79. Filmfestfestspiele Venedig 2022

Die 79. Filmfestspiele in Venedig
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

Während in Cannes Filme, für die kein regulärer Kinostart vorgesehen ist, nach wie vor nicht im Wettbewerb gezeigt werden und Netflix gerade noch einmal seine Directive “Streaming first!” bekräftigt hat, disponierte Venedig- Festivaldirektor Alberto Barbera gleich vier Filme des Streaming-Giganten im Wettbewerb. Noah Baumbach, der bereits 2019 mit der Produktion MARRIAGE STORY im Wettbewerb vertreten war, durfte diesen mit seiner neuesten Netflix-Produktion WHITE NOISE sogar eröffnen.

Nach dem Roman von Don Delillo versucht Baumbach uns das Chaos des Lebens zu erklären. Die Gladneys, eine exemplarische amerikanische Familie mit vier Kindern, fühlt sich am sichersten im Supermarkt, insbesondere wenn alle Regale gut gefüllt sind. Dass diese Sicherheit auch trügerisch sein kann, erfährt Vater Jack (Adam Driver) im Laufe des Films gleich mehrfach. Baumbach wechselt dabei laufend die Genres. Was als harmloser Familienfilm beginnt, verändert sich zum Katastrophenfilm, als ein LKW einen Gefahrguttransport-Zug zum Entgleisen bringt, und als eine ominöse Giftgaswolke das Heim der Gladneys bedroht, wechselt er ins Horror- und Splatter-Genre. Während Jack noch meint, der Gefahr durch das Schließen aller Fenster Herr werden zu können, verlassen seine Nachbarn schon in Panik ihr Heim. Die Bewohner werden in einem nahegelegenen Reservat quarantänisiert und erleben traumatische Zustände, wenn sie am nächsten Morgen weiter flüchten müssen. Das Chaos ist perfekt, alle laufen durcheinander, überfahren sich gegenseitig mit ihren Autos.

White Noise

White Noise

Baumbachs Inszenierung weckt Erinnerungen an Romeros THE CRAZIES von 1973. Danach folgen wieder ruhigere Phasen, in denen die Tablettensucht der Mutter (Greta Gerwig) im Mittelpunkt steht. Sie hatte an klinischen Test für ein neues Medikament teilgenommen, mit lebensbedrohlichen Folgen, für die sich Jack nun am federführenden deutschen Pharmaforscher (Lars Eidinger) rächen will, den er anschließend mit Schusswunde in ein entlegenes Kloster bringt, wo eine deutsche Nonne (Barbara Sukova) ihn wieder zusammenflickt. Am Ende ist die ganze Familie wieder zuhause vereint und streift in bester Laune durch den gut gefüllten Supermarkt. Die Welt scheint wieder die alte zu sein, doch Baumbach hat uns zweieinhalb Stunden vorgeführt, an welch dünnem Faden unser Glück hängt. Wenn er reißt, herrscht Chaos. Baumbach beschreibt dieses Chaos wie das weiße Rauschen eines Fernsehers ohne Empfang. Im Weißen Rauschen überlagern sich das visuelle und das auditive Chaos und vermittelt uns einen beängstigenden Eindruck von einer aus der Bahn geratenen Welt. An deren Zusammenbruch lassen sich nun die Faktoren erkennen, die sie zusammenhalten, angefangen vom grenzenlosen Konsum, über Drogen und Religion bis zum Waffen-Fetisch und vielen anderen Dingen, die in Amerika alltäglich sind, aber nicht weiter auffallen, solange der American Way of Life funktioniert. Trotzdem ist WHITE NOISE merkwürdig verfahren, oft grell und übertrieben, selten stimmig, so dass er ein wenig aus der Zeit geraten scheint. Dabei geben die derzeitigen Katastrophen dieser Welt Anlass genug für eine neue Adaption von Delillos Gesellschaftsroman der 1980er Jahre.

Bardo - False Chronicle of a handful of truth

Bardo – False Chronicle of a handful of truth

Auch Iñárritus 170-minütige Netflix-Produktion BARDO, DIE ERFUNDENE CHRONIK EINER HANDVOLL WAHRHEITEN, spaltete das Publikum. Zu lang, zu verschachtelt, zu selbstreflexiv, zu weinerlich – so die Gegner. Wer sich mit dem Film beschäftigt, kommt jedoch nicht umhin, seine herausragenden Qualitäten anzuerkennen. Ein wahrhaft surrealer Bilderrausch – wie fürs Kino geschaffen, voller Anspielungen auf vergangene und aktuelle gesellschaftliche und politische Realitäten, auf persönliche Erfahrungen und Erinnerungen des Protagonisten, den man auch als Alter Ego des Regisseurs verstehen könnte – was Iñárritu jedoch selbst weit von sich weist. Trotzdem wirkt BARDO wie das Vermächtnis des Filmemachers und Protagonist Silverio bietet sich als sein Alter Ego geradezu an. Er ist ein bekannter mexikanischer investigativer Journalist und Filmemacher, der seit Jahren mit seiner Familie in Los Angeles lebt und in den USA mit einem hohen Preis geehrt werden soll. Er reist einige Tage vor der Verleihung in L.A. in seine Geburtsstadt Mexico-City und gerät immer mehr in Selbstzweifel, ob er einen Preis von Leuten annehmen soll, die ihn eigentlich aufgrund seiner Herkunft verabscheuen. Auch seine eigene bourgeoise Lebensweise, die ihm von Freunden wie auch Konkurrenten vorgeworfen wird, nagt an ihm.

