Am Ende hat sie ihre Ausstellung dann doch erfolgreich hinter sich gebracht und die Kinder haben der Taube einfach den Verband abgenommen und sie fliegen lassen. Ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft der Künstlerin und hoffentlich auch für Kelly Reichardts nächsten Film.

Szene aus Nostalgia

Eine Liebeserklärung an Neapel: Nostalgia

Auch Maria Martone konnte die Erwartungen, die man an den einzigen italienischen Film im Wettbewerb hatte, nicht erfüllen. In NOSTALGIA spielt Pierfrancesco Favino (AUF ALLES, WAS UNS GLÜCKLICH MACHT) einen Mann namens Felice, der nach 40 Jahre in seine Heimatstadt Neapel zurückkehrt. Dort streift er durch den Stadtteil Sanità, wo er (wie auch der Regisseur) einst geboren wurde und erkundet die Nachbarschaft, die ihn seine Kindheit nacherleben lässt und ihn schließlich mit seinen inneren Dämonen konfrontiert. Er erinnert sich an einen mysteriösen Freund, wegen dem er einst die Stadt verlassen hat, und findet ihn tatsächlich wieder. Ihr Wiedersehen wird zum Finale eines Films, der oft zu langsam und zu  melancholisch, beinahe todessehnsüchtig erzählt wird. Demgegenüber steht das Porträt einer Stadt, welches zu einer leidenschaftliche Liebeserklärung wird. Neapel-Fans werden den Film lieben.  

Brother and Sister

Melvil Poupaud (rechts) in Brother and Sister

jEbenfalls als Enttäuschung entpuppte sich der neue Film von Arnaud Desplechin. Obwohl mit ausgezeichneten Schauspielern besetzt, gelingt es ihm in BROTHER AND SISTER nicht zu überzeugen. Marion Cotillard und Melvil Poupaud spielen das auf die 50 zugehende Geschwisterpaar Alice und Louis, das seit 20 Jahren hoffnungslos verfeindet ist. Sie ist ein gefeierter Theaterstar, er hat  sich mit seiner Frau auf eine einsame Berghütte zurückgezogen und lebt gut davon, diskriminierende Enthüllungsromane über seine Schwester zu schreiben. Da ihre Eltern jedoch gleich zu Beginn des Films einen dramatischen Unfall erleiden, treffen sie zwangsläufig im Krankenhaus in Lille aufeinander, wobei Alice beim Anblick ihres Bruders in Ohnmacht fällt. Ähnlich übertrieben beziehungsweise aufs Extreme gesteigert geht es weiter, von subtiler Schauspielkunst, wie wir es von den beiden Charakterdarstellern gewöhnt sind, ist kaum etwas zu spüren. So konzentrieren sich die Zuschauer im Laufe des Films auf die Frage, was denn eigentlich vorgefallen ist, um zu solch einer jahrzehntelangen Feindschaft zu führen, die auch die restlichen Familienmitglieder nicht kitten können. Doch der Regisseur lässt uns hier bis zum Schluss – bis auf wenige Andeutungen – im Dunkeln tappen. Ebenso nur angedeutet bleiben kleinere Nebenhandlungsstränge, wie die Geschichte einer glühenden Verehrerin Alices, deren Obdachlosigkeit sie nicht abhält, von einer erfolgreichen Karriere am Theater zu träumen. Ein insgesamt unbefriedigendes Werk, dem der rote Faden ebenso fehlt wie ein das Interesse wach haltender Spannungsbogen.

Forever Young

Enthusiastische Schauspielschüler in Forever Young

Der Schauspieler und Regisseur Louis Garrel ist ein Dauergast bei den Filmfestspielen in Cannes. Auch in diesem Jahr war er wieder dabei, neben der Hauptrolle in SCARLET in der Director’s Fortnight zweimal im Wettbewerb – einmal als Schauspieler, einmal in Personalunion als Schauspieler und Regisseur. Im Wettbewerbsbeitrag FOREVER YOUNG (LES AMANDIERS) spielt er das Alter Ego von Patrice Cheréau im Film seiner Ex-Freundin Valeria Bruno Tedeschi. Hierin verarbeitet sie ihre eigenen Erlebnisse in Cheréaus gemeinsam mit Pierre Romans geführter Schauspielschule am Théâtre des Amandiers in Nanterre, die sie einige Zeit besucht hat. So spielt der Film auch Ende der achtziger Jahre. Er verfolgt das Leben von vier jungen Leuten um die 20, die hier ihr Glück versuchen. Ein wenig erinnert der Film an Alan Parkers FAME, die französische Variante ist allerdings nicht so kitschig. Liebevoll widmet sie sich den unterschiedlichen Charakteren, ihren Erfahrungen mit dem Leben und der Liebe an einem entscheidenden Punkt ihres Lebens. Der jugendlicher Überschwang der jungen Leute ist einnehmend, Louis Garrel als ihr Lehrmeister gibt sich zuweilen ein wenig zu exzentrisch.

