Berlinale 2022

Die 72. Internationalen Filmfestspiele Berlin
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

Berlinale-Bär am Potsdamer Platz

1.400 Journalisten aus 65 Ländern kamen zur Berlinale 2022, alle Fotos: Berlinale.de.

Mit einer Inzidenz von über 3.500 ging die Berlinale, nachdem sie im letzten Jahr nur online zu erleben war, diesmal wieder physisch an den Start. Ein durchaus riskantes Unterfangen, denn wären die Corona-Maßnahmen verschärft worden, hätte sie ausfallen müssen, da man online nichts vorbereitet hatte. Das hätte Berlin, nachdem Cannes und Venedig im letzten Jahr stattfinden konnten, noch weiter ins Hintertreffen geraten lassen. Doch die Regierenden und insbesondere die Regierende waren wohlgesonnen und ließen alles stattfinden, wenn auch unter verschärften Sicherheitsbedingun- gen. So mussten alle Teilnehmer nicht nur vollständig geimpft sein, sondern sich auch täglich testen lassen. Dass am Ende 1.400 Journalisten aus 65 Ländern nach Berlin reisten und von über 10.000 Testergebnissen nur rund 140 positiv waren, zeigt einmal mehr, dass das Kinoerlebnis ziemlich sicher ist.
Unter den entsprechenden Voraussetzungen natürlich, und die waren zum Teil heftig. Nach dem morgendlichen Test ging es in den nur halb besetzten Kinosaal, die Pressevorführungen fanden fast alle in einem einzigen Multiplexkino statt, wo es weder etwas zu essen oder zu trinken, noch irgendeine Aufenthaltsmöglichkeit gab, und so fand man sich nach jeder Vorstellung, über den Notausgang aus dem Kino komplementiert, auf der Straße im stürmischen Berlin wieder. Weitere Einschränkungen waren: Karten gab es nur im Internet, Stars waren Mangelware, der Rote Teppich fiel gleich ganz aus, was den Glamourfaktor abstürzen ließ. Keine Feten, keine Empfänge und selbst auf den Premieren-Bühnen waren nur acht Filmschaffende gleichzeitig erlaubt. Das alles war durchaus gewöhnungsbedürftig, und viele Kollegen sahen im Vorfeld wenig Sinn in einer solchen Veranstaltung. Aber am Ende waren doch alle froh, dass sie stattgefunden hat, denn Filme mal wieder mit Publikum auf der großen Leinwand zu erleben, mit Kollegen und Kreativen, wenn auch in Einzelgesprächen, wieder reden zu können, war eine wahre Befreiung, nach der sich allmählich die wahren Filmperlen herauskristallisierten. Dass am Ende doch nicht alle einer Meinung waren, dafür sorgte in Berlin immer schon das Jury-Urteil zur Bären-Vergabe, denn das fiel auch in diesem Jahr recht umstritten aus.

Berlinale- Gold- und Silberbären

Die Gold- und Silberbären vor der Verleihung

So gingen eine Vielzahl der Auszeichnungen an kleine, ausgesprochen spezielle Filme, die wir in unseren Kinos wohl nie wieder sehen werden. Dazu gehört sicherlich Rithy Panhs überfrachteter Essayfilm EVERYTHING WILL BE OK, der in einer narrativ-figurativen Sprache die Geschichte des 21. Jahrhunderts als Dystopie erzählt: Die Menschheit hat die Welt komplett verkonsumiert. Jetzt sind die Tiere dran. Die existieren aber nur als Pappfiguren in einer futuristischen Puppenstube und schauen Bilder, Collagen und Filmchen aus der Menschheits- und Filmgeschichte an. Es ist eine verheerende Bestandsaufnahmen menschlichen Wirkens mit vielen Anspielungen auf das Kino von ANIMAL FARM über PLANET DER AFFEN bis zu DIE REISE ZUM MOND. Er wurde mit einem Silbernen Bären für eine Herausragende Künstlerische Leistung gewürdigt.

Der Film NANA basiert auf einem Kapitel des Romans “Jais Darga Namaku” des zeitgenössischen indonesischen Schriftstellers Ahda Imran. Im Mittelpunkt steht die Mittdreißigerin Nana, die im Unabhängigkeitskrieg der fünfziger Jahre ihren Ehemann verloren hat. Nun soll ihr Vater sie mit einem Rebellenführer verheiraten, doch der weigert sich und wird daraufhin ermordet. 15 Jahre später scheint es ihr gut zu gehen. Sie ist die Frau eines deutlich älteren Mannes, hat ein Dienstmädchen und erhält von ihm viele Geschenke. Dennoch ist sie unglücklich, ihr Mann betrügt sie und sie träumt von Unabhängigkeit. Wider Erwarten findet sie in der Geliebten ihres Mannes eine Verbündete. Laura Basuki erhielt in dem bildgewaltigen Werk von Kamila Andini für ihre schauspielerische Leistung an der Seite von Happy Salma einen Silbernen Bären für die beste Darstellung in einer Nebenrolle.

Für ihren Spielfilm ROBE OF GEMS gewann die Regisseurin Natalia López Gallardo den Preis der Jury. Das Drama dreht sich um das Leben dreier Frauen in Mexiko. Sie und ihre Familien geraten mit dem Drogengeschäft in Konflikt, wobei ihr Weg zur Erlösung von Tragödien und Gewalt überschattet wird.

Claire Denis gewann – für uns eher unverständlich – den Reisepreis für BOTH SIDES OF THE BLADE, ein mit Juliette Binoche und Vincent Lindon stark besetztes Liebeskarussell um drei Erwachsene, die sich zuweilen verhalten wie pubertäre Jugendliche mit Hormonstau. Intensiv gespielt mit übertriebenem Finish und wenig nachvollziehbarer Motivation.