Athena

Athena

 

 

Bereits auf Netflix zu sehen ist ATHENA von Romain Gavras, dem Sohn von Constantin Costa-Gavras. Geschrieben von DIE WÜTENDEN-Regisseur Ladj Ly, wirkt er wie dessen Fortsetzung, nur dass sich die dürftigen ordnungsgebenden Strukturen in der Banlieu hier völlig aufgelöst haben und eine Art Bürgerkrieg vom Zaun bricht, den Gavras als reinen Actionfilm mit überbordender Tonspur inszenierte. Bei einem jüngeren Publikum kam der Film gut an, während Arthaus-Kinobetreiber froh sein können, dass uns Netflix hier die Auswertung abnimmt.

 

 

Blonde

Blonde

Auch Andrew Dominiks BLONDE, die Adaption des 700-seitigen gleichnamigen fiktionalen Romans von Joyce Carol Oates über das Leben von Marilyn Monroe, der 2000 für den Pulitzer-Preis nominiert war, wird nicht im Kino zu sehen sein. Co-produziert von Brad Pitt und starbesetzt unter anderem mit Ana de Armas, Adrien Brody und Jessica Chastain blickt die Produktion fast drei Stunden lang hinter die Fassade der Hollywood-Ikone und begleitet sie von ihrer Jugend an. Stringent aus der Ich-Perspektive erzählt, legt Dominik den Schwerpunkt auf die Seelenqualen der früh traumatisierten Schauspielerin und ihrem lebenslangen Befreiungsversuch von den Fesseln ihrer eigenen Berühmtheit und dem Bild, das sich andere von ihr machen. Besonders die vielschichtige Darstellung von Ana de Armas sorgte für Begeisterung und auch die Autorin der Vorlage zeigte sich nach Sichtung einer ersten Schnittfassung beeindruckt. Was sie gesehen habe, sei „verblüffend, brillant, sehr verstörend und vielleicht am überraschendsten: eine völlig feministische Interpretation“, so Oates.

Alle Netflix-Filme verursachten einen Riesenrummel auf dem Roten Teppich, die Mega-Stars sorgten für viel Glamour und das Gekreische der oft jugendlichen Fans wollte nicht abreißen. Für Netflix und das Festival eine win-win-Situation, die beiden jede Menge Publicity einbrachte. Zusätzliche Aufmerksamkeit bringt zusätzliche Abonnenten und nur darum geht es Netflix und nicht um die Filme. Das schien auch die Jury so zu sehen, die unter dem Vorsitz von Julianne Moore bei der Preisverleihung den Streamer nicht berücksichtigt hat.

All the beauty and the bloodshed

All the beauty and the bloodshed – Laura Poitras mit Goldlöwe

Dafür war dann die Verleihung des Goldenen Löwen eine echte Überraschung. Er ging zum zweiten Mal (nach “Sacro GRA” 2013) in der Geschichte des Festivals an einen Dokumentarfilm und zum dritten Mal in Folge an eine Frau. Laura Poitras, die bereits 2015 für ihre Doku CITIZENFOUR über Edward Snowden einen Oscar erhielt, untersucht in ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED (Plaion), die Machenschaften der steinreichen Sackler-Familie. Diese verdiente ihr Geld mit als Schmerzmittel verkauften Opioiden, deren hoher Suchtfaktor aber allein in den USA eine halbe Million Menschen abhängig werden ließ. So wurden die Sacklers zu einer der reichsten Familien Amerikas. Sie förderten die größten Museen der Welt mit ihrem Blutgeld, um ihren Namen rein zu waschen. War Laura Poitras bei CITIZENFOUR noch zur rechten Zeit am rechten Ort, um die Geschehnisse in einer bewegenden Doku festzuhalten, wendet sie hier einen besonders cleveren Trick an: Ihr Film ist quasi ein Porträt der bahnbrechenden Fotografin Nan Goldin und ihrer Arbeit. Seit 2017 kämpft diese mit der von ihr selbst gegründeten Interessenorganisation P.A.I.N. sowohl als Künstlerin wie auch als Aktivistin gegen die Machenschaften des Sackler-Clans und versucht all die berühmten Kulturorganisationen zu bewegen, auf deren Unterstützung zu verzichten und ihren Namen aus ihren Förderer-Listen zu streichen. Mit DIA-Shows, intimen Dialogen, bahnbrechenden Fotografien und ‘rare footage‘ gelingt Poitras so nicht nur ein spannendes Künstlerportrait, sondern auch ein aufschlussreiches Portrait dieser Familie und der von ihr ausgelösten Opioid-Krise.

Saint Omer

Saint Omer

Auch der Große Preis der Jury ging an eine Filmemacherin. Alice Diop, deren Dokumentarfilm WE 2021 auf der Berlinale ausgezeichnet wurde, legte hier ihren ersten Spielfilm SAINT OMER (Wild Bunch) vor. Doch auch der trägt stark dokumentarische Züge und erzählt von einer senegalesisch-stämmigen Professorin und Buchautorin aus Paris, die in den titelgebenden Ort reist, um einen Gerichtsprozess zu verfolgen. Vor dem Kadi steht eine des Mordes angeklagte Landsfrau, die ihr Baby den Fluten des Atlantiks überlassen hat. Nicht nur der gemeinsamen Heimat wegen interessiert sich Rama für den Fall. Sie will in ihrem neuen Buch den Medea-Mythos neu für die Gegenwart deuten und erhofft sich aus dem Prozess neue Erkenntnisse. Während der Film sehr nüchtern den Vorgängen vor Gericht folgt, gerät zunehmend Ramas emotionaler Zustand in den Blick. Selbst schwanger, entdeckt sie immer mehr Parallelen zu ihrem eigenen Leben, ihrer Familie und ihren Erfahrungen mit – wenn auch bisweilen verstecktem – Rassismus. Bezeichnend zum Beispiel die Frage einer als Zeugin geladenen Uni-Professorin, die sich wundert, warum die gut ausgebildete Angeklagte an der Uni als Thema ihrer wissenschaftlichen Arbeit Ludwig Wittgenstein gewählt habe und nicht ein Thema, das mehr mit ihrer eigenen Kultur zu tun habe. Die Tat erweist sich immer mehr als Folge einer beständigen Zurückweisung seitens einer Gesellschaft, die sich ihrer rassistischen Tendenzen selbst oft gar nicht bewusst ist.

