Die 82. Filmfestspiele von Venedig 2025

 

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

Jim Jarmusch mit dem Goldenen Löwen 2025

Jim Jarmusch mit dem Goldenen Löwen 2025, alle Fotos: Biennale di Venezia

In diesem Jahr ging das Filmfestival am Lido von Venedig mit einer Überraschung zu Ende. Jim Jarmusch gewann mit FATHER MOTHER SISTER BROTHER (Weltkino) den Goldenen Löwen. Dabei war er auf keiner Favoritenliste zu finden. Angesichts der vielen brandaktuellen, beeindruckenden und oft auch politischen Filme wirkt Jim Jarmuschs Episodenfilm wie ein Gruß aus vergangenen Zeiten. Irgendwie erinnert das Ganze an COFFEE & CIGARETTES von 2003, diesmal geht es um das Thema Familie, doch bestimmte Dinge kommen in allen drei Episoden vor: Das Auto, Kaffee oder Tee trinken und eine Rolex-Uhr.

Im ersten Teil besuchen zwei Geschwister (Adam Driver und Mayim Bialik) ihren Filmvater, gespielt von Tom Waits, auf dem Land im Nordosten der USA. Der pumpt seine Brut gerne mal an, um sich den ein oder anderen Luxus leisten zu können. Deren Besuch ist daher etwas heikel, weil sie feststellen könnten, dass es ihm so schlecht gar nicht geht und er die finanzielle Unterstützung gern einmal anders verwendet als besprochen. Schade, dass Jarmusch mit dieser Episode beginnt, ist sie doch mit Abstand die stärkste.Tom Waits ist in Bestform und lässt den Sternenkrieger Adam Driver geradezu blass aussehen.

Die beiden folgenden Episoden sind da ungleich belangloser. Wie schon in der ersten Episode ist auch der Besuch der beiden Schwestern (Vicky Krieps und Cate Blanchett) bei ihrer von Charlotte Rampling gespielten Mutter in Dublin von peinlichem Schweigen geprägt. In der letzten Episode besucht ein Zwillingspaar noch einmal die Wohnung ihrer bei einem Flugzeugabsturz umgekommenen Eltern und entdeckt Dinge, von denen sie noch gar nichts wussten.

Mag sein, dass die einzelnen Episoden dieses Triptychons eher belanglos sind, doch Jarmusch gelingt es, sie maximal zu entschleunigen und eine irgendwie beruhigende Stimmung aufzubauen. Beinahe hypnotisiert sinkt man in den Kinosessel und lässt sich entspannen von einem Meister seines Fachs. Klar hätten die meisten aufgrund der starken Konkurrenz an Filmen, die viel zu sagen hatten, politisch manchmal sogar bedrohlich und immer auf der Höhe unserer Zeit waren, sich einen anderen Sieger gewünscht, aber vielleicht kann man das Urteil der Jury auch als Aufforderung verstehen, mal wieder runter zu kommen und die Dinge etwas gelassener anzugehen.

The voice of Hind Rajab gewann den Spezialpreis der Jury, Foto: Kalka

Der bewegendste Film des Festivals: The voice of Hind Rajab gewann den Spezialpreis der Jury, Foto: Kalka

Eigentlich waren sich Presse und Publikum einig und hatten Kaouther Ben Hanias THE VOICE OF HIND RAJAB auf dem Siegertreppchen gesehen. Zumal er für eine neue Form von Filmen stand, eine Art Hybrid aus Dokumentar- und Spielfilm, der es erlaubt, auch Themen zu dokumentieren, von denen man zu wenig Material hat, um daraus einen abendfüllenden Film zu machen. Im Falle der sechsjährigen Rajab gibt es fast gar keine Bilddokumente, aber es gibt ihre Stimme, aufgenommen auf dem Voice-Recorder einer Notrufstation in Ramallah. Rajab ist in dem Auto ihres Onkels gefangen, es steht auf einer Tankstelle in Gaza und wurde vom israelischen Militär beschossen. All ihre Verwandten sind tot, und sie versteckt sich zwischen deren Leichen und greift nach dem Handy, um Hilfe zu rufen. Sie löst eine verzweifelte Rettungsaktion aus. Während die Retter allesamt von Profis gespielt werden, ist Rajabs Stimme echt. Ihr Flehen geht durch Mark und Bein und zeigt uns die Sinnlosigkeit und Unmenschlichkeit dieser modernen Kriegsführung, die sich mehr und mehr gegen Zivilisten wendet. Immerhin wurde dieser einzigartige Film mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

Gut gelauntes Trio: Regisseur Benny Safdie mit Emily Blunt und Dwayne Johnson, Foto: Kalka.

Gut gelauntes Trio: Regisseur Benny Safdie mit Emily Blunt und Dwayne Johnson, Foto: Kalka.

Mit einem Silbernen Löwen für die beste Regie wurde der New Yorker Filmemacher Benny Safdie für THE SMASHING MACHINE (Leonine) ausgezeichnet. Wer hier auf einen Nachfolger von THE WRESTLER gehofft hatte, in dem Mickey Rourke seinerzeit eine grandiose schauspielerische Leistung als alternder Wrestling-Star hinlegte, wurde enttäuscht, denn der Film ist kein Sozialdrama, sondern eher ein Biopic, das der Mixed Martial Arts-Legende Mark Kerr ein Denkmal setzen will.

Safdie verschweigt nicht Kerrs Drogen- und Medikamenten-Missbrauch, thematisiert oft Streitigkeiten mit seiner Freundin und legitimiert zum Schluss jedes Fehlverhalten, weil es zum Wohle des Sports geschieht, auch wenn am Ende Kerrs finanzielle Abhängigkeit vom Erfolg sein Leben bestimmt. In grenzenloser Selbstausbeutung opfert er diesem Sport alles, ohne dabei auf seine Gesundheit oder die Bedürfnisse seiner Mitmenschen zu achten. Leider ist das nicht der Schwerpunkt des Films, der immer dann, wenn es etwas tiefgründiger wird, schnell mit eingestreuten Kampfszenen wieder an die Oberfläche zurückkehrt. So gelingt Safdie ein eindrucksvolles Porträt des Mixed Martial Arts-Sports, der sich aus vielen Kampfsportarten wie Boxen, Wrestling, Ringen u.a. zusammensetzt und seines ersten Superstars Mark Kerr. Das erinnert ein wenig an FIGHT CLUB und der Performance von Brad Pitt und Edward Norton. Jedenfalls meinten viele, dass Dwayne Johnson hier die beste Performance seiner Karriere liefert und avancierte schnell zum ersten Oscar-Anwärter.

Stolzer Preisträger: Toni Servillo mit der Copa Volpi, Foto: Avezz.

Stolzer Preisträger: Toni Servillo mit der Copa Volpi, Foto: Avezz.

Auch wenn viele Dwayne Johnson die Coppa Volpi für den besten Darsteller zugesprochen hätten, ging es völlig in Ordnung, dass Toni Servillo diesen Preis mit nach Hause nahm. Er ist der Lieblingsschauspieler von Paolo Sorrentino und war schon bei seinem internationalen Durchbruch mit IL DIVO (2008) dabei. Damals spielte er den italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, später in LORO auch Silvio Berlusconi. Die italienische Politik zieht sich wie ein roter Faden durch Sorrentinos ganzes Schaffen, und so kann man sein neues Werk LA GRAZIA als sein Alterswerk auffassen, das an die Qualität seiner frühen Werke anschließt. In Anlehnung an Sorrentinos typische Mischung aus Satire, Politik und Selbstbeobachtung spielt Servillo die Rolle seines Lebens, den fiktiven Staatspräsidenten Mariano De Santis. Ähnlich wie der Star-Reporter in LA GRANDE BELLEZZA, der im lärmenden Rom nach Orten der Stille und Kontemplation sucht, sucht De Santis in einem korrupten Politikbetrieb nach den Werten, die unser Zusammenleben einmal bestimmt haben.