Der große Preis der Jury ging an Hong Sangsoo aus Südkorea, dem damit der Hattrick gelang, drei Jahre hintereinander einen Silbernen Bären zu erringen. 2020 war er mit DIE FRAU, DIE RANNTE und 2021 mit INTRODUCTION erfolgreich. In eleganten Schwarz-Weiß-Bildern schildert er in THE NOVELIST’S FILM das Entstehen eines Films durch das kreative Zusammentreffen zweier Künstlerinnen. Die eine, eine Schriftstellerin, hat lange nichts mehr geschrieben und lässt sich im Laufe des Films durch das winterliche Seoul treiben. Sie trifft sich mit einer Kollegin, die sich ebenfalls zurückgezogen hat und nun eine Buchhandlung betreibt, besucht eine Ausstellung, lernt eine Schauspielerin kennen, die länger nichts mehr gedreht hat und beschließt mit ihr gemeinsam, ein Filmprojekt zu realisieren. Ein dialoglastiger Film, dessen Raffinesse in der Beiläufigkeit seiner Erzählweise liegt und es im Arthaus schwer haben würde.

Berlinale 2022 - Goldener Bär für Alcarràs

Berlinale 2022 – Goldener Bär für Alcarràs

Regisseurin Carla Simón – erstmals 2017 mit ihrem Debüt FRIDAS SOMMER auf der Berlinale vertreten – ließ sich in ihrem neuen Film ALCARRÀS (Piffl) von ihrer eigenen Großfamilie inspirieren, die eine Pfirsichplantage im gleichnamigen katalanischen Örtchen betreibt. Auch die im Film im Zentrum stehende Familie Solé besitzt dort ein Haus und baut die süßen Früchte auf einem angrenzenden großflächigen Stück Land an. Doch ihr droht die Zwangsräumung des Geländes. Sie hat nur einen Vertrag für das Haus, nicht aber für das Grundstück. Der Erbe des jüngst verstorbenen Besitzers der Plantage will nun die Pfirsichbäume roden und diese durch eine Solarfarm ersetzen. So steht nun ihre letzte Ernte bevor, eine Herausforderung für alle, die zu zunehmenden Spannungen führt, denn die Familienmitglieder reagieren sehr unterschiedlich auf die Situation. Während sich Vater Quimet vehement den Tatsachen verschließt, beruft sich der Großvater auf ein lang zurückliegendes Versprechen der damaligen Pächterfamilie, die ihm aus Dank dafür, dass er ihnen das Leben im Spanischen Bürgerkrieg rettete, das Grundstück auf Lebenszeit zugesichert habe. Die jüngere Generation der Familie hingegen – auch aufgrund der immer schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen – steht den Veränderungen aufgeschlossener gegenüber, während die Kleinsten sich unbekümmert ihren Spielen in der freien Natur hingeben oder bei der Ernte helfen. Das Ensemble besteht aus tatsächlichen Arbeitern und Familien der Region. Zurecht wurde deren Leistung bei der Jurybegründung besonders hervorgehoben. Besonders die Kinder erobern die Herzen des Publikums, allerdings erscheint der Goldene Bär für das mit Sozialkritik und genauer Menschenbeobachtung unterfütterte Sommerdrama doch ein wenig zu hoch gegriffen.

Berlinale 2022 - Silberner Bär für Rabye Kurnaz

Berlinale 2022 – Silberner Bär für Rabye Kurnaz

Der Gewinner der Herzen war dagegen Andreas Dresens RABIYE KURNAZ VS. GEORGE W. BUSH (Pandora), der einen durchaus schwierigen Stoff publikumsfreundlich inszenierte. Dass die Geschichte von Murnat Kurnaz fürs Kino zu harter Tobak ist, schwante Dresen schon früh. Kurnat saß über fünf Jahre in Guantanamo ein, wurde ohne Anklage, ohne Beweise festgehalten und gefoltert, und als er endlich entlassen werden sollte, verweigerte Deutschland die Einreisegenehmigung, weil er seine deutsche Staatsbürgerschaft nicht fristgerecht verlängert hatte. So viel Drama verspricht kein großes Publikum, und so wechselte Dresen die Perspektive und erzählt die Geschichte aus der Perspektive der Mutter Rabiye Kurnaz. Die ist eine wahrer Sonnenschein, immer positiv gestimmt und stets um das Wohl ihrer Kinder bemüht. Dass sie von Murnat seit Jahren nichts mehr gehört hat, bringt sie fast um den Verstand und als sie herausbekommt, dass ihr Sohn in Quantano einsitzt, rennt sie zum nächsten Anwalt, um ihn um einen Besuchstermin zu bitten. Doch das ist erst der Anfang einer Odyssee, die sie bis vor den Supreme Court nach Washington führt. Sprachschwierigkeiten spielen hier keine Rolle, denn jeder versteht auf Anhieb, was diese impulsive Mutter will. Wie eine Löwin kämpft sie um ihr Kind, kein Gegner schreckt sie ab und ganz nebenbei sorgt sie in ihrem Umfeld immer für beste Stimmung. Laila Stieler hat Dresens Idee in ein kongeniales Drehbuch verwandelt, dass von der deutsch-türkischen Comedienne Meltem Kaptan genauso genial umgesetzt wird. Beide Frauen erhielten völlig zu Recht einen Silbernen Bären und werden hoffentlich den Neustart der Kinos nach Corona beflügeln.