Bones and All

Bones and All

Einen Silbernen Löwen für die Beste Regie erhielt Luca Guadagnino, dessen CALL ME BY YOUR NAME uns noch in bester Erinnerung ist. In BONES AND ALL (Warner) erzählt er wieder eine Liebesgeschichte, die allerdings in einem gewöhnungsbedürftigen Genre spielt. Maren ist eine bei ihrem Vater aufwachsende junge Frau, der sie von ihrer Umgebung fernzuhalten versucht. Doch inzwischen ist sie alt genug, um sich seinen Isolierungs-Bemühungen zu entziehen. Als sie eines Tages einer Freundin fast den Finger abbeißt, hat der Vater genug und wirft sie raus, denn er weiß genau, was jetzt kommt und er will nicht nochmal erleben, was er mit seiner Frau erlebt hat. Die war eine Menschenfresserin, die ihre Gier nach menschlichem Fleisch ähnlich schlecht kontrollieren konnte, wie wir es von Vampiren her kennen. Maren scheint diese Eigenschaft von ihrer Mutter geerbt zu haben und macht sich also auf, diese zu finden und ihrer Herkunft auf den Grund zu gehen. Das nun folgende Roadmovie führt sie durch halb Amerika und sie begegnet zwei weiteren Menschenfressern: Sully ist ein älterer Mann, der Marens Freundschaft sucht und sie auf ihrer ganzen Reise stalkt. Dabei meint er es nicht einmal böse, sondern sucht nur ihre Gegenwart, um mit einem Menschen zusammen sein zu können, vor dem man sein Geheimnis nicht zu verstecken braucht. Doch Maren entzieht sich ihm immer wieder und lernt den etwa gleichaltrigen Lee kennen. Der leidet genau wie sie unter Schuldgefühlen, angesichts all der Toten, die ihre merkwürdige Vorliebe hinterlässt. Doch für eine ernste Beziehung ist Maren noch nicht bereit. Erst als sie ihre leibliche Mutter in einer Anstalt findet, wird ihr klar, dass sie nie Freunde und Familie haben wird, sondern ein Leben voller Einsamkeit und Leere auf sie wartet. An diesem Punkt entscheidet sie sich für Lee, will mit ihm ihr Glück versuchen, gemäß dem Motto “Let’s do what people do!”
Taylor Russel spielt dieses Mädchen auf der Suche nach ihrem Glück wirklich herzergreifend und erhielt dafür den Marcello Mastroianni Award als Beste Nachwuchsschauspielerin. Guadagninos Film lässt viele Deutungen zu, die Metapher der Menschenfresser kann auf Homosexuelle, Behinderte oder andere Aussenseiter angewendet werden, denen die Gesellschaft kein glückliches Leben zugesteht. Schade, dass er dieses Thema in einem Splatter- bzw. Horrorfilm verarbeitet, was seine Zielgruppe insbesondere aufgrund der vielen unappetitlichen Szenen stark begrenzt.

The Banshees of Inisherin

The Banshees of Inisherin

Für seinen letzten Film THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI gewann Martin McDonagh 2017 vier Oscars, umso größer war das Interesse an seinem neuen Film THE BANSHEES OF INISHERIN (Walt Disney), den man im Vorfeld alles zutraute. Und tatsächlich hielten ihn die meisten (auch wir) für den besten Film des Festivals, doch es reichte nur für einen Silbernen Löwen für die Beste Regie. Dass dieser Film das Zeug hat, die Programmkinos in alte besucherstarke Zeiten zurückzuführen, liegt nicht nur an seiner fabelhaften Regie, sondern auch an dem Darsteller-Pärchen, dass uns noch aus BRÜGGE SEHEN UND STERBEN bekannt ist. Colin Farrell und Brendan Gleeson liefern hier die kauzige Performance einer lebenslangen Freundschaft ab, die aus zunächst unerfindlichen Gründen einseitig beendet wird – und das ebenso abrupt wie mit drastischen Mitteln.
Brachte uns THREE BILLBOARDS die Menschen im Bundesstaat Missouri näher, erzählt McDonagh nun von den Menschen auf einer kleinen Insel vor der irischen Westküste. Während auf dem Festland der Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit von England (1920) tobt, inszenieren zwei der wenigen Inselbewohner ihre eigene Fehde. Normalerweise treffen sich Colm und Padraic in Ermangelung eines Jobs schon am Morgen im Pub auf ein Pint. Normalerweise jedenfalls, doch von einem Tag auf den anderen ist alles anders, denn Colm will nicht mehr mit Padraic reden. Er ist die belanglosen Gespräche satt und will seine gezählten Tage lieber mit Sinnvollerem verbringen. Padraic ist erschüttert und denkt zuerst, dass er seinen Freund im Suff beleidigt haben könnte. Der macht ihm seinen Sinneswandel mit einem Ultimatum klar. Jedesmal wenn er ihn anspricht, will er sich selbst einen Finger abschneiden, doch Padraic fordert ein bisschen mehr Respekt und Freundlichkeit ein und riskiert damit eine blutige Zuspitzung dieser Auseinandersetzung.
McDonagh erzählt seine Geschichte nicht nur recht eigenwillig, sondern auch dramaturgisch gegen den Strich. So richtet sich Colms Ultimatum nicht gegen Padraic, sondern gegen sich selbst, so dass Padraic nunmehr die Verantwortung für das Wohl seines Freundes trägt. Auch eine biblische Zuspitzung à la Zahn um Zahn bleibt aus, vielmehr scheinen die Tiere das Kommando und die fehlende zwischenmenschliche Kommunikation mit ihrem Handeln zu übernehmen. So geht McDonagh trotz einiger abgeschnittener Finger auf ausgesprochen amüsante Weise und mit viel schwarzem Humor und irischem Gemüt der Frage nach, was wichtiger ist: Intelligenz oder Freundschaft. Schade nur, dass Colin Farrell den Darstellerpreis alleine erhielt und nicht auch ex aequo sein Partner.