The Innocent

Louis Garrel mit Noémie Merlant in The Innocent

Dessen eigene neue Regiearbeit THE INNOCENT lief ebenfalls im Wettbewerb, allerdings außer Konkurrenz. Es ist bereits sein vierter Film als Regisseur, im letzten Jahr lief sein THE CRUSADE ebenfalls an der Croisette. Wie schon im Vorjahr beweist er darin, dass er ein Händchen für komische Momente und absurde Situationen hat. Er selbst spielt Abel, den Sohn der 60-jährigen Silvie, die sich bei einem Schauspiel-Workshop im Gefängnis unsterblich in den Insassen Michel verliebt. Der steht kurz vor seiner Entlassung nach einer fünfjährigen Strafe wegen bewaffnetem Raubüberfall. Der seiner Mutter liebevoll zugetane Abel ist alles andere als begeistert von der Beziehung, erst recht nicht, als sich Silvie fest entschlossen zeigt, Michel zu ehelichen. So spannt er einen Bekannten ein, um die Hochzeit zu hintertreiben, doch das geht gründlich schief. Bald sieht er sich gemeinsam mit seiner Freundin, die ihm seit langem versucht zu motivieren, mehr Risiken im Leben einzugehen, unfreiwillig in wilde Verfolgungsjagden verwickelt. Die gelungene Mischung zwischen Komödie, Romanze, Thriller und Familiendrama hätte durchaus auch für den Wettbewerb getaugt, ein Publikums-Pleaser, der auch im Arthaus-Bereich erfolgreich sein könnte.

Armageddon Time

Wieder eine wunderbare Charakterrolle für Anthony Hopkins in Armageddon Time

Eine kleine Entdeckung war auch ARMAGEDDON TIME (UPI) von James Gray (AD ASTRA), der autobiographische Züge trägt und sein bisher persönlichster Film ist. Er spielt im New York der 1980er Jahre, wo der jüdische Junge Paul Graff im reichen Queens eine Public School besucht , obwohl die Großeltern ihm eine Privatschule bezahlen würden. Er freundet sich mit einem schwarzen Mitschüler an und kann den täglichen Rassismus, der ihm von allen Seiten begegnet, kaum ertragen. Bei seinen Eltern kann er mit diesem Problem nicht landen, sein Vater ist eher der Typ Mitläufer, der froh ist, wenn das Leben Chancen für ihn bereithält, die er dann ohne zu fragen nutzen kann. Ganz anders sein Großvater Aaron (Anthony Hopkins), dessen Mutter als junge Frau miterleben musste, wie die Nazis ihre Eltern in der Ukraine umbrachten. Mit diesem Trauma floh sie nach Amerika, wo Aaron zur Welt kam und zu einem Mann von Format heranwuchs. Ein wahres Vorbild für den kleinen Paul, der  eine enge Beziehung zu ihm pflegt. Nur er hat immer ein Ohr für all seine Probleme, unterstützt ihn bedingungslos und nimmt sogar seine künstlerische Ader ernst.

James Gray taucht tief ein in diese Kindheitsgeschichte und stellt sie außerdem in ihr historisches Umfeld. Galt die Urgroßmutter noch als ‘displaced person’, so war der Großvater ein angesehenen Mitglied der jüdischen Gemeinde New Yorks. Doch 1981 ändert sich das politische Klima im Land. Auf Jimmy Carter folgt Ronald Reagan und läutet eine Wendezeit ein, die auch Paul zu spüren bekommt, als er wegen Kiffens auf der Toilette der Schule verwiesen wird und doch noch auf einer Privatschule landet. Nicht auf irgendeiner Privatschule, sondern auf der Kew-Forest Elite School, wo auch Donald Trump zur Schule geht. 

Es sind diese Kleinigkeiten, die aus ARMAGEDDON TIME mehr machen als eine einfühlsame Coming of Age-Story. Es ist auch ein erhellendes gesellschaftliches Porträt eines Amerikas vor einer politischen Wende, mit der wir heute noch zu tun haben. Elitarismus , Vorurteile, verdeckter Rassismus, Korruption und Klassendenken sind auf dem Vormarsch. Vielleicht ist dieser politische Aspekt Gray wichtiger als die Adoleszenzgeschichte und vielleicht hat er den Jungen deswegen nicht allzu sympathisch gezeichnet. Er erscheint etwas langsam, nicht besonders clever und bleibt so mehr Beobachter als Akteur einer Geschichte, die mit zwei Stunden anspruchsvollster Unterhaltung aufwartet.