Es sind die letzten sechs Monate seiner Amtszeit, in der er es mit einem moralisch komplexen Begnadigungsgesuch zu tun hat: Ein Mann hat seine langjährige Ehefrau umgebracht. Sie hatte Alzheimer im Endstadium und der Täter gibt „Liebe“ als Motiv an. Ist es Mord oder Sterbehilfe, die in Italien auch strafbar wäre? De Santis, von zuhause aus Jurist, fragt seinen Freund, den Pabst, der Sterbehilfe strikt ablehnt, während seine Tochter, die in seine Fußstapfen als Juristin treten will, Euthanasie befürwortet. “Am Anfang folgen die Kinder ihren Eltern, dann gehen sie eigene Wege und am Ende folgen die Eltern den Kindern“, resümiert De Santis am Ende seiner Karriere angelangt.

Während Servillo diese Rolle mit stoischer Grandezza und höflicher Bestimmtheit spielt, gelingen Sorrentino kongeniale Bilder. So bringt sein Lieblingspferd, dem er den Gnadenschuss verweigert, seinen Konflikt um die Sterbehilfe auf den Punkt. Später ist er völlig fasziniert von den Bilder einer Live-Schalte zu einem italienischen Astronauten auf einer Raumstation. Obwohl der Ton ausgefallen ist, steht er gebannt vor dem Übertragungsbild und bewundert die Schwerelosigkeit des Astronauten. Ein Zustand, den er sich wohl auch wünscht: dass alle Last des Amtes von ihm abfalle und kein äußerer Druck mehr seine Leben belaste.

Bastien Bouillon in At Work

Bastien Bouillon in At Work

Ein erfolgreicher Fotograf steigt aus seinem Beruf aus, um Schriftsteller zu werden, und nimmt dafür ein prekäres Leben in Kauf. Der Plot von Valérie Donzellis AT WORK beruht auf tatsächlichen Ereignissen, der Lebensgeschichte des Autors Franck Courtès, festgehalten unter dem Titel „A pied d’oeuvre“.

Zu Beginn treffen wir den 42-jährigen Protagonisten Paul bei seiner Verlegerin, die nach zwei mäßig erfolgreichen Romanen sein nächstes Werk nicht herausbringen will, da es zu pessimistisch und zu fokussiert sei auf sein eigenes Leben. Sie ermuntert ihn, von vorn zu beginnen und einen neuen Ansatz zu wagen. Dumm nur, dass Paul seinen Vorschuss schon fast verbraucht hat. Um an Geld zu kommen, schreibt er sich bei einer Online-Agentur ein, die Gelegenheitsjobs bei Privatleuten vermittelt. Derjenige, der das billigste Angebot macht, bekommt den Job. Die Bandbreite ist groß und reicht vom Spiegel anbringen über Gartenpflege bis hin zum Einreißen einer Wand.

Die ständig wechselnden Aufträge bieten eigentlich ausreichend Gelegenheit für neue Inspirationen, doch der Regisseurin gelingt es nicht, daraus Kapital zu schlagen. Der Stoizismus ihrer Hauptfigur langweilt auf Dauer ein wenig, und auch die Möglichkeit, einen interessanten Einblick in die neue Arbeitswelt des sogenannten Gig-Work zu vermitteln, wird verschenkt. Sehnsüchtig denken wir da an engagierte und aufrüttelnde Filme von Ken Loach oder Mike Leigh. Trotzdem erhielten Valérie Donzelli und Gilles Marchand die Auszeichnung für das beste Drehbuch.

Enzo Brumm in Silent friend - 2025

Enzo Brumm in Silent friend

Der von der Film- und Medienstiftung NRW geförderte Wettbewerbsbeitrag SILENT FRIEND (Pandora) konnte gleich zwei Preise mit nach Hause nehmen. Er erhielt den FIPRESCI-Preis, und die Schweizer Schauspielerin Luna Wedler wurde für ihre Rolle mit dem Marcello-Mastroianni-Preis als beste Nachwuchs-Darstellerin bedacht. Der unter anderem aus Wong Kar Weis IN THE MOOD FOR LOVE bekannte Tony Leung spielt darin erstmals in einem europäischen Film, mit dabei ist auch Bond-Girl Lea Seydoux. Der eigentliche Hauptdarsteller ist jedoch ein uralter Ginkgo-Baum, der im botanischen Garten der Universität Marburg und gleichzeitig im Zentrum einer Geschichte aus drei Zeitsträngen steht, die 112 Jahre umfassen. Dabei wählt die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi in jeder der drei Ebenen eine andere visuelle Form. Während die Jetztzeit in digitalen Bildern eingefangen wird, wählt sie ein körniges 16 Millimeter-Format für die siebziger Jahre und ein kühles Schwarz-Weiß für die Zeitebene Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Zeitebenen werden nicht linear erzählt, sondern kunstvoll miteinander verflochten.

Im Jahr 2020 hat es den chinesischen Neurowissenschaftler Tony Wong aus Hongkong in das pittoreske Universitätsstädtchen verschlagen. Er forscht zum Thema Gehirnfunktionen von Babys, sieht sich aber plötzlich von der Corona-Pandemie ausgebremst und findet sich allein mit einem misstrauischen Hausmeister in einer leeren Uni wieder. Der Ginkgo erweckt sein Interesse und bald richtet sich sein Forscherdrang auf Fragen wie „Haben Pflanzen eine Art Wahrnehmung?” “Können sie Gefühle entwickeln?“ Gemeinsam mit der renommierten Botanikerin Dr. Alice Sauvage versucht er, diese Fragen via Videocalls zu beantworten.

Strahlt auf dem Roten Teppich mit ihrem Preis um die Wette: Luna Wedler

Strahlt auf dem Roten Teppich mit ihrem Preis um die Wette: Luna Wedler

Ähnliche Fragen beschäftigen ein halbes Jahrhundert zuvor die Biologiestudentin Gundula. Sie beginnt mit einer Geranie ein interessantes Experiment. Dabei spannt sie auch ihren schüchternen Kommilitonen Hannes ein, dem sie während zahlloser Gespräche im Garten unter dem Ginkgo näher gekommen ist. Während ihres anstehenden Auslandsaufenthalts soll er auf ihr Studienobjekt aufpassen und ihr Experiment mit einer selbstgebauten Konstruktion fortsetzen. Mehr und mehr wird Hannes in den Bann der Pflanze gezogen.

Schließlich springt der Film in einem dritten Erzählstrang zurück in das Jahr 1908, als die erste weibliche Studentin an der Universität Marburg angenommen wird. Die junge Grete muss jedoch schon einiges an Chuzpe an den Tag legen, um sich bei der arroganten Professorenschaft durchsetzen zu können. Als sie wegen eines nächtlichen Aufenthalts im Botanischen Garten nachts nicht nach Hause kommt, wird sie von ihrer strengen Zimmerwirtin hinausgeworfen und findet Unterschlupf bei einem Fotografen, der sie in die Kunst dieser neuen Technik einführt. Bald findet sie heraus, wie sich mit deren Hilfe die Strukturen von Pflanzen optimal darstellen lassen.