The Whale

The Whale

Viele hatten auch Brendan Fraser auf der Liste als Bester Schauspieler. Wie schon Mickey Rourke in THE WRESTLER verhalf Darren Aronofsky dem vom Schicksal gebeutelten DIE MUMIE-Star zu einem sensationellen Comeback. In Schwarzweiß-Bildern im Academie-Format (4:3) spielt er in THE WHALE (Plaion) einen stark übergewichtigen Mann von imposanter Größe, der, wenn er sich mal aus seinem Sessel erhebt, den Rahmen des Bildformats zu sprengen droht. Als zurückgezogen lebender Englischlehrer gibt er Kurse via Zoom, bei denen er die Kamera abschaltet, damit ihn seine Schüler nicht sehen können. Doch sein größter Wunsch ist es, sich mit seiner ihm entfremdeten Teenager-Tochter zu versöhnen. Er bietet ihr an, ihr als Ghostwriter bei ihren Schulaufsätzen zu helfen. Doch die beiden fremdeln, sie verzeiht ihm immer noch nicht, seine Familie wegen eines schwulen Liebhabers verlassen zu haben. Die einzige, die zu ihm hält, ist die Krankenschwester Liz, die regelmäßig nach ihm schaut und ihn zu überreden versucht, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. Und da ist noch der Prediger, der an seiner Haustür klingelt, um ihn zu bekehren und bald ein ehrliches Interesse für ihn entwickelt.
Die Kritiker in Venedig waren gespalten. Manche stießen sich an der Darstellung adipöser Menschen, doch einig waren sich alle über die großartige Leistung Brendan Frasers, die von der Jury jedoch nicht gewürdigt wurde.

Tàr

Tàr

Der Coppa Volpi für die beste Schauspielerin ging dagegen mit großer Zustimmung an Cate Blanchett für ihre Rolle in TÁR (Universal) von Todd Field. Sie spielt die fiktive Figur der ersten weiblichen Dirigentin eines großen deutschen Orchesters, in der Folge von Karajan, Furtwängler und Barenboim. Eine Erfolgsstory augenscheinlich, doch der erste Eindruck täuscht. Letztendlich sehen wir hier zu, wie eine äußerst erfolgreiche Frau im Laufe ihrer beruflichen Karriere zum Monster mutiert. Um in einer immer noch von Männern dominierten Musikwelt reüssieren zu können, übernimmt sie deren Verhaltensweisen, ist herrisch und rücksichtslos, spielt das Spiel der gnadenlosen Selbstvermarktung mit und tappt ebenso in die hier bereitgestellten Fallen. Sie vernachlässigt ihr Familienleben – lebt mit ihrer von Nina Hoss gespielten ersten Geigerin und dem gemeinsamen adoptierten Kind zusammen – geringschätzt ihr Personal und ihre Kolleginnen und Kollegen und verliert immer mehr den Bezug zum normalen Leben jenseits ihres Jobs.So i st TÁR letztlich die Geschichte eines gnadenlosen Abstiegs. Eines Tages tauchen Gerüchte auf, sie bevorzuge ihre Liebesgespielinnen bei der Besetzung ihres Orchesters. Tatsächlich beginnt sie eine Liaison mit einer neuen Musikerin. Was noch schwerer wiegt: Sie wird mit dem Freitod einer ehemaligen Mitspielerin in Verbindung gebracht, die sie fallen gelassen hat, was weitere Gerüchte evoziert, die in den sozialen Medien schnell viral gehen und zur ernsten Gefahr für ihre Karriere werden.
Mehr als 15 Jahre hat sich Todd Fields nach LITTLE CHILDREN Zeit genommen. Dabei hat er die Rolle der Lydia Tár Cate Blanchett auf den Leib geschrieben, ohne sie, versichert er, hätte er den Film nicht gemacht. Und tatsächlich verschmilzt Blanchett fast mit ihrer Figur der erfolgsverwöhnten Karrierefrau. Wir erleben, dass sie immer mehr und auch ganz wörtlich über Leichen geht, um ihren hart erkämpften Erfolg in der Welt einer undemokratischen Hochkultur zu wahren. Macht korrumpiert den Menschen, und beide Geschlechter sind dafür gleich anfällig – das ist letztlich eine Erkenntnis, die der Film uns vermitteln will. Gespickt mit scharfsinnigen und spitzzüngigen Dialogen, ist TÁR ein sowohl auf intellektueller als auch auf emotionaler Ebene überzeugender Film. Cate Blanchett spielt herausragend und wird sicher auf der Liste der Oscar-Aspirantinnen stehen.