Elvis

Begehrt in Cannes: Baz Luhrmanns Elvis-Biopic

Außer Konkurrenz gab es einige Musikfilme zu sehen. Allen voran natürlich ELVIS (Warner), der heiß erwartet und frenetisch gefeiert wurde. Das fast dreistündige Biopic wird zu einem großen Teil aus der Perspektive seines Managers Colonel Tom Parker erzählt, der meint, dass es ohne ihn Elvis niemals gegeben hätte und diese Erkenntnis zum Anlass nimmt, ihn ein Leben lang auszunutzen. Gespielt wird der charismatische Geschäftsmann von Tom Hanks, was in Cannes nicht so gut ankam, zu viele sympathische Rollen hat man von ihm im Kopf, als dass man ihm jetzt ein aufgedunsenes Ekelpaket, das meist im Dunkeln stehend, sein morbides Spiel spielt, abnehmen kann oder will. Ganz anders dagegen Austin Butler, der den Hüftschwung echt drauf hat, mächtig Drive in den Film bringt und einige Episoden in Elvis’ Leben verständlich werden lässt. Denn auf der Sonnenseite stand dieser nie, er wuchs auf in einer Schwarzensiedlung, weil sein Vater mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Gospel und Rhythm & Blues prägen seine musikalische Sozialisation und bringen ihn bald schon aufs Radar des FBI. Als auch noch sein Hüftschwung reihenweise Frauen in einem prüden Amerika in Ekstase geraten ließ, war es den Behörden zuviel. Entweder Knast oder Wehrdienst in Deutschland. Immerhin lernte er hier seine Frau Priscilla kennen, die ihm fortan ein wichtiger Begleiter war, doch aus den Fesseln seines Managers konnte auch sie ihn nicht befreien.

Vielleicht legt der Film eine zu große Priorität auf seine Zeit in Vegas, aber wer will das Baz Luhrmann verdenken, der sich hier zuhause fühlt und ein großes Feuerwerk abbrennt. Mag sein, dass der Anfang interessanter ist, der Rest ist Showbusiness mit einem Tom Hanks, der den Film immer dann wieder runterholt, wenn er droht, komplett abzuheben.

 

Moonage Daydream

David Bowie in der neuen Doku Moonage Daydream

Im Schatten dieses Mega-Events lief MOONAGE DAYDREAM (UPI) von Brett Morgen, der zuletzt mit COBAIN: MONTAGE OF HECK sein Händchen für Musik-Dokus bewiesen hat. Er outete sich als absoluter Bowie-Fan, der sich schon mit elf Jahren fragte, warum er anders sei als die anderen und bei Bowie die Antwort fand, dass es völlig okay sei, man selbst zu sein und das seine Andersartigkeit auch seine Stärke sei. 

David Bowie hat rund fünf Millionen Dokumente hinterlassen. Morgen erhielt von der Erbengemeinschaft die Zugangs- und Verwertungsrechte inklusive der Master-Aufnahmen von 48 Songs, was er ausschweifend genutzt hat. Statt Talking Heads lässt er Bowie für sich selbst sprechen. Seine vor allem visuell beeindruckende Montage aus bisher nie gesehenen Bildern, Animationen und Videos ist ein wilder Ritt durch Bowies Leben und spürt den Einflüssen nach, die ihn als Künstler geprägt haben und der viele andere Künstler beeinflusst hat. Dabei geht er nicht chronologisch vor, sondern springt in der Zeit vor und zurück. Es gibt Ausschnitte aus Filmen von Friedrich Wilhelm Murnau, Nagisa Oshima, Stanley Kubrick, Nicolas Roeg und Buster Keaton. Ebenso sprunghaft wie seine Arbeitsweise gab sich der Regisseur auch in Cannes,  als er der zweiten Aufführung im Imax-Kino persönlich beiwohnte und jede halbe Stunde aus dem Kino hüpfte und wieder zurückkehrte. „Es wird laut“, verkündete er vor der Vorstellung – und tatsächlich ließ auch der satte Sound nichts zu wünschen übrig.

Jerry Lee Lewis: Trouble in Mind

Auf Solopfaden: Ethan Coen stellt Jerry Lee Lewis: Trouble in Mind vor

Vollständigkeitshalber sei noch die Dokumentation JERRY LEE LEWIS: TROUBLE IN MIND von Ethan Coen erwähnt, der, nachdem sich sein Bruder Joel mit seiner MACBETH-Adaption selbstständig gemacht hat, nun auch einen eigenen Film vorlegte. Bei dem Biopic handelt es sich nicht etwa um den gleichnamigen Schauspieler, sondern um den schillernden wie umstrittenen Country Sänger, der ganz Amerika spaltete, als er ein 13-jähriges Mädchen heiratete. Leider ist der Film eine Collage aus minderwertigen Fernsehaufnahmen, die fürs Kino kaum geeignet erscheinen und dennoch Coens Faible für Musik erkennen lässt, wie wir es aus INSIDE LLEWYN DAVIS kennen.

Masquerade

Pierre Niney in der Gaunerkomödie Masquerade

Schon Somerset Maugham wusste, dass die französische Riviera “A sunny place for shady people” ist, und auch der aufstrebenden französische Regisseurs Nicolas Bedos (LA BELLE ÉPOQUE – DIE SCHÖNSTE ZEIT UNSERES LEBENS) hat sich diesem Sujet in MASQUERADE (Koch Films) angenommen und dafür einen großen Cast zusammengestellt: In den Hauptrollen seiner Gaunerkomödie sind Pierre Niney (FRANTZ), Marine Vacth (JUNG UND SCHÖN), François Cluzet (ZIEMLICH BESTE FREUNDE) und die legendäre Isabelle Adjani zu sehen. 