Der zweite deutsche Film im Wettbewerb A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe (Port-Au-Prince Pictures) von Nicolette Krebitz musste dagegen abfallen. Sophie Rois spielt hier eine Schauspiel-Lehrerin, die sich in einen viel zu jungen Schüler verliebt. Die amour fou wartet mit viel Charme und Berlin-Kolorit auf und endet erst an der Cote d’Azur. Bis dahin sind dann aber einige verbotene Träume verwirklicht, und wenn das alles auch nicht ernst genommen werden sollte, sprüht es vor Esprit und Eleganz, ging aber letztlich leer aus.

Eine Lobende Erwähnung erhielt Michael Kochs einfühlsames Bergdrama DRII WINTER. In langen Einstellungen erzählt er von Anna und Marco, die in einem entlegenen Schweizer Bergdorf leben. Er ist Flachländer, während sie aus dem hiesigen Dorf kommt. Sie ist geschieden und hat eine kleine Tochter, die Marco akzeptiert hat. Das junge Glück wird von der Dorfgemeinschaft argwöhnisch beäugt, doch der Fremde kann gut anpacken und macht sich schnell nützlich. So findet er Anerkennung und Akzeptanz unter den Bewohnern – jedenfalls bis ein Gehirntumor bei ihm entdeckt wird. Fortan wird er behandelt wie eine Kuh, die nicht schwanger werden kann. Sie ist nutzlos und nimmt den anderen im Stall den Platz weg.

Die Linie - Filmstill

Die Linie

Keinen Preis erhielt DIE LINIE, eine schweizerisch-französisch-belgische Koproduktion mit Beteiligung der Dardenne-Brüder, was schade ist, denn Regisseurin Ursula Meier hätte nach ihrem Erfolg mit WINTERDIEB 2012 für ihr gelungenes Porträt einer dysfunktionalen Familie einen weiteren Silbernen Bären verdient gehabt. Gleich zu Beginn erleben wir hier, wie ein Streit zwischen Mutter und Tochter, in Zeitlupe und unterlegt von klassischer Musik, völlig aus den Fugen gerät. Der Streit endet mit der Einweisung der Mutter ins Krankenhaus, Tochter Margaret (herausragend: Stéphanie Blanchoud) erhält die gerichtliche Auflage, sich ihrem Elternhaus für drei Monate nicht mehr als 100 Meter zu nähern. Eine hellblaue Linie, rund um das Anwesen gezogen, markiert diesen Bannkreis und wird fortan zum regelmäßigen Treffpunkt zwischen Margaret und ihrer Schwester Manon, die im Gegensatz zu den restlichen Familienmitgliedern zwischen den Streitenden vermitteln will. Manon erhält dort sogar weiter Musikunterricht von der Verbannten. Überhaupt ist die Musik ein verbindendes Element bei diesem Familiendrama der unterdrückten und verletzten Gefühle. Margarets Aggressionsproblem, das sich immer wieder auch in außerfamiliären Situationen Bahn bricht und auch ihre Beziehung zu ihrem Freund zerbrechen ließ, rührt von dem berechtigten Gefühl mangelnder Mutterliebe. Denn Christina (intensiv gespielt von Valeria Bruni-Tedeschi) kann nicht verwinden, dass sie ihre Karriere als Konzertpianistin nach der Geburt der Tochter aufgeben musste und ist von uneingestandenen Schuldgefühlen geplagt, nie eine wirkliche Mutter gewesen zu sein. Das Familiendrama besticht mit starken Frauenrollen, pointierten Regieeinfällen und dem adäquaten Einsatz der verschneiten Winterlandschaft, die die Eiszeit zwischen Mutter und Tochter symbolisch widerspiegelt.

Wenn man nach der letzten Vorstellung um 23 Uhr über den Potsdamer Platz streifte, machte der einen eher traurigen Eindruck. Abgesehen vom trüben Wetter, waren die Lichter in den Restaurants längst erloschen und Wehmut beschlich einen, wenn man an alte Zeiten dachte. Genau diesen Zugang wählte auch Ulrich Seidl für seinen Wettbewerbsbeitrag RIMINI (Neue Visionen). Die Geburtsstadt von Federico Fellini war in den 1960er Jahren eine europäische Touristenhochburg. Einige Menschen sind damals hier sehr reich geworden. Manche leben noch immer hier, und fast alles sieht auch noch so aus wie früher, nur das nun alles heruntergekommen, verrostet und vergammelt ist. In verklärter Nostalgie kommen immer noch Touristen von damals, auf der Suche nach den schönsten Tagen ihres Lebens, die sie hier einmal verlebt haben. Ansonsten zieht der Ort eher Gesindel an, der ideale Playground für einen typischen Ulrich Seidl-Film, der sich mal wieder im Prekären suhlt und die Untiefen der bürgerlichen Gesellschaft auslotet. Dass er dabei seinem prekären Personal moralische Wertvorstellungen zugesteht, ist für Seidl ungewöhnlich und wurde von einigen Kollegen als Altersmilde kritisiert. Tatsächlich macht es seinen Film menschlicher und nachvollziehbarer.

Auch Paolo Taviani war im Wettbewerb vertreten, nachdem sein Bruder Vittorio, mit dem ihn eine lebenslange Arbeitsgemeinschaft verband, vor drei Jahren gestorben ist. Wie schon in KAOS dreht sich alles um den italienischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Luigi Pirandello. Der Titel LEONORA ADDIO nimmt Bezug auf einen seiner Romane, erzählt aber nicht dessen Geschichte, sondern ist vielmehr ein Roadmovie, in dem uns Pirandello – oder besser seine Asche – mit auf einen Trip quer durch das frühe Nachkriegsitalien und sein filmisches Gedächtnis, mit Wochenschauen, Amateurfilmen und Fragmenten des Neorealismus nimmt. Seine Asche war während des Krieges in Rom beigesetzt worden, obwohl er sich ausdrücklich eine Bestattung in seiner Heimat Sizilien gewünscht hatte. Nun werden wir Zeuge einer Umbettung unter Aufsicht der amerikanischen Besatzer. Wie schon in CÄSAR MUSS STERBEN (Goldener Bär 2012) gibt Taviani Literatur und Geschichte eine filmische Stimme.