No Bears

No Bears

Den Spezialpreis der Jury erhielt Jafar Panahi, dessen jahrelanger Hausarrest gerade in eine Gefängnisstrafe umgewandelt worden ist. Seit Jahren schafft er es, trotz Berufsverbot immer wieder kleine Filmchen zu drehen und sie auf die großen internationalen Festivals zu schmuggeln. Auch NO BEARS gehört zu diesen kleinen Filmen, die ohne größeren Aufwand mit einfachsten Mitteln gedreht wurden und doch erhellende Eindrücke aus dem alltäglichen Leben im Iran geben. Panahi spielt wieder (wie schon in TAXI) sich selbst und hat sich in einen kleinen Ort im Norden, nahe der türkischen Grenze zurückgezogen. Dort versucht er, via Zoom einen Film zu drehen, in dem die Protagonisten nach Frankreich fliehen wollen. Doch er erzählt auch eine zweite, seine eigene Geschichte: denn als er unbedacht einige Fotos macht, kommt er bald mit der Dorfbevölkerung in Konflikt. Die ist gespalten über den prominenten Neuzugang aus der Stadt und macht sich Sorgen, ob er ihren durchaus eigenen Wertvorstellungen und Traditionen folgen wird. Panahi muss also öffentlich auf dem Marktplatz Abbitte leisten, um Ruhe vor einer skeptischen Bevölkerung zu haben und sich wieder den Problemen beim Dreh seines Films widmen zu können, der auf eine tödliche Katastrophe zutreibt. Geschickt verknüpft Panahi die beiden Geschichten und zeichnet zwei Bilder der iranischen Gesellschaft. Das der Städter, die zahlreiche Regeln zu befolgen haben, deren moralische Zulässigkeit er in Frage stellt und das der Landbevölkerung, die sich gerne als eingeschworene Gemeinschaft sieht, das Dorf aber mit Aberglauben und veralteten Traditionen im Stillstand hält. So erscheint der Titel NO BEARS! letztlich als Aufruf, nicht länger an die vermeintlichen Bären im Wald und in der Stadt zu glauben und sich das Recht eines freien und selbstbestimmten Lebens nicht nehmen zu lassen. Erstaunlich, mit welch geringen Mitteln Panahi immer wieder zu solch grundsätzlichen Aussagen findet und nach Möglichkeiten sucht, eine im Stillstand begriffene Gesellschaft wieder zu mobilisieren.

The Son

The Son

Ebenfalls auf unserer Löwen-Liste, aber leer ausgegangen ist Florian Zellers THE SON (Leonine), der mit Hugh Jackman, Laura Dern, Vanessa Kirby und Anthony Hopkins in einer Gastrolle illuster besetzt ist. Die zweite Regiearbeit des Oscar®-prämierten Regisseurs von THE FATHER ist ein gefühlvolles und berührendes Familiendrama, das dem New Yorker Anwalt Peter (Hugh Jackman) folgt. Beruflich läuft’s und privat hat er sich ein neues Glück mit einer neuen Frau aufgebaut. Alles bestens, bis eines Tages seine Ex-Frau Kate (Laura Dern) vor der Tür steht. Sie kommt nicht mehr mit der Erziehung ihres gemeinsamen Sohnes Nicholas klar. Der schwänzt die Schule und ist kaum mehr ansprechbar, so dass Peter seine neue Frau überredet, den Sohnemann vorübergehend zu sich zu nehmen, damit er sich um ihn kümmern und aus ihm ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft machen kann. So jedenfalls der Plan, der ganz und gar nicht aufgehen will. Vielmehr entpuppt sich Nicholas Bockigkeit als tiefsitzende Depression, die auf die Trennung der Eltern zurückzuführen ist. “Alles was du Ma antust, tust du auch mir an!” sagt er einmal zu seinem Vater , der plötzlich in den Spiegel seiner eigenen Egozentrik und Unzulänglichkeit schauen muss. Doch die Ereignisse werden noch mehr eskalieren.
THE SON kommt leider nicht an die Virtuosität seines Vorgängers heran, ist konventionell und stringent erzählt und bewegend inszeniert und zeigt, dass die Erziehung eines Kindes eine hochverantwortliche Sache ist, der die meisten Eltern kaum gerecht werden.

Ebenso konventionell erzählt ist LIVING (Sony), ein Remake von Akira Kurosawas IKIRU – EINMAL WIRKLICH LEBEN von 1952. Der südafrikanische Regisseur Oliver Hermanus (MOFFIE) verlegt den Stoff nach London, wo Bill Nighy, der immer mehr so große Charakterdarsteller wie John Hurt oder Laurence Olivier ersetzt, den Verwaltungsbeamten Mr. Williams spielt. Er leitet eine kleine Abteilung und hat das System perfektioniert, Vorgänge solange an andere Abteilungen zu verschieben und von denen wieder zurückzubekommen, um sie dann mit den Worten „We can keep it here“ wieder ganz unten im Stapel der zu bearbeitenden Akten einzusortieren. Eine wahrlich kafkaeske Bürowelt wird hier im Normalformat mit Schwarz- und Sepia-Tönen beschrieben, in die die steifen Engländer der 1950er Jahre erstaunlich gut reinpassen. Als Mr. Williams die Diagnose einer unheilbaren Krankheit erhält, durchbricht er das in sich geschlossene System und hilft drei Frauen bei der Umsetzung ihres Vorhabens einen Kinderspielplatz zu errichten. Dessen Eröffnung erlebt er zwar nicht mehr, doch seine spektakuläre und zukunftsweisende Tat wird als beispielhaft gewertet und erste Farbtöne schleichen sich in diesen ungeheuer altmodischen Film, der einen zu Tränen rührt.