Auch wenn der Film gelegentlich ein wenig zu sehr ins Esoterische abdriftet, schafft er es, eine ganz eigene Magie zu entfalten. Wenn die Kamera die Äste des Ginkgo-Baumes entlang gleitet oder die feinen Linien eines Pflanzenblattes zeigt, verschiebt sich unsere Wahrnehmung und es entsteht ein Geflecht, in dem Pflanzen über eine Art Äther sehr genau ihre Umgebung wahrnehmen können, während wir Menschen sie für komplett emotionslos halten.

Rebecca Ferguson in A House of Dynamite

Rebecca Ferguson in A House of Dynamite

Eigentlich waren die Filme des Wettbewerbs in diesem Jahr von Netflix bestimmt und das nicht nur in Sachen Budget und Besetzung, sondern auch qualitativ. Doch die Jury zeichnete keinen dieser Streaming-Filme aus. Verdient hätten sie es vielleicht schon, so meldete sich zum Beispiel Oscar-Gewinnerin Kathryn Bigelow nach zehn Jahren mit einem Film zurück, der in puncto Sprengkraft, Wucht und Dramatik seinesgleichen sucht. Mit A HOUSE OF DYNAMITE (Netflix) spielt sie dabei eine einfache Frage durch. Was passiert, wenn eines Morgens auf dem Überwachungsradar eine Atomrakete mit Kurs auf die USA geortet wird?

Zunächst wird der Präsident (Idris Elba) informiert, der einen Krisenstab einberuft. Wissenschaftler berechnen den Kurs des Geschosses und errechnen einen Einschlag in Chicago in etwa 18 Minuten. Das Militär hat die zweithöchste Alarmstufe Defcon 2 ausgelöst und zwei Abfang-Raketen auf den Weg gebracht. Starfighter steigen auf.

Wie erzählt man einen Vorgang, der in Realtime 18 Minuten dauert in einem zweistündigen Film? Bigelow beobachtet aus unterschiedlichen Perspektiven und Handlungsebenen. Neben den meist protokollarisch schon vorbestimmten Abläufen haben alle Beteiligten es immer öfter mit nicht vorhersehbaren Situationen zu tun. Da ist es noch klar, dass auf die Gegen-Mobilmachung amerikanischer Atomwaffen, Telefonanrufe aus Russland und China eingehen, aber wen sollte man angreifen, wenn keiner weiss, wo die feindliche Rakete herkommt und wer sie abgeschossen hat? Gegen wen soll sich also diese Mobilmachung richten? Wie kann man sich überhaupt wehren?

Abgesehen von dem hohen Spannungsbogen und der Dynamik, mit der Bigelow die Konfrontation auf die Spitze treibt, beschreibt sie unsere Welt, in der zahlreiche Länder Atomwaffen besitzen, wie ein Haus, das bis zum Dach mit Dynamit gefüllt ist, während die Temperatur stetig ansteigt. So erreicht sie am Ende eine philosophische Dimension, die an Kubricks DR. SELTSAM erinnert.

Jacob Elordi in FRANKENSTEIN

Jacob Elordi in FRANKENSTEIN

Schon wieder eine Frankenstein-Verfilmung? Was sollte da nach POOR THINGS noch kommen?, hatten wir uns am Anfang gefragt, doch Benicio del Toros FRANKENSTEIN (Netflix) zeigte ungeahnte Qualitäten. Der Stoff ist hinlänglich bekannt, Verfilmungen gibt es unzählige und dennoch gelingt es del Toro, die Geschichte auf konventionelle Art neu auszubreiten. Er nimmt sich Zeit, legt trotz aller Effekte den Schwerpunkt auf das Erzählerische und führt uns so nah an den Kern des Werks, dass wir es in der heutigen Zeit wiederentdecken können.

Auf der Pressekonferenz wurde del Toro gefragt, ob sein Monster eine Metapher für KI sei. Er verneinte lächelnd und erklärte, dass er vor künstlicher Intelligenz keine Angst habe, dafür aber vor menschlicher Dummheit. Und das trifft es schon eher, denn was dem Monster in seiner Begegnung mit Menschen widerfährt, ist neben Gewalt, Ausgrenzung und Hass vor allem Dummheit. Und irgendwie scheint das die Brücke zur heutigen Zeit zu sein, wo die Menschheit sich mehr und mehr weigert, aus Fehlern zu lernen und lieber unreflektiert irgendwelchen von Megalomanen erhobenen Doktrinen hinterherläuft.

Wie bei Mary Shelley erzählt Del Toro den Klassiker in zwei Episoden. Einmal aus der Sicht des egozentrischen Wissenschaftlers Viktor Frankenstein und dann aus der Sicht des Monsters, das wegen seiner Unvollkommenheit die Liebe seines Schöpfers verliert.

Wir alle haben das Recht, unperfekte Menschen zu sein”, so del Toro in Venedig, “Das ist für mich sehr biografisch, und ich denke, das ist es für alle Menschen, die ihre Seele bewahren wollen in der heutigen Zeit.“

George Clooney in Jay Kelly

George Clooney in Jay Kelly

Mit den Unzulänglichkeiten eines fiktiven Filmstars beschäftigt sich JAY KELLY (Netflix) von Noah Baumbach. Der Protagonist, ein erfolgreicher Schauspieler, wird gespielt von George Clooney, der am Ende seiner Karriere ein wenig wehmütig darauf zurückblickt. Während er vor all seinen Trophäen steht, denkt er an die Opfer, die er bringen musste und zweifelt, ob es das wert war. Fällt seine berufliche Karriere-Bilanz auch positiv aus, stellt sich das privat schon ganz anders dar. Zwei geschiedene Ehefrauen und zwei Töchter, zu denen er kaum Kontakt hat, sind keine stolze Bilanz. Und so kommt er auf die Idee, seine jüngste Tochter auf ihrem Italien-Trip zu begleiten. Die reagiert zwar wenig begeistert, weiß aber auch, dass man ihren Vater nicht abhalten kann von Dingen, die er sich in den Kopf gesetzt hat. Doch zu einer familiären Annäherung kommt es auf dieser Reise kaum, schließlich folgt dem Filmstar zwangsläufig sein Manager (Adam Sandler) und so sind die beiden mal wieder mehr mit sich selbst beschäftigt als mit den wirklich wichtigen Dingen im Leben, so dass am Ende auch Kellys Manager an seinem Lebenswerk zweifelt und entscheidet, künftig eigene Wege zu gehen.

Ein konventioneller Film, der angesichts seines Regisseurs einfallsreicher hätte ausfallen können. George Clooney spielt hier nach außen den ewigen Sonny Boy. Mit breitem Lächeln beherrscht er aber auch die deprimierenden Momente und trägt den Film im Alleingang. Schön zu sehen, dass er es noch drauf hat.

Im August noch in Venedig, im September kam er zum Überraschungsbesuch ins Atelier-Kino: Jesse Plemons, hier mit Emma Stone, Foto: Salvi

Im August noch in Venedig, im September kam er zum Überraschungsbesuch ins Atelier-Kino: Jesse Plemons, hier mit Emma Stone, Foto: Salvi

Yorgos Lanthimos schmiedet sein Eisen, solange es heiß ist. Seit dem phänomenalen Erfolg mit POOR THINGS dreht er Hollywood-Filme im Jahresrhythmus. Die Finanzierung scheint kein Problem mehr zu sein und seine Lieblings-Darstellerin Emma Stone ist auch immer dabei. In BUGONIA (Netflix) spielt sie eine Außerirdische und sorgte in Venedig für Gesprächsstoff, als sie auf die Frage, ob sie an Aliens glaube, scherzhaft antwortete: “‘Die Idee, dass wir allein sind, halte ich für eine ziemlich narzisstische Sache.” Damit spielte sie auf die Theorien des amerikanischen Astronomen Carl Sagan an.