Ein wenig enttäuschend war der einzige amerikanische Wettbewerbsbeitrag CALL JANE (DCM), der das in jüngster Zeit beliebte Filmthema Abtreibung in den Mittelpunkt stellt. Regisseurin Phyllis Nagy wirkte bei ihrem Erstling am Drehbuch von Todd Haynes CAROL mit, was hohe Erwartungen schürte. Doch im Gegensatz zu starken Filmen zum Thema wie den unlängst in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämierten DAS EREIGNIS oder dem noch stärkeren NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER bleibt das Erstlingswerk der renommierten amerikanischen Bühnen- und Drehbuchautorin trotz prominenter Besetzung etwas blass. Der Film spielt Ende der sechziger Jahre, Abtreibungen sind zu dieser Zeit in den USA streng verboten. Ein Problem für die Hausfrau und Mutter Joy (Elizabeth Banks), deren gut situiertes Leben an der Seite eines vermögenden Anwalts durch eine späte Schwangerschaft in Gefahr gerät. Zufällig erfährt sie von der Aktionsgruppe „Die Janes“, die sich angeführt von der taffen Virginia (Sigourney Weaver) zwar illegal, aber sehr erfolgreich für Hilfesuchende ungewollt Schwangere einsetzt. Joy erhält hier die Unterstützung, die sie braucht, und möchte nun ihrerseits der Gruppe helfen. Bald wird aus der braven Hausfrau, ohne dass ihre republikanisch orientierte Familie und ihre Freundinnen davon erfahren, eine engagierte Aktivistin und Frauenrechtlerin, die für das Selbstbestimmungsrecht der Frau nicht nur in ihrem eigenen Leben kämpft. Nagy versucht, ihrem Film eine heitere Note zu geben, was ihn zwar leichter konsumierbar macht, aber auch die Wucht nimmt. Vieles ist allzu glatt gebügelt, die Männer sind recht eindimensional gezeichnet, das Aufeinanderprallen der sozialen Klassen innerhalb der Gruppe hätte besser herausgearbeitet werden können. Schade, denn das Thema ist ja derzeit nicht nur in den USA wieder brandaktuell.

Eröffnet wurde die Berlinale mit PETER VON KANT (MFA) von François Ozon (TROPFEN AUF HEISSE STEINE), der einmal mehr seiner Affinität zu Rainer Werner Fassbinder und seinen Filmen Ausdruck verleiht. Einer von denen hieß DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT und erzählt von einer erfolgreichen Modeschöpferin, die zusammen mit ihrer Sekretärin in einer luxuriösen Wohnung lebt. Nach dem Tod ihres ersten Mannes und dem Bruch ihrer zweite Ehe ist sie einsam. Dennoch behandelt sie ihre schweigsame Sekretärin wie eine Sklavin und demütigt sie regelmäßig. Ein typischer Fassbinder-Stoff um Einsamkeit und Liebe, Obsession und Sadismus, den Ozon einfach umschreibt auf einen erfolgreichen, schwulen Filmregisseur und seinen devoten Sekretär. Damit taucht er tief ein in das Fassbindersche Universum und fügt Oskar Roehlers Erinnerungen an den Filmemacher in ENFANT TERRIBLE eine weitere spielerische Visualisierung zu, die nicht nur als respektvolles Tribut, sondern auch mit einer feinen Ironie glänzt.

Ein ähnlich intensiver Film mit Nachwirkungen ist die spanisch-französische Produktion EIN JAHR, EINE NACHT (Studiocanal) von Isaki Lacuesta. Er folgt dem jungen Pärchen Ramón und Céline ein Jahr lang, nachdem sie ausgerechnet am Abend des Attentats ein Konzert im Pariser Musiktempel Bataclan besucht haben. Der Film basiert auf den Aufzeichnungen des spanischen Bataclan-Überlebenden Ramón Gonzalez, der die traumatischen Ereignisse als Fiktion zu Papier brachte. Lacuestas erzählt nicht linear, vielmehr ist sein Film eine Collage aus Bildern des Erlebten, aus den folgenden Alpträumen und den vielfältigen Versuchen, das Trauma zu überwinden. Das Pärchen macht dabei keine Entwicklung durch, sondern dreht sich ein Jahr lang immer wieder im Kreis um den einen Abend. Am Ende sind wir nicht einmal mehr sicher, ob beide überlebt haben.
Isaki Lacuestas intuitive Regie wechselt ständig zwischen Realismus und Subjektivismus, um das zentrale Paradox der verwundeten Seele zu verdeutlichen: die Notwendigkeit, sich von der Realität der eigenen Erinnerungen zu lösen, um die Wirklichkeit wieder in den Griff zu bekommen. Das alles ist ziemlich verwirrend und hinterlässt ein ratloses Publikum, und dennoch ist die Umsetzung kongenial, wird sie doch am Ende der Aufarbeitung dieses Dramas gerecht und mag uns eine ungefähre Vorstellung von dem psychischen Zustand der Opfer geben.