Auf einer Party verliebt sich der attraktive Adrien Hals über Kopf in die bildhübsche Margot, die sich in Nizza unter den Reichen und Schönen mit kleineren Betrügereien und amourösen Manipulationen ein schönes Leben finanziert. Doch gemeinsam schmieden die beiden einen größeren Plan: Sie wollen einen steinreichen Geschäftsmann und dessen luxus-verwöhnte Frau, ein ehemaliges Film-Sternchen, um ihr Vermögen bringen.

Bedos inszeniert den oft verfilmten Stoff im Stile einer französischen Boulevardkomödie und taucht tief ein in die Welt der Reichen und Schönen. Ein wenig zu tief vielleicht, denn er schwelgt geradezu in seiner Ausstattung: Das Blau der Cote Azur ist immer ein wenig zu blau, die Yachten zu luxuriös und als Hotel kommt auch nur das Negresco in Frage. Seine Charaktere scheinen nicht von dieser Welt und ihre Problemchen schon gar nicht, und so spielt jeder sein Spiel hinter seiner ganz eigenen Maske. Das führt bald zu einem heillosen Durcheinander an Verwicklungen, Halbwahrheiten und Kompromittierungen, dabei weiß das Gaunerpärchen nicht einmal, ob sie sich auf ihre eigene Beziehung verlassen kann. Das alles ist durchaus amüsant und wirkt durch seine illustre Besetzung, doch Bedos findet nicht das richtige Tempo, zieht alles in die Länge, ohne seinen Charakteren näher zu kommen und die Pointen richtig zu setzen. 

Three Thousand Years of Longing

Tilda Swinton diskutiert mit einem Flaschengeist in Three Thousand Years of Longing

Absolut fantastisch wird es dann bei George Millers THREE THOUSAND YEARS OF LONGING (Leonine), der eine uralte Dschinn-Geschichte aus 1001er Nacht erzählt. Neu ist allerdings die Finder- und Befreierin des jahrtausende alten Flaschengeistes: Tilda Swinton spielt hier Dr. Alithea Binnie, die zufrieden umgeben von ihrer Bücher- und Mythenwelt ein einsames Dasein führt. Eine Konferenz führt sie nach Istanbul, wo sich bereits ungewöhnliche Dinge anzubahnen scheinen, als sie auf dem Rückweg ins Hotel auf einem Bazar eine alte Glasflasche kauft, aus der später ein Dschinn (Idris Elba) entweicht. 

Filmkunstfreunde ahnen es vielleicht bereits, denn der Dschinn ist mit seinem “Du hast drei Wünsche frei” an die Falsche geraten. Alithea lehnt strikt ab, denn die Nummer ist in der Literaturgeschichte immer schief gegangen. Alle Überredungskunst prallt an ihr ab, vielmehr bringt sie den Dschinn dazu, aus seinem Leben zu erzählen, eigentlich traurige Geschichten aus seiner 3.000-jährigen Zeit mit dem Wunsch nach Freiheit. Ihr Gespräch wird immer intellektueller und kreist um die Kultur des Geschichtenerzählens seit Beginn der Menschheit bis hin zu Hollywood. Das Kammerspiel auf zumindest für den Dschinn engstem Raum ist ein rhetorisches Vergnügen, bei dem der Geist erst die Zuschauer und dann auch Alithea auf seine Seite ziehen kann. Berührt von seinen Erlebnissen spricht Alithea schließlich einen Wunsch aus, der ihr beider Leben für immer verändern wird…

Corsage

Preiswürdig: Vicky Kriep in Corsage

In der Nebenreihe ‘Un Certain Regard’ war der einzige deutschsprachige Film CORSAGE (Alamode) der Österreicherin Marie Kreutzer (DER BODEN UNTER DEN FÜSSEN, WAS HAT UNS BLOSS SO RUINIERT?) zu sehen. Vicky Krieps spielt hier die Kaiserin Elisabeth von Österreich jenseits aller Sissi-Romantik. Sie feiert gleich zu Beginn ihren 40. Geburtstag – ein Alter, in dem man zu jener Zeit definitiv als alte Frau galt. Ihr Status als Schönheitsidol ist kaum noch zu halten, auch wenn sie sich strenge Diäten auferlegt und die titelgebende Corsage immer enger schnürt. Das nagt an ihrem Selbstbewusstsein, denn außer Repräsentation bleibt ihr wenig zu tun am Hofe, wo das Protokoll überaus streng ist. Ihre Kinder weisen sie des öfteren darauf hin, wenn sie wieder einmal über die Stränge geschlagen ist. Auch ihr Gatte Franz Josef ist keine Hilfe und weiß mit ihren politischen Ansichten wenig anzufangen. So bleibt ihr einziger Ausweg, auf Reisen zu gehen, um ihrer Rast- und Hilflosigkeit zu entkommen. 