Call of God

Call of God

In Cannes wurde der letzte Film des an Corona verstorbenen Kim Ki-duk wegen sexueller Missbrauchsvorwürfe aus dem Programm genommen, was für Barbera schon ein ausreichender Grund sein mag, ihn außer Konkurrenz zu präsentieren. Tatsächlich kann man hinterfragen, ob man für etwaige persönliche Verfehlungen des Regisseurs, wie man sie auch gerade bei Ulrich Seidls SPARTA diskutiert, einen ganzen Film, an dem viele Künstler eine lange Zeit gearbeitet haben, außergerichtlich verfolgen sollte. CALL OF GOD thematisiert den ewigen Kampf der Geschlechter anhand einer Liebesgeschichte, die von Eifersucht, Misstrauen und Gewalt geprägt ist. Doch die hübsche Protagonistin träumt sie nur, und immer wenn es brenzlig wird, wird sie von ihrem Smartphone geweckt. Am anderen Ende ist dann ein ominöser Fremder, der sie fragt, ob sie weiter träumen will. Er verspricht, dass alles gut enden und später auch in Wirklichkeit geschehen wird. So durchlebt die Protagonistin alle Höhen und Tiefen der Liebe und ist so optimal vorbereitet auf die Dinge, die da kommen werden. Es ist Ki-duks letzter Film und im Vorspann lässt er wissen, dass er jetzt im Alter seine Jugend vermisst. Zu vieles hat er damals falsch gemacht, so vieles würde er heute besser machen.

Master Gardener

Master Gardener

Besser machen hätte Venedig-Regulär Paul Schrader auch seinen Film MASTER GARDENER (Leonine), der von Narvel Roth (Joel Edgerton), dem akribischen Gärtner von Gracewood Gardens erzählt. Er kümmert sich um die Pflege dieses historischen Anwesens, ebenso wie um die Belange seiner wohlhabenden Arbeitgeberin, die Witwe Mrs. Norma Haverhill (Sigourney Weaver). Das erinnert an Filme wie MISS DAISY UND IHR CHAUFFEUR, und tatsächlich scheint die Geschichte irgendwo in den Südstaaten zu spielen, wo die Herrschaften immer noch nicht den richtigen Ton im Umgang mit ihrem Personal gefunden haben.
Doch mit Filmkunst hat Schrader nicht allzuviel im Sinn, sein Protagonist ist ein ehemaliger Profikiller, der von seinen Auftraggebern in diesen Job beordert wurde, um ihn aus der Schusslinie zu bringen. Narvel findet an der neuen Aufgabe Gefallen, weil sie Parallelen mit seinem früheren Tun aufweist. Egal ob du jemanden umbringen oder Pflanzen zum Blühen bringen willst, so seine Devise, als erstes brauchst du einen Plan, und an den hält er sich akribisch, auch dann, wenn es nicht so läuft wie geplant. In Gracewood Gardens erzielt er damit erstaunliche Erfolge. Doch als Mrs. Haverhill ihn bittet, sich ihrer eigensinnigen Großnichte Maya anzunehmen und ihr das Gärtnern beizubringen, gerät seine Welt aus den Fugen. Zu impulsiv, chaotisch und selbstbewusst ist diese junge Frau, sie erzeugt dabei Spannungen aller Art, die Narvel mit seinen sich selbst auferlegten Regeln eigentlich im Griff zu haben glaubte. Wie schon in THE CARD COUNTER kombiniert Schrader hier zwei völlig unterschiedliche Berufsbilder, die nicht zueinander passen und kreiert damit eine Disharmonie, die er nicht auflösen kann.

Padre Piu

Padre Piu

Auch Abel Ferrara ist ein Venedig-Regular, dessen Filme immer etwas konfus und nicht richtig durchdacht erscheinen, was sicherlich seiner Arbeitsweise ohne Drehbuch geschuldet ist und manchmal zu erstaunlichen Ergebnissen führt. “Ich habe immer eine Idee, was aber aus der am Set wird, kann niemand vorhersagen.” Zu seinem neuen Film PADRE PIO hat er sich offensichtlich ein paar Gedanken gemacht. Ob er mit denen beim italienischen Publikum punkten kann, ist fraglich, denn er stellt den in Italien hochverehrten und 2002 heiliggesprochenen Kirchenmann in einen zwielichtigen Zusammenhang. Padre Pio ist einer der beliebtesten Heiligen Italiens. Für sein fiebriges Biopic wählt Ferrara eine ungewöhnliche Ausgangssituation, denn Padre Pio wurde 1887 in der süditalienischen Kleinstadt San Giovanni Rotondo geboren und erlebte als junger Mönch den Ersten Weltkrieg. Die nach Hause kommenden Soldaten sind traumatisiert und gebrochene Männer, die von den Großgrundbesitzern direkt wieder auf die Felder geschickt und weiter ausgenutzt werden. Es herrscht Armut sowie eine Tradition von Gewalt und Unterwerfung, ein feudales System, das unter dem Schutz der Kirche steht. Als die Sozialisten die ersten freien Wahlen in Italien gewinnen, wird die Wahl annulliert und es kommt zu einem Massaker. Auch Padre Pio versah an diesem Abend seinen Dienst, und wenn er auch nicht direkt mit den Vorgängen zu tun hatte, nimmt Ferrara ihn in Sippenhaft, denn die Kirche spielte hier mal wieder eine ausgesprochen unrühmliche Rolle und kann als Wegbereiter des kommenden Faschismus gesehen werden.
Ferrara nimmt diese Schuld als Ausgangspunkt für sein Biopic, erzählt in einer Art Fiebertraum von der Sehnsucht nach Sühne und Vergebung. Mit verzerrten Bildern und anderen Effekten versucht er den Film emotional zu erhöhen, den inneren Konflikt des heiligen Mannes zu visualisieren, wie er schon oft zuvor den Zwiespalt zwischen Künstler und seinem Werk thematisiert hat. Damit nimmt er der Geschichte allerdings ihren Drive. Schade, denn der Stoff ist grandios und wenig bekannt. Im Gegensatz zu BABYLON BERLIN ist er auf das kleine Dorf reduziert und zeigt daher umso plausibler die Begierden der unterschiedlichen Interessensgruppen.