Emma Stone spielt Don Michelle, eine mächtige CEO eines amerikanischen Unternehmens. Ihr Widersacher, der Imker, Darknet-Aktivist und Verschwörungstheoretiker Teddy (Jesse Plemons) glaubt nicht nur an Aliens, sondern ist sich sicher, dass Don Michelle ein solches ist und macht sie für das Bienensterben verantwortlich. Doch damit nicht genug. Er glaubt, dass sie noch weit Böseres im Sinn hat. So überredet er seinen etwas debilen Cousin, gemeinsam das so übermächtige außerirdische Wesen zu entführen. Das gelingt zwar, aber was dann folgt, ist Chaos pur, ein Spektakel mit merkwürdigen Wendungen, explosiver Gewalt, Ausbrüchen von Slapstick und satirischen Seitenhieben en masse. Wenn Lanthimos dabei gelegentlich die Story aus den Augen verliert, macht das gar nichts, denn es ist ein Vergnügen, Emma Stone und Jesse Plemons bei diesem durchgeknallten Höllenritt zuzusehen.

 

Zum ersten Mal in Venedig: Julia Robers beim Autogrammeschreiben, Foto: Jacobo Salvi.

Zum ersten Mal in Venedig: Julia Robers beim Autogrammeschreiben, Foto: Jacobo Salvi.

Nicht bei Netflix, dafür aber bei Amazon ist Luca Guadagninos neuer Film AFTER THE HUNT (Sony). Für seinen begabten Landsmann hält Festivaldirektor Alberto Barbera immer einen Platz im Wettbewerb frei. Doch da wollte Guadagnino gar nicht starten, weil ihm das seiner Meinung nach bei seinem letzten Film QUEER kein Glück gebracht hat. So startete er außer Konkurrenz und brachte seine Hauptdarstellerin Julia Roberts erstmals an den Lido.

Es geschah in Yale“, verkündet der Prolog und bedient sich damit einer Phrase wie aus einem Woody Allen-Film und imitiert auch noch dessen Artwork. Ausgerechnet Woody Allen zu zitieren, um einen Film über einen Fall von sexuellem Missbrauch zu machen, ist schon eine ziemliche Provokation, deren Sinn sich nicht komplett erschließt. Wie auch nicht der vorliegende Fall. Der sexuelle Missbrauch wird nicht gezeigt, nicht aufgeklärt, nicht einmal klar adressiert. Eine ganz klare Grenze soll ein College-Professor überschritten haben und die Musterstudentin Maggie will diesen Vorfall öffentlich machen. Dafür wendet sie sich an Alma Imhoff (Julia Roberts), die weibliche Aushänge-Professorin dieser doch immer noch so patriarchalischen Universität, deren Biederkeit vielleicht wegen ihrer bescheidenen Größe und Übersichtlichkeit besonders auffällig ist. Hier hat sich Alma Imhoff mit Disziplin und Strenge hochgearbeitet und ist nun eine anerkannte Kollegin, deren Kleidung schon ihr Bestreben untermauert, sich stromlinienförmig in den Universitätsbetrieb einzuordnen und nicht weiter auffallen zu wollen. Ausgerechnet an Alma wendet sich Maggie und stürzt sie damit in einen Konflikt, den sie nicht auflösen kann. Nicht nur, dass sie mit dem angeklagten Professor befreundet ist und auch der ihren Rat sucht, Alma wird plötzlich zum Angelpunkt der Universität und die unterschiedlichsten Gruppierungen verlangen von ihr eine Stellungnahme. Dass zudem ihr Vertrag demnächst verlängert werden muss, erhöht den Druck, doch der wahre Grund, warum diese Angelegenheit so an ihr zehrt, liegt in ihrer Vergangenheit…

Letztendlich bläst Guadagnino den Fall enorm auf, beleuchtet ihn von allen Seiten und arbeitet am Ende einen deutlichen Generationenunterschied heraus, wie Frauen heute mit solchen Übergriffigkeiten umgehen, die frühere Generationen gar nicht als Verfehlung erkannt hätten.

Der Zauberer vom Kremlin: Jude Law zu Gast in der Lagunenstadt

Der Zauberer vom Kremlin: Jude Law zu Gast in der Lagunenstadt

Ebenfalls außer Konkurrenz lief Olivier Assayas THE WIZARD OF THE KREMLIN, in dem Jude Law als Putin und Paul Dano als dessen wichtigster Berater zu sehen sind. Als Grundlage dient der erst 2022 erschienene Roman „Der Magier des Kreml“ von Giuliano da Empoli, der Ex-Berater der italienischen Regierung war und als politischer Sachbuchautor sein Geld verdient. Seine Figur von Putins fiktiven Berater Vadim Baranov ist an den realen Putin-Chefideologen Wladislaw Surkow angelehnt.

Assayas inszeniert ihn als eine Art Spin-Doktor, der uns eine Einführung in das Einmaleins der Macht gibt und erklärt, warum alle Despoten dieser Welt so an ihrem Job hängen. Denn längst ist nicht mehr Geld gleich Macht, es ist der Job, der einem diese Macht garantiert. Hat man ihn erst einmal verloren (siehe Angela Merkel) ist auch die Macht weg und umgekehrt verfrachtet Putin seine schwerreichen Oligarchen quasi nach Belieben in den Präsidentenpalast oder wenn sie unbequem werden nach Sibirien.

Assayas Film ist kein Biopic über Putins Werdegang und auch kein Film über Macht an sich. Er ist eine Reflexion über moderne Methoden der Staatsführung und den Nebel, hinter dem sie sich heute verbirgt: zynisch, betrügerisch und toxisch. Verwurzelt in realen historischen Ereignissen, erklärt uns Paul Dano mit unschuldiger Miene die heutigen Werkzeuge der Massenmanipulation und -verzerrung, die mit einer Präzision eingesetzt werden, die einst unvorstellbar war. In diesem Sinne ist laut Assayas selbst sein Film nicht einmal ein politischer Film, sondern vielmehr ein Film über Politik – und die Perversität ihrer Methoden, die uns heute alle in Angst und Schrecken versetzen.

In the hand of Dante

In the hand of Dante

Zu einem großen Wurf setzte auch Julian Schnabel mit IN THE HAND OF DANTE an, konnte aber weder bei der Kritik noch bei der Jury punkten. Oscar Isaac spielt hier eine Doppelrolle: den italienischen Schriftsteller Alighieri Dante zu seiner und den New Yorker Journalisten Nick zur heutigen Zeit. Letzterer schwadroniert gerne in Bars von seiner Lieblingslektüre “Die göttliche Komödie“, die Ersterer im 14. Jahrhundert geschrieben hat. Nick gibt sich als Dante-Fachmann aus, was die Mafia auf den Plan ruft. Denn das angeblich verschollene Originalmanuskript des epochalen Romans wurde im Vatikan gefunden und Obergangster Joe Black (John Malkovich) will es stehlen. Mit dem Schlägertypen Louie (Gerard Butler) hat er schon einen Mann fürs Grobe gefunden, und nun will er Nick überzeugen, die wissenschaftliche Authentifizierung des Manuskripts zu leiten. Der willigt ein und gibt sich fortan als Historiker aus und erhält so Zugang zu allen Bibliotheken und deren verschlossenen Räumen.