Marie Kreutzer entwirft das Bild einer Frau, deren Leben wie in einem Korsett eingeschnürt ist und die sich Stück für Stück daraus zu befreien versucht. Dabei schenkt sie ihr einige Attitüden, die es so damals wohl noch nicht gegeben hat. Sie darf rauchen, bekommt von ihrem Leibarzt Heroin verschrieben und zeigt dem Leben am Hofe öfter mal den Mittelfinger. Sie schneidet sich die Haare ab – zerstört so das Lebenswerk ihrer Hofdame – und gibt sich allerlei Selbstmord-Fantasien hin, was durch einen ebenso aus der zu porträtierenden Zeit gefallenen Soundtrack mit Liedern von Marianne Faithfull (As Tears Go By) oder Kris Kristofferson (Help me make it through the night) kommentiert wird. Vicky Krieps erhielt für Ihre sehenswerte Performance den Preis für die Beste Schauspielerin in dieser Sektion.

Plan 75

Bezahlte staatliche Sterbehilfe ist das Thema in Plan 75

Eine Besondere Erwähnung erhielt die japanische Regisseurin Chie Hayakawa für PLAN 75, einer Dystopie zum Thema Sterbehilfe. Wie auch unsere Gesellschaft leidet Japan an einer wachsenden Überalterung. Als sich in der nahen Zukunft Unruhen breit machen und Jugendliche beginnen, Ältere selbst aus dem Weg zu räumen, legt die Regierung einen kühnen Plan auf. Um die Gewalt einzudämmen startet sie ein Euthanasie-Programm, das es Personen ab 75 ermöglicht, freiwillig und gegen eine Geldsumme zur freien Verwendung aus dem Leben zu scheiden. Der Film folgt drei Personen, wie sie mit diesem Angebot umgehen. 

Da ist zum Beispiel die 78-jährige Michi, die auch in ihrem hohen Alter noch als Reinigungskraft in einem Hotel arbeitet. Doch das Arbeiten fällt ihr immer schwerer, abends sitzt sie allein in ihrem Apartment, Freunde und Verwandte hat sie nicht. Zwar will sie noch nicht sterben, doch als ihr der Job gekündigt,  das Geld immer knapper wird und sie ihre Wohnung verliert, entschließt sie sich, an dem Programm teilzunehmen. Der Job des jungen Hiromu ist es, für ‘Plan 75’ zu werben und die Teilnehmenden zu registrieren. Als sein Onkel sich hierfür eintragen lässt, und sein Job dadurch eine persönliche Dimension erhält, beginnt er, seine Tätigkeit in einem anderen Licht zu sehen. Die Philippina Maria hat dagegen die Aufgabe übernommen, die Freiwilligen bis zu ihrem Tode telefonisch und psychologisch zu betreuen. 

Ein gelungenes Debüt, das in langen, ruhigen Einstellungen und dezenten Grau-Blau-Tönen einen fast dokumentarischen Erzählstil pflegt und den Zuschauer mit seiner eigenen Zukunft konfrontiert. Mit dem Problem einer alternden Gesellschaft ist Japan jedenfalls nicht alleine und so beeindruckt vor allem Chieko Baishos einfühlsames Spiel als vereinsamte Seniorin und lässt uns mitfühlen.

Filmstill War Pony

Debüt von Elvis-Enkelin Riley Keough: War Pony, gemeinsam realisiert mit Gina Gammell

Bleibt noch die ‘Camera d’Or’ zu erwähnen, mit der der beste Erstlingsfilm im gesamten offiziellen Programm ausgezeichnet wird. Sie ging in diesem Jahr an WAR PONY, der in der Reihe ‘Un Certain Regard’ Premiere hatte. Es ist das von Gina Gammell und Riley Keough, derem Großvater Elvis Presley gerade Baz Luhrmann ein Denkmal gesetzt hat.

Keough hat sich bisher als Schauspielerin einen Namen gemacht und ist uns noch von Andrea Arnolds AMERICAN HONEY in guter Erinnerung. Bei den Dreharbeiten zu diesem Film lernte sie in South Dakota Bewohner des Pine Ridge Reservats kennen, mit denen sie auch nach den Dreharbeiten freundschaftlich verbunden blieb. Daraus entwickelte sich die Idee einer künstlerischen Zusammenarbeit, die sich nun in ihrem ersten Regie-Projekt niederschlug. Im Mittelpunkt stehen der 23-jährige Bill und der 12-jährige Matho. Beide  gehören zum Volk der Oglala Lakota. Die Sioux-Indianer leben im Pine Ridge Reservat, dem letzten Stück Land, das sie noch behalten durften. Die Lebenserwartung dort ist schlecht, mehr als die Hälfte der Bewohner leben unterhalb der Armutsgrenze. Dennoch will Bill, Vater zweier Kinder von unterschiedlichen Müttern, etwas aus sich machen. Als er einen Pudel findet, hat er die Idee, eine Pudelzucht aufzuziehen und macht sich ans Werk. Der kleine Matho hingegen muss sich mit seinem gewalttätigen Vater herumschlagen. Als er bei einem Verwandten unterkommt, der mit Meth dealt, ergreift er die Gelegenheit, ihm nachzueifern. Er verkauft die Drogen an seiner Schule, muss aber lernen, dass er noch nicht auf die harte Realität der Erwachsenenwelt vorbereitet ist. 

