52. International Film Festival Rotterdam 2023

Welcome to IFFR 2023

Festivalzentrum De Doelen in Rotterdam

Ein Festivalbericht von Bea Hage und Eric Horst

Endlich war es wieder so weit! Nach zwei Online-Festivaljahren öffnete das 52. Internationale Filmfestival Rotterdam nun wieder seine Pforten in Präsenz.
Den diesjährigen Publikumspreis erhielt DALVA, das äußerst einfühlsame und präzise inszenierte Spielfilmdebüt der belgischen Regisseurin Emmanuelle Nicot. Im Mittelpunkt steht das zwölfjährige Mädchen Dalva, das sich mit aller Gewalt dagegen wehrt, von Jacques, einem älteren Mann, getrennt zu werden. Wer dieser Mann ist, erfährt man zunächst nicht. Dalva wird in ein Jugendheim gebracht und muss sich mit ihrer neuen Mitbewohnerin Sama und dem Sozialarbeiter Jayden auseinandersetzen. Sie versteht zunächst nicht, warum sie nicht einfach zu Jacques zurückkehren kann. Allmählich wird klar, dass es um Inzest und Kindesentführung geht. Langsam und mit viel Geduld wird für Dalva die eigene Kindlichkeit (wieder) zugänglich. Dabei bleibt die Erzählung sehr nah an ihren Empfindungen und vermeidet voyeuristische Rückblenden. Die Jungdarstellerin Zelda Samson ist dabei kongenial in ihrer Rolle als Dalva.
In der Sektion „Tiger Competition“, dem Wettbewerb für Nachwuchstalente, war LETZTER ABEND, der deutsche Beitrag von Lukas Nathrath, ein besonderes Highlight. Lisa und Clemens, ein Pärchen aus Hannover, wollen einen letzten Abend mit ihren Freunden verbringen, bevor es am nächsten Tag nach Berlin gehen soll. Natürlich geht vieles schief, Fremde laden sich ein, der Rausch tut sein Übriges. Ein erfrischend inszeniertes Kammerspiel, das vorab seinem zehnköpfigen Ensemble viel Freiraum für eigene Ideen ließ, wie sich in dem pointierten Dialogspiel zeigt. Gedreht wurde dieses Erstlingswerk nur mit einem Mini-Budget in sieben Tagen im Sommer 2020.

Junji Sakamoto stellt seinen Film in Rotterdam vor

Junji Sakamoto stellt seinen Film in Rotterdam vor

Der japanische Historienfilm OKIKU AND THE WORLD von Junji Sakamoto befasst sich auf humorvoll-respektlose Weise mit dem Ende der Edo-Zeit und der speziellen Frage, wie man wohl damals menschliche Exkremente recycelte: nämlich als Dünger für Ackerflächen. Dabei entspinnt sich neben Plumpsklo-Albernheiten und intelligentem Gegenwartsbezug eine poetisch anrührende Liebesgeschichte in schwarz-weißer Ästhetik mit einzelnen wohldosierten Farbmomenten. Mit PETT KATA SHAW, einer spannenden Horror-Anthologie aus Bangladesch, die ursprünglich als vierteilige Miniserie produziert wurde, zeigt der Autodidakt Nuhash Humayun, dass es kaum finanzielle Mittel braucht, um intelligenten Gruselhorror zu erzählen. Bengalische Mythen, die überall im südasiatischen Raum bekannt sind, werden hierbei aufgegriffen und modern interpretiert. Sein Kurzfilm MOSHIRI (2022) erhielt bereits international viel Anerkennung.

Wicked Games: Rimini Sparta - von links: Kameramann Wolfgang Thaler, Schauspieler Michel Thomas und Filmemacher Ulrich Seidl

Wicked Games: Rimini Sparta – von links: Kameramann Wolfgang Thaler, Schauspieler Michael Thomas und Filmemacher Ulrich Seidl

Der österreichische Ausnahmefilmemacher Ulrich Seidl präsentierte als Welturaufführung WICKED GAMES RIMINI SPARTA. Die Geschichte zweier unterschiedlicher Brüder, die irgendwie am Leben kaputt gehen und an ihrem Verhältnis zum dementen Vater im Heim leiden, kommt hierzulande in zwei Filmen aufgeteilt ins Kino. RIMINI ist schon im letzten Jahr gestartet, SPARTA ist für den kommenden Mai angekündigt. Die 200 Minuten lange Gesamtversion entwickelt epische Qualitäten und gerät zum moralischen Sittenbild, das vielerlei Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen und deren Abgründe aufzeigt. Wie Seidl das Unfassbare sichtbar und fühlbar macht, erläuterte er selbst im Gespräch nach dem Film. Er erklärte anschaulich, wie er ein Höchstmaß an Authentizität erreicht, indem er chronologisch dreht und offene Szenerien schafft, die zwar exakt geplant sind, aber Raum für die Eigendynamik lassen. Seidls langjähriger Kameramann Wolfgang Thaler und der Darsteller Michael Thomas berichteten ebenfalls von Seidls einzigartiger Arbeitsweise.

Depot Boijmans Van Beuningen in Rotterdam

Depot Boijmans Van Beuningen in Rotterdam

Unterhaltsam und auch witzig zeigt sich der britisch-irische Experimentalfilm LOLA. Komplett in schwarz-weiß im Archivmaterial-Stil gedreht, erzählt der Film von zwei Schwestern in den 30er-Jahren, die eine Maschine erfinden, die in die Zukunft sehen kann. Das führt schließlich dazu, dass Hitler England übernimmt und David Bowie niemals stattfindet…
Teil des Filmfestivals war auch das Programm „Art Directions“, das an den vielfältigen Kunstorten der Stadt immersive Installationen, Live-Performances und neue Medienexperimente geboten hat. Höhepunkt war sicher die Installation SUNSHINE STATE von Oscar-Preisträger Steve McQueen (12 YEARS A SLAVE) im 2021 eröffneten Depot Boijmans Van Beuningen. SUNSHINE STATE ist eine Videoprojektion, die auf beiden Seiten von zwei nebeneinander platzierten Leinwänden gezeigt wird. Es beginnt mit Aufnahmen einer brennenden Sonne und und leitet über zu Bildern aus dem Film THE JAZZ SINGER (1927), verbal unterlegt mit den üblen Rassismus-Erfahrungen von McQueens Vater im “Sunshine State” Florida. Eine packende Erfahrung, die um allgegenwärtige Fragen zu Themen wie der Konstruktion von Identität, Zugehörigkeit und dem Recht auf Freiheit kreist.