Don*t worry Darling

Don*t worry Darling

 

Auch DON’T WORRY DARLING (Warner) konnte seinen Vorschusslorbeeren nicht gerecht werden. Die zweite Regiearbeit der amerikanischen Schauspielerin Olivia Wilde (BOOKSMART) entpuppte sich als etwas biederer Aufguss von Filmen wie DIE FRAUEN VON STEPFORD, der schon vor fast 20 Jahren mehr Sprengkraft entwickelte. Immerhin löste Teenie-Star Harry Styles nicht nur ein Kreisch-Konzert auf dem Roten Teppich aus, wie es Venedig schon lange nicht mehr gesehen hat, sondern konnte auch seiner Regisseurin derart den Kopf verdrehen, das seine Co-Partnerin Florence Pugh aus Ärger darüber gar nicht zur Pressekonferenz erschien. Was der Film zu wünschen übrig ließ, schafften die drei mit einem spannenden PR-Auftritt in Sachen Glamour & Gerüchteküche.

 

 

Nuclear

Nuclear

Den Tiefpunkt der amerikanischen Filme lieferte Oliver Stone. Sein neuestes Machwerk NUCLEAR kann eigentlich nur als Propagandafilm beschrieben werden. Mit dem zielt er auf eine jüngere Generation ab, die er davon überzeugen will, dass all unsere Probleme nur mit Kernenergie gelöst werden können. Dafür spielt er die offene Endlager-Problematik herunter und behauptet, der Atommüll strahle maximal 50 Jahre weiter, lässt auch keine Zeugen der Reaktorkatastrophen in Tschernobyl oder Fukushima zu Wort kommen, sondern vertraut lieber auf die Kompetenz einer amerikanischen Influencerin, die sich damit rühmt, gerade 500.000 jungen Leute, die sich noch nie mit dem Thema beschäftigt haben, für Kernenergie begeistert zu haben. Zuletzt verwendet er aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Stephen Hawking und verdreht Diagramme, die Al Gore in seiner Oscar®-prämierten Doku EINE UNBEQUEME WAHRHEIT verwendete. Mag man ihm bei seinen Dokus über Fidel Castro und Wladimir Putin eine gewisse Naivität zu Gute halten, wirkt dieser Film wie durchfinanziert von der amerikanischen Atomkraft-Lobby.

Auffallend war, wie viele überzeugende Frauenporträts in diesem Jahr in Venedig zu sehen waren. Sowohl durch männliche wie weibliche Hand inszeniert, waren vielschichtige Lebenswelten von Frauen auf verschiedenen Zeitebenen zu sehen.

Immensity

Immensity

In den siebziger Jahren spielt Emanuele Crialeses neues Werk L’IMMENSITÀ (Immensity) mit Penelope Cruz in der Hauptrolle. Sie spielt eine Hausfrau und Mutter von drei Kindern im Rom der siebziger Jahre. Gerade ist die Familie in eine hübsche Wohnung in einer Neubausiedlung gezogen. Doch die Ehe Clara Borghettis mit ihrem untreuen Mann Felice steht nur noch auf dem Papier. Der Kinder zuliebe bleibt sie jedoch bei ihm. Der Kälte ihrer Ehe setzt sie die liebevolle Sorge um ihren Nachwuchs entgegen. Besondere Aufmerksamkeit erfordert ihre 12-jährige Tochter Adri, die lieber ein Junge sein möchte – sehr zum Ärger ihres Vaters, der dafür kein Verständnis hat. Auch sonst widersetzt sich Adri gerne einmal Regeln, etwa der ihrer Mutter, das nahe gelegene Bambusfeld nicht zu betreten. Denn dahinter befindet sich ein Flüchtlingslager – für Adri eine ganz neue Welt, die sie kennenlernen will. Sie freundet sich mit einem Mädchen an, das sie für einen Jungen hält, und erlebt ihre erste Romanze.
Der Film lebt von Penelope Cruz’ warmherzigen Spiel und die Newcomerin Luana Giuliani als Adri ist eine Entdeckung. Die beiden Figuren eint eine Liebe zur Musik, die sich zuweilen in musical-ähnlichen Traum- und Tanznummern von Mutter und Tochter als Flucht aus dem Alltag niederschlägt. Angelehnt an eigene Kindheitserinnerungen gelingt Crialese ein ruhiger, unaufgeregter Film, der sich subtil auf Alltagsbeobachtungen konzentriert und ganz nebenbei ein Spiegel der italienischen Hauptstadt im Umbruch der siebziger Jahre sein will. Altes wird abgerissen, Neues gebaut und die Menschen müssen sich darin zurechtfinden und neue Perspektiven entwickeln.

Other People*s Children

Other People*s Children

Im Hier und Jetzt zeigt die französische Regisseurin Rebecca Zlotowski eine weitere Nuance weiblicher Lebensformen: in ihrem gelungenen LES ENFANTS DES AUTRES (Other People’s Children) spielt Virginie Elfira die vierzigjährige Rachel – Single, kinderlos und trotzdem sehr glücklich. Sie hat noch guten Kontakt zu ihrem Ex, als Lehrerin ist sie täglich von Kindern umgeben, sie genießt ihre Unabhängigkeit und steht voll im Leben. Als sie sich in den charmanten Auto-Designer Ali verliebt, der eine kleine Tochter hat, ändert sich ihr Leben. Immer mehr fühlt sie sich hingezogen zu dem Mädchen und obwohl beide nach einer Weile gut miteinander klarkommen, wird Rachel bewusst, dass Leila nicht ihr eigenes Kind ist. Nach einem schönen gemeinsamen Urlaub etwa will das Kind unbedingt zurück zu ihrer leiblichen Mutter. Immer mehr wächst in Rachel der Wunsch nach einem eigenen Baby mit Ali. Doch die Uhr tickt – es bleiben ihr nur noch wenige Monate, stellt ihr Frauenarzt nach einer Hormonuntersuchung fest.
Der Regisseurin gelingt es, die gemischten Gefühle der Protagonistin nuancenreich und authentisch rüberzubringen. Ihre innere Zerrissenheit wird ebenso deutlich wie ihre Sensibilität gegenüber den kleinen, eher unbewussten Zurückweisungen Leilas. Wieder einmal beweist die derzeit scheinbar omnipräsente Belgierin Virginie Elfira – in Cannes im letzten Jahr noch als lesbische Nonne in Paul Verhoevens BENEDETTA zu sehen – ihre Vielseitigkeit.