WAR PONY besticht mit seiner authentischen Erzählweise, die zwar Höhen und Tiefen vermissen lässt, aber viel Sympathie für ihre Figuren aufbringt.  Das gilt natürlich auch für den tierischen Star des Film, die Pudeldame Britney, die die Auszeichnung ‘Palm Dog’ gewann. Zuweilen wird der realistische Erzählduktus durch mythologisch gefärbte Rituale und Bildwelten der indigenen Bevölkerung unterbrochen, doch gewinnen sie in der Bildsprache nie die Oberhand. Ein vielversprechendes Debüt, das neugierig auf mehr macht.

Father and Soldier

Szene aus Father and Soldier

Eröffnet wurde die ‘Un Certain Regard’ mit FATHER & SOLDIER (Weltkino) von Mathieu Vadepied, in dem Omar Sy einen senegalesischen Farmer spielt, dessen Sohn von der Kolonialmacht Frankreich  entführt und als Kanonenfutter für den 1. Weltkrieg rekrutiert wurde. Entsetzt, dass dieses Schicksal auch seinen Sohn ereilte, meldet sich der besorgte Vater freiwillig, 

um seinen Sohn zu begleiten und zu beschützen. Aber die Konstellation verändert sich, als der Sohn einen gefallenen weißen Korporal ersetzen soll und nunmehr Vorgesetzter seines Vaters ist. Viel nützt ihm die Beförderung nicht, sie schützt ihn nicht vor Alltagsrassismus und auch nicht vor den Kugeln der Feinde, von denen er sich am Ende eine einfängt. 

Es ist eine Brechtsche Moritat, die nicht nur einen zornigen Blick zurück auf die Kolonialzeit Frankreichs im Senegal wirft, sondern auch an die heutige Rekrutierungs-Praxis Russlands im Ukraine-Krieg erinnert.

Burning Days

Burning Days

Aus der Türkei war Emin Alpers BURNING DAYS zu sehen. Er spielt im Städtchen Yaniklar in der Südtürkei. Dorthin hat es den jungen Staatsanwalt Emre aus Ankara verschlagen. Sein Ziel: in dem von Korruption und Vetternwirtschaft gebeutelten Ort für Ordnung zu sorgen. Vom Grundsatz scheint er dafür genau richtig, verkörpert er doch von seiner Erscheinung und Haltung her die moderne Türkei. Doch bald stellt er fest, dass es nicht leicht ist, gegen den übermächtigen Bürgermeister anzukommen. Mitten im Wahlkampf steckend, verspricht dieser populistisch der von Dürre gebeutelten Bevölkerung mehr Brunnen zu bauen und die Wasserknappheit zu beseitigen. Doch die bisher erfolgten Bohrungen haben bereits riesige Sinklöcher entstehen lassen, die die Landschaft zerklüften und die Landwirtschaft erschweren. Emre selbst wird in einen Vergewaltigungsfall hineingezogen, den er aufklären soll, aber möglicherweise selbst involviert ist. Als er sich eng mit dem gutaussehenden Inhaber der örtlichen Zeitung verbündet, fragen sich nicht nur die Bewohner von Yaniklar, sondern auch die Zuschauer, ob die beiden liiert sind. Bald sehen sie sich mit der Homophobie ihrer Umgebung konfrontiert. Visuell ansprechend und verschachtelt in Rückblenden erzählt, ist BURNING DAYS ein spannender Thriller mit politischer Dimension, der sich manchmal allerdings ein wenig in seinen komplexen Erzählsträngen verheddert.

Mehr denn je

Überzeugende schauspielerische Leistungen in Mehr denn je

Einziger deutscher Beitrag in dieser Reihe war Emily Atefs MEHR DENN JE (Pandora), ein eindringliches Porträt einer jungen Frau, Helene, die an Lungenfibrose erkrankt und vor der Entscheidung steht, sich mit der tödlich verlaufenden Krankheit abzufinden oder auf eine Lungentransplantation zu hoffen, die ihr Leben auch nur um drei Jahre verlängert. Das größte Problem bei dieser Entscheidung ist ihr Freund, der sie begleiten will und natürlich jede Möglichkeit ergreifen will, die ihr Leben verlängern könnte.

Helene ist da schon viel weiter, hat im Internet einen Freund gefunden, mit dem sie sich austauschen kann und der ihre Gefühlslage nachvollziehen kann, weil er wie sie selbst eine lebensbedrohliche Krankheit durchlebt habt. Also besucht sie ihn alleine in Norwegen, findet eine gespenstische Ruhe in seinem Haus und immerwährendes Tageslicht. Als ihr Freund herausbekommt, wo sie sich aufhält, reist er ihr nach und in einem finalen Gespräch gelingt es ihm, von ihr Abschied zu nehmen. Emotional bewegendes Kammer- und Fernsehspiel, das durch die Leistung der Schauspieler überzeugt.