Charlotte Gainsbourg brilliert in Passengers of the Night

Charlotte Gainsbourg brilliert in Passengers of the Night

Nicht preisgekrönt, doch für uns einer der schönsten Filme des Festivals war THE PASSENGERS OF THE NIGHT von Mikhaël Hers mit Charlotte Gainsbourg in der Hauptrolle, die dem Festival auch einen Besuch abstattete. Sie spielt die frisch von ihrem Mann verlassene Élisabeth, die im Paris der frühen achtziger Jahre vor neuen Herausforderungen steht. Sie muss nun sich und ihre halbwüchsigen Kinder alleine durchbringen und nach jahrelanger „Nur“-Hausfrauentätigkeit einen Job suchen. Die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sind nicht rosig. Als gute Idee erweist es sich, ihrem Bauchgefühl zu folgen und der Moderatorin ihrer titelgebenden Lieblings-Radiosendung spontan einen Brief zu schreiben. Der kommt so gut an, dass sie dort ein, wenn auch schlecht bezahltes, Job-Angebot erhält. Fortan ist sie für die Annahme der Hörer-Anrufe zuständig und wählt aus, welche sie ihrer Chefin Vanda (Emmanuelle Béart) durchstellt, die sich in ihrer nächtlichen Sendung um all die Schlaflosen der Hauptstadt kümmert, die dort ihre Geschichte erzählen und ihre Sorgen loswerden können. Èlisabeths vorherige Verzweiflung weicht vorsichtigem Optimismus, der sich noch verstärkt, als sie zusätzlich einen Teilzeitjob in einer Bibliothek findet und sich eine zarte Liaison mit einem sympathischen Kollegen entwickelt. Von neuem Lebensmut erfüllt, erscheint es ihr selbstverständlich, auch anderen zu helfen. So bietet sie spontan zur Überraschung ihrer Kinder der mit Drogenproblemen kämpfenden jungen Ausreißerin Talulah ein Zimmer in ihrem großflächigen Apartment als Zwischenunterkunft an.
Das alles ist atmosphärisch dicht und angenehm zurückhaltend erzählt, Charlotte Gainsbourg erweist sich einmal mehr als hervorragende Charakterdarstellerin, die den Film an der Seite einer sympathischen Nebendarstellerriege trägt und ihn auch ohne große dramatische Konflikte interessant und spannend macht. Ganz nebenbei ist THE PASSENGERS OF THE NIGHT auch eine nostalgische Erinnerung an das Lebensgefühl der achtziger Jahre, als mit der Wahl Mitterrands Frankreich zu neuen linken Ufern aufbrach. Der Wahlsieg wird zu Beginn des Films euphorisch auf den Straßen gefeiert. Ähnlich wie in Jacques Audiards LES OLYMPIADES (Wo in Paris die Sonne aufgeht), der letztes Jahr in Cannes zu sehen war und nun in unsere Kinos kommt, beschränkt sich Mikhaël Hers auf einen kleinen District rund um die Hochhäuser von Beaugrenelle unweit des Eiffelturms. Ihm gelingt nicht nur eine warmherzige Liebesgeschichte, sondern auch ein warmherziges Stadtteilporträt mit viel Zeitkolorit.

Wie schon Claire Denis konnte auch Denis Côté mit THAT KIND OF SUMMER (Un été comme ça) nicht überzeugen. Der Kanadier folgt drei hypersexuellen Frauen, die 26 Tage in einem ruhigen Haus am See verbringen. Betreut werden sie von einem Sozialarbeiter und einer Therapeutin, die ihnen klarmachen wollen, dass Hypersexualität keine Krankheit ist. So ist denn auch nicht Heilung das Ziel, sondern eher mit dieser Anlage zu leben. Côté gelingt es nicht, uns für sein Thema zu sensibilisieren, und das Schicksal der drei Frauen plätschert immer mehr dahin, wie der still daliegende See. Fürs Kino ist das einfach zu wenig.

Mit Zhang Yimous ONE SECOND war schon 2019 ein chinesischer Film einer der stärksten im Wettbewerb. Das lässt sich auch von RETURN TO DUST behaupten, auch wenn dieser leer ausging. Er erzählt eine ganz einfache, archaische Geschichte um ein junges Pärchen, das durch eine arrangierte Hochzeit zusammenkam und nun ihre eigene Love-Story erfindet. Obwohl die Frau leicht behindert ist, ziehen sie aufs Land und schaffen sich gemeinsam nur mit ihren Händen und dem, was die Natur hergibt, eine Existenz. Aus dem Lehmboden formen sie Steine für ihr neues Haus. Als das fertiggestellt ist, bewirtschaften sie das Land und halten Hühner und Schweine. Ihr Esel leistet die Mammutarbeit, was ihn quasi zum Familienmitglied werden lässt. Gemeinsam leben sie mit den ihnen eigenen Unzulänglichkeiten im Einklang mit der Natur.
Li Ruijun, der bereits 2015 mit RIVER ROAD in der Generation-Sektion in Berlin zu Gast war, ist eine meisterhaft gestaltete, herzerwärmende Fabel gelungen, die vermittelt, dass genau wie das botanische, auch das menschliche Leben Liebe und Pflege benötigt, um gedeihen zu können. Die Idylle wird stets konterkariert von rauen Landschaften und einer es nicht immer gut meinenden Natur, die Ruijun mit einer fesselnden Ästhetik visualisiert. Außerdem schwebt ein schweres Schicksal und das Moderne China – in Form eines Spekulanten – wie ein Damokles-Schwert über dem Glück der beiden.

In der Nebenreihe Encounters haben wir in diesem Jahr wenig entdeckt. Viele Filme waren zu experimentell und zu kopflastig, als dass sie im Kino eine Chance hätten. Ein typischer Vertreter war Jessica Krummachers ZUM TOD MEINER MUTTER (Grandfilm), in dem wir der Protagonistin bis zum bitteren Ende bei der Begleitung ihrer sterbenden Mutter zusehen. Die ist schwer krank und hat beschlossen zu Sterben, verweigert Essen und Trinken. Der Film begleitet die beiden bei diesem Prozess, es ist ein langsamer und friedlicher Vorgang, den die Regisseurin sensibel und detailliert einfängt. Die beiden kommen sich am Totenbett unglaublich nahe, bis sie der Tod trennt. Jessica Krummacher erzählt vom Sterben und vom Loslassen, dem über zwei Stunden lang zuzusehen ist schon hart und irgendwie stellt man sich einen schönen Kinoabend anders vor.