Dieser Teil des Films gestaltet sich als ein Heist-Movie von ungeheurer Spannung und schauspielerischer Wucht, die das Zeug zum Kultfilm gehabt hätte. Doch Schnabel mischt in diese Geschichte Szenen aus dem Mittelalter in unterschiedlichem Format, die einen Dante zeigen, der sich erstmals politisch engagiert, in ein 13-jähriges Mädchen verliebt und ansonsten über den Sinn des Lebens rätselt. Diese Szenen unterbrechen nicht nur die Wucht des ganzen Films, sondern finden auch durch Dopplungen der Rollen im Jetzt und Damals zu einer merkwürdigen Vermischung der jeweiligen Charaktere. Gewaltverbrechen stößt auf poetische Leidenschaft, könnte man sagen, nur dass das alles keinen Sinn macht und der philosophische Teil den Action-Teil komplett ausbremst und ein genervtes Publikum hinterlässt.

Dead Man's Wire

Dead Man’s Wire

Ein scheinbar immer beliebter werdendes Genre ist das True Crime-Format, zu dem man Gus van Sants DEAD MAN’S WIRE mit Bill Skarsgård in der Hauptrolle zählen darf. In Form einer Satire erzählt er mit vielen komödiantischen Elementen eine 63-stündige Geiselnahme, die den Geiselnehmer Tony Kiritsis landesweit bekannt machte. 1977 betrat er eine Hypothekenbank in Indianapolis und befestigte eine abgesägte 12-Gauge-Schrotflinte mit einem speziellen Drahtgestell am Hals seines Opfers und an seinem eigenen Körper. Diese Konstruktion namens ‘Dead Man’s Wire’ hat den Effekt, dass im Falle seiner Niederstreckung durch einen Scharfschützen auch das Opfer erschossen wird. Kiritsis’ Beweggründe: Er fühlte sich von seiner Bank bei einem Immobiliengeschäft betrogen. Daher forderte er neben einem Lösegeld als Entschädigung auch Straffreiheit und eine Entschuldigung der Bank. Eigentlich hoffte er, den Bankchef – Al Pacino in einem süffisanten Kurzauftritt – höchstpersönlich anzutreffen. Doch dieser lässt es sich gerade in Florida gutgehen, und so nimmt er stattdessen dessen Sohn Richard als Geisel. Bald wird die Geiselnahme zum live übertragenen Medienspektakel.

Leider bleibt van Sant trotz der guten darstellerischen Leistungen seines Ensembles zu sehr an der Oberfläche seiner angedeuteten Kapitalismuskritik. Die Beweggründe seines Protagonisten sind wenig fundiert, so dass er nicht als ernstzunehmendes Kleine-Leute-Opfer einer Großbank, die ihre Kunden über den Tisch ziehen will, sondern eher als konfuser Schwurbler erscheint. So vernachlässigt van Sant seinen sozialkritischen Ansatz zunehmend zugunsten pointierter Dialoge, eines ausschweifenden Siebziger-Jahre-Settings mit zahlreichen Anspielungen an die amerikanische Filmgeschichte und eines zugegebenermaßen kongenialen Soundtracks.

Valeria Golino und Saul Nanni in Gioia

Valeria Golino und Saul Nanni in Gioia

Als Sozialdrama inszeniert dagegen der Italiener Nicolangelo Gelormini seinen True Crime-Fall LA GIOIA, was im Deutschen „Die Freude“ bedeutet. Gioia heißt auch die Protagonistin des Films, eine Französischlehrerin in der Provinz, deren Leben eher weniger von Freude geprägt ist. Mittleren Alters lebt sie immer noch bei ihren Eltern, ihre Abende verbringt sie meist mit ihnen auf der Couch vor dem Fernseher. Als sie eine heimliche Beziehung beginnt mit Alessio, einem ihrer Schüler, scheint endlich etwas Glück in ihr Leben zu kommen. Doch die Affäre endet mit einem Mord, der eng angelehnt ist an ein Verbrechen, das sich 2016 in Turin ereignete und für landesweites Aufsehen sorgte.

Gloria Rosboch hieß das Opfer, die Tat begangen hatte, gemeinsam mit seinem älteren Geliebten Roberto Obert, ihr ehemaliger Schüler Gabriele Defilippi, ein frühreifer Jugendlicher, der nebenher als Callboy arbeitete, um damit seine allein erziehende Mutter finanziell zu unterstützen. Beide schoben sich die Schuld gegenseitig zu. Das Tatmotiv: Defilippi hatte Gloria um 187.000 Euro betrogen, indem er ihr eine gemeinsame Zukunft an der französischen Riviera versprochen hatte. Er überzeugte sie, ihre Ersparnisse in eine Schein-Immobiliengesellschaft zu investieren. Als sie den Betrug erkannte, drohte sie mit einer Anzeige und besiegelte damit ihr Schicksal.

Obwohl Gut und Böse hier klar verteilt zu sein scheinen, macht es sich Gelormini nicht ganz so einfach. Die Entwicklung der Beziehung zwischen Gioia und Alessio wirkt durchaus glaubhaft, auch dank der überzeugenden schauspielerischen Leistung, vor allem Valeria Golinos. Sie empfindet zum ersten Mal so etwas wie Liebe und sieht eine Chance, ihrem tristen Alltag zu entkommen, und auch Alessios Zuneigung ist zunächst ehrlich. Doch letztlich dominiert die Macht des Geldes und lässt keinen Platz für romantische Gefühle.

Barbara Ronchi spielt eine Mörderin in Elisa, Foto: Salvi.

Barbara Ronchi spielt eine Mörderin in Elisa, Foto: Salvi.

Eine weitere True Crime Story liefert Leonardo Di Costanzos Film ELISA, der auf Studien der Kriminologen Adolfo Ceretti und Lorenzo Natali beruht, die sich mit den Ursachen von brutalen Gewaltverbrechen beschäftigt haben. Die Protagonistin Elisa ist dafür ein ideales Musterbeispiel. Die 35-jährige hat bereits zehn Jahre einer Haftstrafe abgesessen für ein Verbrechen, das der unscheinbaren, stillen Frau niemand zutrauen würde. Sie hat ihre ältere Schwester umgebracht und verbrannt. Sie selbst kann sich ihren Angaben nach nicht mehr an die Tat erinnern. Nun lebt sie in einer eher an Urlaub erinnernden Rehabilitationseinrichtung mit kleinen Hütten in einem alpinen Waldgebiet und hat sich bereit erklärt, an einem Forschungsprojekt teilzunehmen, das Taten ihrer Art zu erklären versucht.

Der Film begleitet diesen Prozess, vor allem ihre Interviews mit Dr. Alaoui, der sie auf den schmerzhaften Weg zur Wahrheit führt. Und diese ist, wie sich erweist, banaler als gedacht. Gewalttätige Tendenzen schlummern potentiell in jedem von uns, letztlich keine neue Erkenntnis, was die zahllosen Fälle beweisen, bei denen die Stillen, Unauffälligen, harmlos Wirkenden zu schlimmsten Taten fähig sind. Wer sich auf ELISA einlässt, muss Geduld aufbringen. Das ist nicht jedermanns Sache und ob sich dies lohnt, muss jeder für sich entscheiden. Ein wenig mehr Spannung und Tiefe hätte es aus unserer Sicht aber schon sein können.