Szene aus der Romanverfilmung Scarlet

Szene aus der Romanverfilmung Scarlet

Zum letzten Mal verantwortete Paolo Moretti das Programm der ‘Quinzaine des Réalisateurs’, das mit einem insgesamt recht ansprechenden Programm aufwartete. Eröffnungsfilm war SCARLET (Piffl) von  Pietro Marcello (MARTIN EDEN), eine freie Adaption des Romans „Das Purpursegel“ von Aleksandr Grin. Als Raphaël aus dem 1. Weltkrieg zurückkehrt, muss er erfahren, dass seine Frau gestorben ist und ihm das Baby Juliette hinterlassen hat. Die Schwiegermutter bietet ihm Kost und Logis und Hilfe bei der Großziehung des Mädchens an. So besorgt er sich einen Job in der Holzverarbeitung, wofür er zwei goldene Hände hat. Doch bald kommt er hinter ein Geheimnis, das mit dem Tod seiner Frau zu tun hat und nimmt Rache. Seitdem wird die Familie von der Dorfgemeinschaft geächtet. Raphaël verliert seinen Job, die Schwiegermutter wird als Hexe bezeichnet und die heranwachsende Juliette für verrückt erklärt. Nur eine alte Frau hält zu Juliette und weissagt ihr, dass sie irgendwann ein Schiff mit purpurnen Segeln abholen und davontragen wird.

Tatsächlich wächst mit Juliette ein intelligentes Mädchen heran mit einer Vorliebe für Musik und Gesang. Der Vater hat für sie das Klavier wieder instandgesetzt und verdient seinen Unterhalt mit der Herstellung von Holzspielzeug. Seine fortwährende Liebe zu seiner toten Frau manifestiert sich in einem lebensgroßen Holzportrait, dass er von ihr schnitzt. Ansonsten erlaubt er seiner Tochter größtmögliche Freiheiten. Als die Lehrerin ihr rät, in der Stadt zu studieren, überlässt er ihr die Wahl. Sie entscheidet sich für ein Leben mit ihrem Vater, und als der am Ende des Films stirbt, erscheint das vorhergesagte Schiff mit purpurnen Segeln und trägt Juliette in die Stadt, wo sie als Geigenbauerin arbeitet.

Pietro Marcello inszeniert diesen Film als altmodische Fabel im Normalformat in Sepia-Tönen mit historischen Aufnahmen aus den 20er Jahren. Dabei hat er die universelle Liebesgeschichte nach Nordfrankreich verlegt und die Geschichte leicht verändert, um sie moderner zu machen. Erstmals dreht er er mit Profi-Schauspielern, die improvisieren durften, aber in der Zeit bleiben mussten. Der Film wirkt streckenweise märchenhaft und sorgt mit seinem Musical Touch für ein angenehmes Kinoerlebnis, dass ein älteres Publikum finden sollte. 

An einem schönen Morgen

Léa Seydoux mit ihrem Filmvater in An einem schönen Morgen

Mia Hansen-Løve widmet sich in ihrem neuen Werk AN EINEM SCHÖNEN MORGEN (Weltkino) dem Thema Leben im Alter und teilt mit PLAN 75 die melancholische Grundstimmung und den unaufgeregten Inszenierungsstil. Nach BERGMAN ISLAND, der 2021 im Wettbewerb lief, wurde ihr neuer Film nun in die ‘Quinzaine des Réalisateurs’ eingeladen. Lea Seydoux spielt darin die noch junge Witwe Sandra, die sich neben ihrem Job als Dolmetscherin um ihre junge Tochter und ihren alternden Vater, einen ehemaligen Philosophie-Professor  kümmern muss. Dieser wird immer vergesslicher, kann bald nicht mehr alleine in seiner mit Büchern überfrachteten Wohnung leben, und so macht sich Sandra in Paris auf die Suche nach einer geeigneten Einrichtung für ihn. Doch das ist nicht leicht, denn staatliche Heime sind nicht besonders schön, die privaten zu teuer. Sandras Stimmung wird aufgeheitert durch eine aufkeimende Romanze mit  dem verheirateten Kosmo-Chemiker Clement (Melvil Poupaud). 

Lea Seydoux beweist hier, dass sie auch in weniger glamourösen Rollen überzeugen kann. Mit Kurzhaarschnitt und Jeans verkörpert sie glaubhaft eine pragmatische junge Frau, die nach dem Tod ihres Mannes entscheiden muss, wohin sich ihr Leben entwickeln soll und mit ganz normalen Alltagsproblemen kämpft. Ein kleiner, aber lebensnaher Film über Vergänglichkeit und neuen Aufbruch, der als bester Europäischer Film des Labels Europa Cinemas ausgezeichnet wurde.

Paris Memories

Traumabewältigung nach einem Anschlag – Virginie Elfira und Benoit Magimel in Paris Memories

Wie können Überlebende von Terroranschlägen wie der Angriff auf die Pariser Konzert-Location Bataclan das Erlebte verarbeiten und ins Leben zurückfinden? Dieses Thema hat bereits in verschiedenen Filmen seinen Niederschlag gefunden, zuletzt in dem auf der Berlinale gezeigten EIN JAHR,  EINE NACHT. Auch in PARIS MEMORIES (REVOIR PARIS) ist ein ähnlicher Anschlag der Ausgangspunkt der Handlung. Mia sucht nach einem plötzlichen Platzregen in einer bekannten Pariser Brasserie Zuflucht und findet sich kurz danach in einer Schießerei wieder. Terroristen zielen wahllos in die Menge, Mia kann sich in die Küche flüchten und bleibt wie durch ein Wunder unverletzt. Doch noch Monate nach dem Ereignis kann sie sich nur bruchstückhaft an das Geschehen erinnern und ist nach wie traumatisiert und arbeitsunfähig. Um wieder im Leben Fuß zu fassen, sucht sie Kontakt zu einer Begegnungsgruppe von Überlebenden des Anschlags. Besonders mit Thomas, der an diesem Abend mit einem großen Freundeskreis dort feierte, knüpft sie eine enge Verbindung. 