Als Berlinale Special stellte Simon Brückner seine Dokumentation EINE DEUTSCHE PARTEI (Majestic) vor, in dem er uns die rechtsgerichtete „Alternative für Deutschland“, die seit 2017 im Parlament vertreten ist, vorstellt. Dabei gelingen ihm erstaunliche Einsichten ins Innenleben der Partei, dass man sich fragt, wie er hier und da an eine Drehgenehmigung gekommen ist. Von 2019 bis 2021 begleitet er mit kleinem Team einige Politiker und zeigt ihre Arbeit auf drei Ebenen – Bezirk, Land und Bund. Dabei enthält er sich eines jeden Kommentars, führt keine Interviews und dramatisiert nicht, sondern dokumentiert einfach nur das Parteileben, das bald Widersprüche und Risse zeigt. Für ein interessiertes Publikum ist das hochinteressant, für ein normals Kinopublikum eher ermüdend, weshalb sich der Film eher für Sonderveranstaltungen eignet.

Ein wahrer Crowdpleaser ist dagegen der französische Dokumentarfilm DIE EICHE – MEIN ZUHAUSE (X-Verleih), für den sich der Produzent Michel Seydoux, hier in seiner ersten Regiearbeit, mit dem erfahrenen Natur- und Tierfilmer Laurent Charbonnier zusammengetan hat. Ihr Film erinnert ein wenig an den Durchbruch des Films MIKROKOSMOS vor 25 Jahren. Damals erlaubte eine neue Kameratechnik das Eintauchen in die Welt der Gräser und lieferte Bilder, wie wir sie noch nicht gesehen haben. Das gelingt auch Laurent Charbonnier und Michel Seydoux, die nun den Lebensraum einer 210 Jahre alten Eiche erfahrbar machen. Ihr mächtiger Habitus dient nicht nur allerlei Tieren als Schutz und Unterschlupf, wenn die ersten Knospen sprießen oder Eicheln heranwachsen, wird sie auch zu einem wesentlichen Futterspender für die umgebende Tierwelt. Und die ist mannigfaltig, angefangen mit einem roten Eichhörnchen, das quasi durch den Film führt, wir beobachten Mäuse und andere Nagetiere, eine vielfältige Vogel- und Insektenwelt bis hin zu Wildschweinen und weiteren Großtieren. Für sie alle spendet die mächtige Eiche einen ergiebigen Lebensraum. Mit ihnen zusammen folgen wir dem Takt der Jahreszeiten. Dabei inszenieren die Regisseure ausgesprochen kindgerecht, verzichten zum größten Teil auf Szenen vom Fressen und Gefressenwerden und wenn doch, dann beschränken sie sich auf Fehlversuche, die nicht nur eine gewisse Komik, sonderns auch Tempo in den Film bringen. So zum Beispiel wenn ein Bussard einen kleinen Vogel durch den Wald jagd und die Kamera dran bleibt, ähnlich wie in STAR WARS, wenn Luke Skywalker quer durch den Todesstern rast. Überhaupt scheint es für die Kamera keinerlei Grenzen zu geben, egal ob im Vogelnest oder unterirdisch im Mauseloch, überall darf sie in die gute Stube und versorgt uns mit Bildern und Eindrücken, wie wir sie noch nicht gesehen haben. Schon damals in MIKROKOSMOS beeindruckten die Aufnahmen, heute sind sie digital auf der großen Leinwand in einer noch viel besseren Auflösung zu sehen.

Bettina Wegener, Foto: Thomas Otto.

Bettina Wegener, Foto: Thomas Otto.

Ein weiterer deutscher Dokumentarfilm, der viel Freude machte, war im Panorama zu sehen. Lutz Pehnerts BETTINA (Salzgeber) zeichnet den privaten und beruflichen Werdegang der Liedermacherin Bettina Wegner nach, die wegen ihrer kritischen Texte und Äußerungen 1983 von der DDR-Führung ausgebürgert wurde. Vielen ist sie nur durch ihren großen Erfolgssong “Kinder” mit der bekannten Einstiegszeile “Sind so kleine Hände” bekannt, den sie auch zusammen mit Folk-Ikone Joan Baez intonierte. Doch das Gesamtwerk der ebenso humorvollen wie unbequemen Künstlerin reicht weit darüber hinaus. So richtet der Film, unterbrochen von ebenso erhellenden wie amüsanten Interview-Sequenzen mit der inzwischen immer noch auf der Bühne stehenden 75-Jährigen, den Blick auf ihre Lieder quer durch die Jahrzehnte, widmet aber auch ihren zahlreichen Kontakten zur Musik- und Literaturszene besonders in der DDR-Zeit (etwa zu Thomas Brasch, dem Vater ihres ersten Sohnes Benjamin) genügend Raum. So erhalten wir ganz nebenbei eine kleine und sehr authentische Geschichtsstunde, angereichert mit Archivmaterial aus Ost und West, Audiomitschnitte aus ihrem Prozess und zahlreichen Konzertausschnitten. Ein absolut sehenswerter Film, der nicht nur denen Freude machen wird, die sie noch von früher kennen, sondern auch als echter Geheimtipp einem jungen Publikum ans Herz gelegt werden kann, das die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung für allzu selbstverständlich hält.