The Eternal Daughter

The Eternal Daughter

Mit blauem Shirt und gelb gefärbten Haaren schritt Tilda Swinton zur Pressekonferenz des Films THE ETERNAL DAUGHTER von Joanna Hogg und erklärte so ihre Solidarität mit der Ukraine. In der geschickt mit Elementen des Schauerromans vermischten Mutter-Tochter-Beziehung spielt Tilda Swinton auf eigenen Wunsch eine Doppelrolle. Mutter und Tochter reisen in ein abgelegenes Hotel in Wales. Doch möchte sie ihrer Mutter Erinnerungen als Grundlage für eine geplante Filmbiografie entlocken. Die Mutter hatte auf dem ehemaligen Landsitz zeitweise während des 2. Weltkriegs ihr Zuhause. Doch die beiden Frauen werden dort unfreundlich empfangen und erhalten nur ein schäbiges Hinterzimmer. Angeblich sei das Haus ausgebucht, doch Gäste sind weit und breit nicht zu entdecken. Und auch die Nacht wird nicht angenehmer: die beiden hören allerlei merkwürdige Geräusche. Doch sie lassen sich nicht einschüchtern und erleben schöne Tage miteinander. Heimlich nimmt die Tochter die Erzählungen ihrer Mutter auf dem Handy auf, um sie direkt für ihr Drehbuch verarbeiten zu können. Dabei kommen auch lang verdrängte Geheimnisse ans Licht. Zunehmend werden die zart eingestreuten Geister-Elemente zurückgedrängt zugunsten einer intimen Studie über zwei Frauengenerationen und das ewige Band zwischen Mutter und Tochter, das immer bestehen bleibt. Die Idee zum Film, der leider etwas textlastig ist, aber mit einer wie immer brillianten Tilda Swinton punktet, kam Joanna Hogg durch die Auseinandersetzung mit dem Leben der eigenen Mutter.

Princess

Princess

Auch die Nebenreihe Orizzonti punktete mit Frauenfilmen. Gleich der Eröffnungsfilm PRINCESS von Roberto de Paolis erzählt von einer jungen Nigerianerin, die illegal in Italien eingereist ist und auf den Straßen zwischen Rom und Ostia als Prostituierte zu überleben versucht. Dabei ist sie streng gläubig und bittet Gott jeden Morgen, dass er ihr betuchte und freundliche Freier schicken möge. Dass die Welt da draußen anderes für sie bereit hält, erfährt sie und ihre Kolleginnen täglich, doch für die nächste warme Mahlzeit oder ein paar Euro, die sie nach Hause schicken können, gehen sie gelegentlich auch über ihre Grenzen. Seinen Höhepunkt findet der Film, als ein potentieller Freier sie mit nach Hause nehmen möchte, weil er eher Gesellschaft als Sex sucht. Hier offenbart sich das Dilemma dieser Frauen, die zu den fremden Männern Vertrauen haben müssen, um sie wirklich kennenzulernen und gleichzeitig wissen, dass dies ein sehr großes Risiko ist. So gibt uns der Film am Ende einen Einblick in den Alltag dieser Sexarbeiterinnen. Ihr ewiges Leid spiegelt den Zustand unserer Gesellschaft, die sich darauf spezialisiert hat, die Not der Ärmsten auszunutzen.

Vera

Vera

Ein nicht ganz so prekäres Leben führt Vera Gemma, die Tochter des Italowestern-Stars Giuliano Gemma, die zusammen mit Tizza Covi und Rainer Frimmel einen Film gedreht hat, der eine Art Doku über ihr Leben sein könnte. Sie lebt von dem Erbe ihres Vaters, das zunehmend schwindet, hat einige verunglückte Schönheitsoperationen hinter sich und findet niemanden mehr, der sie als Schauspielerin engagieren würde. Sie hat keinen Bock mehr auf die sinnlosen Castings, in denen ihr Name zwar immer noch schillert, sich dann aber doch niemand mit einem Rollenangebot zurückmeldet. So entdeckt sie ihr Faible für die Armen der Armen, in der Hoffnung, wenigstens hier ein wenig Anerkennung und Gesellschaft zu finden. Doch auch hier wird sie nur ausgenutzt und am Ende gar geschlagen und beraubt. Vera Gemma gewann völlig zu Recht für ihre uneitle und ehrliche Performance im Film VERA, der am Ende dann doch Spielfilm-Qualitäten zeigt, den Preis als Beste Darstellerin in der Orizzonti-Sektion.

 

Auch wenn dieser Jahrgang keine Knaller wie JOKER oder NOMADLAND bereit hielt, haben wir viele Filme gesehen, die wir uns gut im Arthaus vorstellen können. Insgesamt ist dem Festival, das wegen einer klugen Corona-Politik und seiner zeitlichen Lage im Sommer nie ausgefallen ist, so etwas wie eine Rückkehr zur Normalität gelungen. Es gab keine Beschränkungen mehr, die Stars tummelten sich auf dem Roten Teppich, Gespräche mit Künstlern und Kollegen waren wieder möglich und die Kinosäle waren bis zum letzten Tag proppenvoll. Man könnte schon fast von Kino-Euphorie sprechen, die es jetzt in die heimischen Säle zu übertragen gilt.