Regisseurin Alice Winocours feinfühliger, stiller Film überzeugt wohl auch deshalb, weil sie eine persönliche Verbindung zum Bataclan-Anschlag hat. Ihr Bruder gehört zu den Überlebenden des Terrorakts und Winocours war mit ihm während des Ereignisses via Text Messages verbunden. So konnte sie beim Script auf die gemeinsamen Erfahrungen zurückgreifen. Die Hauptrolle spielt souverän Virginie Efira, die Moderatorin der Eröffnungs- und Abschluss-Gala, die inzwischen in Frankreich zu Recht zum Star avanciert ist. Gemeinsam mit Benoît Magimel als Thomas liefert sie eine zu Herzen gehende Performance, die wir gerne in einem unserer Kinos wiedersehen würden.

Die irische Schauspielerin und Sängerin Jessie Buckley in Men

Die irische Schauspielerin und Sängerin Jessie Buckley in Men

Zuletzt gab es noch eine handfeste Überraschung zu entdecken. Nach seinem Welterfolg als Schriftsteller mit „The Beach“ avancierte Alex Garland mit Filmen wie EX MACHINA und ANNIHILATION zum gefeierten Filmemacher. Mit MEN (Koch Films) beweist er nun sein feines Gespür für düstere und surreale Wendungen in einer Art feministischer Horror-Satire, in dem die irische Schauspielerin und Sängerin Jessie Buckley (Oscar®-Nominierung als Beste Nebendarstellerin für THE LOST DAUGHTER) eine atemberaubende Performance als hinlegt. Um in Ruhe ein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten, fährt Harper allein in ein idyllisches Landhaus auf dem Lande. Doch statt der ersehnten Heilung alter Wunden erwartet sie hier in der englischen Landidylle eine sonderbare Herrenrunde, die sie auf subtil-grausame Art mit ihren ganz privaten Alpträumen konfrontiert. Das beginnt schon mit dem Landlord, der ihr das Landhaus zeigt. Er ist ausgesprochen freundlich, aber auch irgendwie beängstigend. Ihrer Freundin beschreibt sie ihn noch als ‘pretty rural’ am Telefon, doch am Abend wird der Spuk schon ernster, als sich ein nackter Mann im Vorgarten herumtreibt und Anstalten macht, ins Haus einzudringen. Sie ruft telefonisch Hilfe und tatsächlich kann die Polizei den Nudisten festnehmen, doch sie hält ihn für verwirrt und harmlos. Auf einem Spaziergang am nächsten Tag trifft sie im Garten einer alten Kirche auf einen jungen Mann mit Marilyn Monroe Maske auf. Er will mit ihr verstecken spielen, und als sie ablehnt, beschimpft er sie mit so derben Worten, dass der Priester eingreifen muss. Er erkennt Harpers seelisch angeschlagenen Zustand und fordert sie zum Gespräch auf. Als dieses dann aber allzu patriarchalische Züge nimmt, bricht sie es ab und lässt den Priester sitzen. Sie landet im örtlichen Pub und trifft auf den Polizisten, der ihr erzählt, dass sie den Nudisten wieder freigelassen haben und Harper schwant schon auf dem Nachhauseweg, dass sie diese Nacht keinen Schlaf finden wird. Tatsächlich treffen sich alle Männer des Films in dieser Nacht bei ihr zum Stelldichein und konfrontieren sie mit ihrem traumatischen Verhältnis zu Männern. 

Alexander Garland inszeniert diese enorm spannende Geschichte mit vielen genialen Bildeinfällen und hohem Gruselfaktor, löst aber auch Momente höchster Spannung geschickt in einem Gag wieder auf. So weiß der Zuschauer lange Zeit nicht, wohin die Reise geht, hat aber viel Spaß dabei, dem Geschehen zu folgen, bis Garland zu einem Finish ausholt, dass eine feministische Komponente dieser fieberhaften Horror-Satire freilegt, die seinesgleichen sucht. Dank seines Humors können aber auch Männer darüber lachen.

Insgesamt kann man festhalten, dass Cannes ein ausgesprochen vielfältiges Programm offerierte, mit bekannten Namen und interessanten Themen. Allerdings fehlte der absolute Hit. Insbesondere Filme, von denen man im Vorfeld viel erwartet hatte, erwiesen sich meist als weniger gelungen. Ein Film, der das Arthaus aus seiner derzeitigen Krise holen könnte, war jedenfalls nicht dabei.