Der autobiografische Bericht DER PASSFÄLSCHER (X-Verleih) von Cioma Schönhaus wurde bereits 2017 unter dem Titel DIE UNSICHTBAREN – WIR WOLLEN LEBEN (Tobis) verfilmt. Interessant an der Vorlage ist seine Perspektive: Er erzählt von vier jungen Juden, die im Nazi-Berlin nicht länger die Opfer sein wollen und jeder für sich auf seine eigene Art Widerstand leistet und für ein freies unabhängiges Leben kämpft. In der Neuverfilmung hat sich nun Maggie Peren ganz auf Cioma Schönhaus konzentriert, der von Shooting-Star Louis Hofmann gespielt wird. Mit großem Selbstbewusstsein und viel Lebensfreude geht er als Sonnenschein durchs Leben und nutzt sein grafisches Talent zur Fälschung von Pässen, was ihm den Lebensunterhalt und vielen anderen Juden das Leben sichert.
Zwar ist der Stoff unantastbar, aber mit Maggie Perens fernsehhafter Regie erreicht der Film nicht die nötige emotionale Intensität, wirkt meist vergnügt und versucht erst gar nicht die existenzielle Bedrohung der Zeit erfahrbar zu machen. Das alles wirkt wie ein lustiges Abenteuer, das die Protagonisten mit jugendlichen Frohsinn bestehen wollen. Wenn man im Abspann erfährt, dass die meisten von ihnen am Ende im KZ umgekommen sind, ist das vielleicht der einzige wirklich tragische Moment dieses Films.

In der Perspektive Deutsches Kino war ein weiteres Nazi-Drama zu sehen. Auch Saralisa Volm gelingt mit SCHWEIGEND STEHT DER WALD (Alpenrepublik) kein großer Kinofilm, aber immerhin ein ordentlicher Fernsehkrimi. Dabei nutzt sie das Genre, um auf ein Thema hinzuweisen, das nicht oft thematisiert wird: Nach der Befreiung der Konzentrationslager wurden viele Juden auf sogenannte Todesmärsche geschickt, an deren Wegesrändern man heute noch Funde von Knochen toter Juden macht. Todesursache war nicht nur Hunger und Erschöpfung, oft machte auch die hiesige Bevölkerung Jagd auf die Freigelassenen. Volm inszeniert das Thema als eine Art Krimi, in dem sie die Forstpraktikantin Anja in den Oberpfälzer Wald schickt, um ihre Abschlussprüfung zu machen. Hier ganz in der Nähe des KZs Flossenbürg verschwand ihr Vater vor 20 Jahren auf ungeklärte Weise. Jetzt ist sie mit Vermessungsarbeiten beschäftigt und entwickelt sich schnell zur Zeichenleserin des Waldes. Stück für Stück bringt sie Funde einer grausigen Vergangenheit an den Tag, die die Bewohner glaubten sorgfältig beseitigt zu haben. Das ist nicht immer spannend inszeniert, entwickelt aber eine zunehmende Dramaturgie, die uns ein gelungenes Ende präsentiert.

Zum Schluss seien noch ein paar wichtige internationale Produktionen genannt, die als Special Galas zu sehen waren. So etwa DARK GLASSES (Alamode), der uns ein Wiedersehen mit Dario Argento und seiner Tochter Asia bescherte. Zwar erwartet man von dem klassischen Slasher-Film im Giallo-Stil weder Authentizität noch Logik, doch die vielen Ungenauigkeiten und die schlampige Inszenierung machen einen dann doch ärgerlich. Etwas liebevoller hätte Argento schon inszenieren können. Der Spannungsbogen funktioniert jedenfalls und im Finish läuft ein Hund zum Held des Films auf.

Ehrenbär-Preisträgerin Isabelle Huppert in À propos de Joan

Ehrenbär-Preisträgerin Isabelle Huppert in À propos de Joan

Isabelle Huppert ereilte in diesem Jahr das gleiche Schicksal wie Lea Seydoux zuletzt in Cannes. Es hätte ihr großer Auftritt in Berlin werden sollen. Sie wurde mit dem Goldenen Ehrenbären des Festivals für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, erhielt eine begleitende Filmreihe und wäre eine der wenigen Gäste von internationalem Rang gewesen, die vor Ort in der Hauptstadt für Starrummel hätte sorgen können. Doch es kam anders. Sie wurde kurz vor der Anreise corona-positiv getestet und musste zuhause bleiben, bei der Verleihung wurde sie nur kurz per Video zugeschaltet. So blieb als Trost ihr neuer Film À PROPOS DE JOAN (Camino), zwar nicht der beste in ihrer langen Karriere, aber durch seinen verspielten Wechsel von unterschiedlichen Zeitebenen und garniert mit surrealen Elementen vermochte er immerhin streckenweise zu fesseln. Gleich zu Beginn sehen wir sie in der Rolle der erfolgreichen Verlegerin Joan nachts in ihrem Auto unterwegs zu ihrem Landhaus durch den Regen brausen. Plötzlich blickt sie in die Kamera und beginnt uns ihre Lebensgeschichte zu erzählen, nicht chronologisch, sondern in einer Art Bewusstseinsstrom, der gewollte Lücken lässt. Ausgelöst wird dieser Erzählvorgang durch die kurze Wiederbegegnung mit ihrer ersten Liebe Doug, die alte Wunden aufreißt. In diesen hatte sie sich als junges Au Pair Mädchen in Irland verliebt, ein smarter Taschendieb, mit dem sie fortan zu kleinen Diebestouren aufbricht. Als sie auffliegen, trennen sich ihre Wege – und er wird nie erfahren, dass er Vater geworden ist. Joan zieht den Sohn alleine groß. Flügge geworden führt dieser nun sein eigenes Leben. Joan wiederum hat eine neue Liebe gefunden, den aufstrebenden etwas neurotischen Schriftsteller Tim, verkörpert von Lars Eidinger. Als ihr Sohn zu einem Kurzbesuch aus Kanada in sein Elternhaus zurückkehrt, brechen sich weitere Erinnerungen Bahn und mischen sich mit surrealen Träumen und Alpträumen, etwa ein Liebesspiel mit einer Riesenkrake oder ein Kampf vor dem Ertrinken in einem von Nebelschwaden umwobenen Gewässer.