Benjamin Voisin in Der Fremde

Benjamin Voisin in Der Fremde

Francois Ozon legte mit DER FREMDE (Weltkino) eine Romanverfilmung vor. Er verfilmte Albert Camus’ Klassiker der Weltliteratur, was ihm nach eigenem Bekunden einigen Mut abverlangte. Schließlich ist es das meistgelesene Buch in Frankreich und fast alle seine Landsleute kennen es und werden seinen Film mit dem Original vergleichen. “Diese Vorstellung bewirkte bei mir einen enormen Respekt. Aber am Ende war mein Interesse an dem Stoff stärker als meine Bedenken”, erklärte er in Venedig.

Tatsächlich gibt er dem Roman eine eigene Note. In grobkörnigem Schwarzweiß gedreht versucht er dem unscheinbaren Angestellten Meursault näherzukommen. Der junge Mann zeigt keinerlei Emotionen, obwohl seine Mutter gerade gestorben ist, er sich frisch verliebt hat und nun wegen Mordes an einem Einheimischen vor Gericht steht. Das alles scheint ihn nicht zu bewegen, bei der Beerdigung kann er nicht trauern, seiner Freundin nicht seine Liebe gestehen und für den Mord gibt es nicht einmal ein Motiv. Diese Emotions- und Interesselosigkeit ist es am Ende, die ihm vor Gericht zum Verhängnis wird.

Doch während Camus den Handlungsort Algier nur als Hintergrund benutzt, spiegelt Ozon den französischen Kolonialismus jener Zeit wider. Seine Schwarzweiß-Bilder bringen uns nicht nur die 1930er Jahre näher, er nutzt sie auch für einige wunderschöne künstlerische Aufnahmen. Ansonsten erleidet sein Film allerdings ein ähnliches Schicksal wie sein Protagonist, denn dessen Emotionslosigkeit und Desinteresse übertragen sich auch auf den Film und vermitteln dem Zuschauer am Ende ein Gefühl von gepflegter Langeweile.

Valeria Bruni Tedeschi in Duse

Valeria Bruni Tedeschi in Duse

Pietro Marcellos Biopic DUSE erinnert ein wenig an Pablo Larraíns MARIA. Erzählte Larraín von den letzten Tagen im Leben der Operndiva Maria Callas, so nimmt sich Marcello die letzten Jahre der Theater-Diva Eleonora Duse vor. Ihre große Zeit ist längst vorbei, doch in den 1920er Jahren nach dem 1. Weltkrieg und dem aufkommenden Faschismus, folgt sie einem Drang, der stärker ist als jede Resignation und kehrt dorthin zurück, wo ihr Leben begann: auf die Bühne. Sie will nicht nur spielen, sie will sich behaupten, in einer sich massiv verändernden Welt und finanzielle Unabhängigkeit erringen. Tatsächlich schafft sie es bis zu einer Audienz beim Duce, der ihr eine feste Staatspension verspricht, was sie in einen Widerspruch stürzt. Nur mit ihrer Kunst bewaffnet, trotzt sie der Zeit und Ernüchterung und hat es schwer, Schönheit gegen die Brutalität von Macht und Geschichte zu verteidigen. Im Gegensatz zur glamourösen Verfilmung von Pablo Larraín, benutzt Marcello grobkörnige, sepiafarbene Bilder, um die Düsternis der Zeit einzufangen, aber auch den morbiden Charme eines Venedig aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ich wollte kein Biopic drehen,” erklärte der Regisseur in Venedig, “sondern die Seele einer Frau, einer Künstlerin, in einer Zeit großer historischer Umbrüche zeigen und dabei Themen ergründen, die mir am Herzen liegen: einerseits die Rolle des Künstlers angesichts von Tragödien wie Krieg, Armut und Schmerz; andererseits die möglichen Facetten der Beziehung zwischen Kunst und Macht.”

Mads Mikkelsen (l.) und Nikolaj Lie Kaas in The last Viking

Mads Mikkelsen (l.) und Nikolaj Lie Kaas in The last Viking

Niemand macht Filme wie Anders“, erklärte Mads Mikkelsen auf der Pressekonferenz zu Anders Thomas Jensens neuem Film. „Für mich sind sie sehr poetisch, wunderschön und von totalem Wahnsinn durchdrungen.” So auch THERAPIE FÜR WIKINGER (Splendid / Neue Visionen), der von zwei Brüdern erzählt, die unter schwierigen Umständen mit einem übergriffigen Vater aufwachsen mussten. Anker bekam dabei die meisten Schläge ab, was ihn nur härter machte. Härte, die er gut gebrauchen konnte, um sich und seinen etwas zurückgebliebenen Bruder Manfred durchs Leben zu bringen. Doch nach einem Banküberfall muss Anker ins Gefängnis, während Manfred die Beute versteckt. Als er nach verbüßter Haftstrafe wieder nach Hause kommt, trifft er auf einen missmutigen Bruder, der ihm seine lange Abwesenheit nicht verzeihen will.

Bankräuber, eine Paraderolle für Mads Mikkelsen, denkt man sofort, doch er spielt den anderen Bruder, etwas debil, still beobachtend, aber im Geheimen auch messerscharf kalkulierend. Wegen seines unsicheren Auftretens und seiner unpassenden Frisur – eine Dauerwelle, die nach Mikkelsens Angaben seinem Sexleben nicht zuträglich war – wird er von allen Beteiligten unterschätzt und kann so klammheimlich die Fäden in dieser durchgeknallten Komödie ziehen, die die sich um das Thema Identität dreht und einfach nur Spaß macht.

Lee Byung-hun in No other choice

Lee Byung-hun in No other choice

Heiß erwartet war auch Park Chan-wooks neuestes Werk NO OTHER CHANCE (Plaion), der schon in Cannes starten sollte, aber nicht fertig wurde. Der Koreaner, dem 2003 mit OLDBOY der internationale Durchbruch gelang, hat sich den amerikanischen Krimi „The Axe“ des amerikanischen Krimi-Asses Donald E. Westlake zur Vorlage genommen. “Ich wollte unbedingt was von Westlake verfilmen, schließlich hat er meinen Lieblingsfilm POINT BLANK geschrieben, und tatsächlich konnte ich mich gut mit dem Protagonisten identifizieren, der meint, dass es das Wichtigste in der Welt ist in einer Papierfabrik zu arbeiten, denn als Filmemacher denke ich genauso.”

Mit diesen Worten „We’re sorry. We have no other choice.“ verliert Familienvater You Man-su nach über 25 Jahren loyaler Arbeit seinen heiß geliebten Job. Für ihn bricht eine Welt zusammen, und er befürchtet auch Konsequenzen für sein Familienleben. Panisch bewirbt er sich auf immer neue Jobs, doch immer gibt es Mitbewerber. Als er bei einem Vorstellungsgespräch gedemütigt wird, schmiedet er einen bestialischen Plan.

Was bis hierhin noch ein globales Thema war, überführt Park Chan-wook in ein asiatisches Action- und Gewalt-Kino, wie wir es von ihm kennen. Mit Anklängen an Bong Joon-hos Cannes-Gewinner PARASITE, lässt er seinen Protagonisten ausrasten und die unliebsamen Konkurrenten auf immer brutalere Art beseitigen, bis er am Ende seiner Frau gegenübersteht, die ihm erklärt, dass nicht Arbeitslosigkeit das Problem ist, sondern die Art und Weis,e wie man mit ihr umgeht.