Die vielleicht mutigste Rolle ihres Lebens spielt Emma Thompson in der Komödie GOOD LUCK TO YOU, LEO GRANDE (Wild Bunch) von Sophie Hyde. Auch sie war persönlich nach Berlin gekommen und stellte mit viel Schwung und guter Laune ihr neues Werk mit ungewöhnlichem Sujet vor. Sie spielt die 55-jährige Witwe Nancy Stokes, Religionslehrerin im Ruhestand, die noch einmal zu neuen Ufern aufbrechen will. Weil sie sich in ihrer langjährigen Ehe zu kurz gekommen fühlt, nie einen Orgasmus hatte und mehr kennenlernen will als die Missionarsstellung, engagiert sie kurzerhand den gutaussehenden Sexarbeiter Leo Grande und bestellt ihn in ein Hotel vor den Toren der Stadt. Zunächst ist Nancy so ziemlich alles peinlich, doch als Leo entgegen ihren Erwartungen auch an gepflegter Konversation interessiert ist, kommt man schnell ins angeregte Plaudern – nicht nur über Sexthemen. Und weil die Zeit natürlich viel zu kurz ist, werden schnell weitere Termine ausgemacht. Während der junge Callboy jedoch bei den immer persönlicher werdenden Gesprächen stets die professionelle Distanz zu wahren versucht und auch nicht immer bei der Wahrheit bleibt, überschreitet Nancy irgendwann unbewusst die Grenze zwischen Beruflichem und Privatem, was ein kurzes Zerwürfnis zur Folge hat. Doch natürlich finden die beiden wieder menschlich zueinander. Emma Thompson und Daryl McCormack glänzen in diesem ausschließlich im Hotel spielenden Kammerspiel, und wir verfolgen mit steigendem Vergnügen, wie sich beide immer wieder eloquent aus der Reserve zu locken versuchen. Einzig Nancys Theorie, dass es für jede Generation einen Krieg geben sollte, der für den nötigen gesellschaftlichen Energieschub sorgen und so langweilige Spießer wie etwa ihren Mann oder ihren Sohn verhindern würde, hat in der aktuellen politischen Lage einen makaberen Beigeschmack.

Quentin Dupieuxs Filme sind bekannt für ihre ausgefallenen Storys, in RUBBER war es ein alter Autoreifen, der zu einem neuen, mörderischen Leben erwacht, in DIE WACHE gab es das wohl skurrilsten Polizeiverhör der Filmgeschichte und jetzt sind es Alain und Marie, ein junges Pärchen, das sich in UNGLAUBLICH, ABER WAHR ein Haus in einem Vorort gekauft hat, welches ein unglaubliches Geheimnis birgt. Im Keller gibt es ein Loch, das, wenn man es hinabsteigt, einen um drei Tage jünger macht. Seitdem verschwindet Marie so oft wie möglich im Keller, um wieder jung und schön zu werden. Für Alain bleibt ihr da keine gemeinsame Zeit mehr. Aber auch Alains Chef und bester Freund hat ein intimes Geheimnis. Er hat sich in Japan einen iDick machen lassen, mit dem er alle Wünsche seiner sexsüchtigen Freundin erfüllen kann.
Lustvoll spielt Dupieux mit den Träumen von Männern und Frauen und bietet mit seinen verrückten Geschichten den Schauspielern eine Bühne, auf der sie sich mal so richtig austoben können. Nur der Schluss seiner Filme bleibt oft unbefriedigend, und so lässt er auch diese Parabel auf menschliche Wünsche und Sehnsüchte ins Leere laufen, suggeriert aber immerhin, dass all das, wovon wir träumen, vielleicht gar nicht so wichtig ist und wir vielmehr auf die Natur vertrauen sollten, die unser Leben bereits trefflich eingerichtet hat.

Zuletzt noch ein absoluter Geheimtipp: Als Special Gala war THE OUTFIT (UPI) von Graham Moore mit Mark Rylance in der Hauptrolle zusehen. Rylance spielt einen Maßschneider, der 1956 von London nach Chicago übersiedelte, weil das Aufkommen der Blue Jeans sein Geschäft kaputt machte. Doch auch in Chicago gibt es niemanden, der sich seine teure Maßarbeit leisten kann – außer der Mafia. Alle (Möchtegern-)Gangster treffen sich in seinem Laden, um von ihm Maß nehmen zu lassen. So wird bald aus der edlen Schneiderei ein Hotspot für den Austausch krimineller Informationen. Dabei zeigt der Schneider typisch britische Noblesse und Verschwiegenheit, doch tatsächlich kriegt er alles mit und beginnt bald im Hintergrund gewisse Fäden zu ziehen. Das alles ist mit soviel Grandezza, Cleverness und schwarzem britischem Humor inszeniert, wie wir es seit BRÜGGE SEHEN UND STERBEN nicht mehr gesehen haben.

Auch wenn man mit einem flauen Gefühl nach Berlin gereist ist und diese Berlinale weiß Gott keine normale Berlinale war, kann man am Ende konstatieren: Es hat sich mal wieder gelohnt. Wir haben viele Filme gesehen, mit Kollegen und Kreativen diskutiert und das Gefühl mit nach Hause genommen, dass dies auch in unseren Kinos bald wieder möglich sein wird.