Scarlet

Scarlet

Aus Japan kam SCARLET (Sony), ein neues Anime von Mamoru Hosoda (BELLE und MIRAI), das mal wieder in einer Zwischenwelt spielt. Alles beginnt ein wenig wie bei Shakespeare. Scarlet, eine junge Prinzessin, muss ansehen, wie ihr Onkel ihren Vater tötet, um selbst König zu sein. Fortan konzentriert sie sich auf das Erlernen etlicher Kampfkünste, doch bei der ersten Begegnung mit ihrem Onkel kann sie den Tod des Vaters nicht rächen, weil dieser sie schon längst vergiftet hat. So gelangt sie in eine andere Welt, in der Raum und Zeit aufgehoben sind. Alle hier sind der Meinung, zu früh gestorben zu sein und wer sich damit abfindet, löst sich quasi auf und verschwindet im Nirgendwo. Scarlet, die aus dem 15. Jahrhundert kommt, gelingt es, Freundschaft mit einem Sanitäter aus dem modernen Japan zu schließen. Sie werden ein gutes Team, Scarlet kann ihn mit ihren Kampfkunst beschützen, während er sich um ihre Wunden kümmert.

Hosada kreiert hier ein imposantes Zwischenreich, das geprägt ist von Macht und Gewalt und wo irdische Kämpfe weiter geführt werden. Dieses Zwischenreich, das wir vielleicht als Fegefeuer bezeichnen würden, trägt deutliche Züge unsere heutigen Welt, wo demokratische Züge oder auch der Gedanke eines friedlichen Miteinanders verloren scheinen, zu Gunsten autokratischer Interessen, die von einzelnen gegen die Massen durchgesetzt werden. Denen aber bleibt bei Hosada das Himmelreich verschlossen und Scarlet erhält eine zweite Chance, wenn sie begreift, dass es neben ihrem Rachestreben noch weitere Werte in ihrem Leben gibt. Ihr Sanitäter ist da ein guter Lehrer, wenn er auch immer im Kampf versagt, lehrt er sie Werte wie Nächstenliebe und Mitgefühl.

Seit Hosada die Ghibli-Studios verlassen hat, produziert er seine Filme mit Geld aus Hollywood, was sie lauter, gewalttätiger, effektlastiger, kurz mainstreamiger macht, sie aber auch an Charme und Authentizität verlieren lässt.

Gilles Lellouche und Adèle Exarchopoulos in Zone 3 (Chien 5)Gilles Lellouche und Adèle Exarchopoulos in Zone 3 (Chien 5), Copyright Cédric Bertrand - 2025 - Chi-Fou-Mi Productions- Studiocanal - France 2 Cinéma - Jim Films

Gilles Lellouche und Adèle Exarchopoulos in Zone 3 (Chien 5)

Den Abschluss der diesjährigen Mostra bildete ZONE 3 (Studiocanal), ein dystopischer Science Fiction Film von Regisseur Cédrik Jimenez nach dem gleichnamigen Roman von Laurent Gaudé. Er bildet den dritten Teil einer Trilogie zum Thema Strafverfolgung, die mit BAC NORD begonnen und mit NOVEMBER fortgesetzt wurde. Der Krimi spielt im Paris des Jahres 2045. Die Stadt ist in drei Zonen aufgeteilt. In Zone 1 lebt die Oberschicht wie in einer schwer bewachten Gated Community, in Zone 2 geht es schon wesentlich rauer zu, während in Zone 3 das Chaos der Straße herrscht. Die Zonen werden von der KI Alma mittels bewaffneter Drohnen kontrolliert. Alle Bewohner sind verpflichtet, ein Armband zu tragen, das für permanente Überwachung sorgt und unbefugte Grenzüberschreitungen verhindert. Als der Erfinder von Alma ermordet wird, werden der Polizist Zem aus Zone 3 und die Agentin Salia aus Zone 2 gemeinsam auf den Fall angesetzt.

Jimenez nimmt Anleihen an großen Vorbildern wie BLADE RUNNER oder MINORITY REPORT, ohne an deren Innovationskraft heranzureichen. Dennoch ist der Film durchaus unterhaltsam, kann eine illustre Besetzung vorweisen (Gilles Lellouche, Adèle Exarchopoulos, Romain Duris, Valeria Bruni Tedeschi und Louis Garrel), ist flott inszeniert und nimmt Bezug auf aktuelle Themen.

Closed-up: Seymour Hersh 1975 in seinem Büro in Washington/New York Times

Closed-up: Seymour Hersh 1975 in seinem Büro in Washington/New York Times

Außer Konkurrenz waren dann noch einige interessante Dokumentarfilme zu sehen, was zu einem Wiedersehen mit Laura Poitras (CITIZENFOUR) führte, die 2022 den Goldenen Löwen für ihren Dokumentarfilm ALL THE BEAUTY AND THE BLOODSHED gewann. Nun legte sie mit ihrem Co-Regisseur und Longtime-Produzenten Mark Obenhaus COVER-UP vor, einen Dokumentarfilm über das Vermächtnis des investigativen Journalisten und Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh. Sei es das My Lai-Massaker in Vietnam, der Watergate-Skandal, der Irak-Krieg und Abu Ghraib, der Anschlag auf die Nord Stream-Pipeline oder der Gaza-Krieg – immer waren es seine Recherchen und Berichterstattungen, die entscheidende Hinweise gaben und an der Aufklärung mitwirkten.

20 Jahre hat es gedauert, bis Hersh den beiden Filmemachern seine Erlaubnis gab, einen Film über ihn zu machen. Ihnen ist ein packendes Zeitdokument gelungen, das die Leidenschaft des inzwischen 88-Jährigen deutlich spürbar macht. Ein Appell auch für uns, engagierten Journalismus auf der Suche nach der Wahrheit zu unterstützen – als Gegenmittel gegen Fake-News und Machtmissbrauch. Nach seiner Premiere in Venedig zog der Film weiter nach Toronto, Telluride, New York, London und fünf weiteren Festivals in der ganzen Welt.

Marc by Sofia - Marc Jacobs und Sofia Coppola bei den Dreharbeiten

Marc by Sofia – Marc Jacobs und Sofia Coppola bei den Dreharbeiten

MARC BY SOFIA ist Sofia Coppolas erster Aufschlag im Genre des Dokumentarfilms. Sie nennt es ihren Versuch, das Schaffen des erfolgreichen Modedesigners Marc Jacons einzufangen, mit dem sie seit Jahren befreundet ist. Dabei konzentriert sie sich – im Gegensatz etwa zu den Dokus über Alexander McQueen oder John Galliano – auf das rein Berufliche. Begleitet werden die Vorbereitungen zur Präsentation seiner Frühjahrskollektion 2024, ergänzt durch Rückblicke auf seine Anfänge wie sein Projekt als Student an der Parsons School of Design oder seine Grunge Collection für Perry Ellis, an die sich 16 erfolgreiche Jahre bei Louis Vuitton anschlossen. Inspiration erhielt Jacobs bei seinen Kollektionen von einflussreichen Künstlern und Regisseuren wie Barbra Streisand, Liza Minnelli, Andy Warhol, Rainer Fassbinder oder Bob Fosse. Das persönliche Leben des Designers bleibt eher im Hintergrund, trotz oder gerade wegen seiner engen Freundschaft zu Coppola, die seiner Privatsphäre hier Respekt erweist. Schöne Bilder und interessante Einblicke in die Modebranche machen die Doku auf jeden Fall sehenswert.

Marianne Faithfull in Broken English

Marianne Faithfull in Broken English

Jane und Iain Pollard haben ihr Talent für intelligente Musik-Dokus zuletzt mit ihrer Nick Cave-Film 20.000 DAYS ON EARTH bewiesen und legten nun in Venedig nach: BROKEN ENGLISH ist ein innovatives Doku-Biopic über Marianne Faithfull. Die im Januar 2025 verstorbene Sängerin konnte sich hierbei noch einmal voll einbringen. Der Film entstand mit ihrer direkten Mitwirkung. In einem fiktiven „Ministry of Not Forgetting“, dessen Aufgabe es ist, Wahrheiten und Mythen und den schmalen Grat zwischen beiden zu untersuchen, wird sie von einem Archivar befragt und mit Archivmaterial konfrontiert – unter der Aufsicht seiner strengen von Tilda Swinton gespielten Chefin. Die noch von ihrer Covid-Erkrankung gezeichnete Faithfull hat sichtlich Spaß an der Demontage so einiger Klischees, derer sie sich über Jahrzehnte hinweg ausgesetzt sah. Immer wieder wurde sie reduziert auf die “Ex-Freundin von Mick Jagger”, obwohl sie 35 Musikalben, zahllose Bühnenauftritte und Filmrollen vorweisen konnte. Ihre Rechte als Co-Autorin für den Song “Sister Morphine” musste sie sogar erst gerichtlich erkämpfen, bevor sie in der US-Ausgabe des Stones-Albums Sticky Fingers mit genannt wurde. Als bewegender Höhepunkt dieses ungewöhnlichen Projekts können wir ihre letzte Studioaufnahme miterleben: ihr Song “Misunderstanding” aus dem Album “Negative Capability”, gemeinsam dargeboten mit Nick Cave und Warren Ellis.

Bob Dylans Auftritt auf dem Newport Folk Festival

Bob Dylans Auftritt auf dem Newport Folk Festival

Eine weitere Musik-Doku, die mit Aufmerksamkeit bedacht wurde, ist Robert Gordons NEWPORT AND THE GREAT FOLK DREAM mit Material vornehmlich aus den Jahren 1963 bis 1966. Natürlich ist auch der Auftritt Bob Dylans mit elektrischer Gitarre 1965 ein wichtiger Teil – der den Clash zwischen Folk-Puristen mit Kräften, die das Genre modernisieren wollten, thematisiert. Vornehmlich aber fokussiert der Film auf die Darstellung des Festivals als Melting Pot, bei dem sich Künstler der verschiedensten Musikrichtungen – von weißen Country-Musikern bis hin zu schwarzen Blues- und Gospel-Interpreten – und deren Fans begegnen können.

Ich möchte mit dieser Doku auch klar machen, wie wichtig Diversität für die Demokratie ist und dass diese Musikfestivals für die gegenseitige Verständigung und Anerkennung ein ausgezeichneter Nährboden waren”, so Gordon. Mit einer Fülle von fast 70 Music-Acts – darunter noch nicht gezeigtes Material von Bob Dylan, Joan Baez, Johnny Cash, Maria Muldaur, Howlin’ Wolf und Mississippi John Hurt – zahllosen Interviews und Dokumenten zum Zeitgeschehen ist dieser Film ein Highlight nicht nur für Folk-Fans.

Werner Herzogs Ghost Elephants

Werner Herzogs Ghost Elephants

Werner Herzog begleitet in seiner neuen Doku GHOST ELEPHANTS Dr. Steve Boyes, der seit einem Jahrzehnt im Hochland Angolas, einem bewaldeten Plateau – praktisch unbewohnt, aber so groß wie England – nach einer geheimnisvollen Herde von Geisterelefanten sucht. Sie sind besonders groß und scheinen nur in der Mythologie der Ureinwohner und dem Vorstellungsvermögen einiger Großwildjäger zu existieren. Zusammen mit Fährtenlesern aus Namibia will Dr. Boyes sie ausfindig machen, um sie biologisch zu klassifizieren und die Stammes-Mythologie, dass sie Vorfahren der Menschen sind, widerlegen.
Herzog unterlegt die zum Teil geradezu mythischen Bildern mit seiner eigenen larmoyanten Stimme, die zunächst als Erzähler fungiert und mit der Zeit zum ironischen Kommentar wird, die den Sinn dieser von Anfang an zum Scheitern verurteilten Expedition in Frage stellt und ganz unscheinbar den Konflikt zwischen Wissenschaft und Mythologie bedient.Werner Herzog begleitet in seiner neuen Doku GHOST ELEPHANTS Dr. Steve Boyes, der seit einem Jahrzehnt im Hochland Angolas, einem bewaldeten Plateau – praktisch unbewohnt, aber so groß wie England – nach einer geheimnisvollen Herde von Geisterelefanten sucht. Sie sind besonders groß und scheinen nur in der Mythologie der Ureinwohner und dem Vorstellungsvermögen einiger Großwildjäger zu existieren. Zusammen mit Fährtenlesern aus Namibia will Dr. Boyes sie ausfindig machen, um sie biologisch zu klassifizieren und die Stammes-Mythologie, dass sie Vorfahren der Menschen sind, widerlegen.

Carmen Maura in Calle Malaga

Carmen Maura in Calle Malaga

Zuletzt sei noch ein kleines Juwel aus der Nebenreihe “Venice Spotlight” erwähnt. Der Filmtitel CALLE MALAGA (Pandora) bezieht sich auf eine Straße in Tanger, in der fast ausschließlich Spanier leben. Sie sind damals vor dem Krieg, vor den Nazis oder vor Franco hierher geflohen und bilden heute noch eine kleine spanische Diaspora. Zu dieser Gemeinschaft gehört auch die 79-jährige Maria (Carmen Maura), die hier schon geboren wurde. Sie lebt allein in der Wohnung, in der sie ihr ganzes Leben verbracht und ihre Tochter großgezogen hat. Ihr Mann ist gestorben und ihre Tochter lebt in Madrid und hat ihre eigenen Probleme. Insbesondere finanzielle Probleme sind es, weshalb sie nach Tanger kommt, um ihrer Mutter mitzuteilen, dass sie die Wohnung, die auf ihren Namen läuft, verkaufen muss. Ihre Mutter soll ins Altersheim, das für in Tanger Geborene kostenlos ist. Widerwillig geht Maria auf den Wunsch ihrer Tochter ein, stellt aber schon nach wenigen Tagen fest, dass sie so ihr Leben nicht beenden will. Sie nimmt den Kampf gegen die eigene Tochter an, zieht wieder zurück in ihre Wohnung und will sich hier nie wieder vertreiben lassen. Dass sie sich damit ins Unrecht setzt, macht sie mit Courage und Spontanität wieder wett und bietet ihrer Tochter eine kinogerechte Schlacht.

Carmen Maura spielt diese Maria mit Stolz und Würde in einer sehenswerten Altersrolle. Und wenn manche Szene den Rand der Glaubwürdigkeit streift, macht sie das mit ihrem Charme wieder wett und plädiert empathisch und überzeugend für Seniorenrechte.

Insgesamt kann man sagen, dass das so vielversprechende Line-Up des diesjährigen Festivals Entdeckungen wie Enttäuschungen bot. Doch die kinotauglichsten Filme kamen eindeutig von den Streamingdiensten. Sie, allen voran Netflix, überzeugten mit spannenden Themen, den besten und bekanntesten Schauspielern und den größten Budgets. Sie legten Filme vor, die an den Kinokassen der Welt hunderte Millionen Dollar einspielen könnten, doch meist nur ein kleines Kinofenster und kaum Marketing zugeteilt bekommen. Das ist ein Verlust für die weltweite Kinobranche, der sich zumindest im kommenden Jahr kaum ausgleichen lässt.