Festa del Cinema di Roma 2022

17. Festa del Cinema di Roma 2022

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

Das Logo des Festivals

Wenn die Tage kürzer und das Wetter schlechter wird, geht es mit den Besucherzahlen im Kino wieder aufwärts. Genau dann startet in Rom die Festa del Cinema, die in diesem Jahr mit einer neuen Leiterin aufwartete. Paola Malanga hat in ihrem ersten Jahr Bewährtes übernommen, aber auch einiges geändert und so das Festival upgedatet und auf internationales Niveau gebracht. Sie hat wieder einen Wettbewerb eingeführt, morgens gibt es reguläre Pressevorstellungen mit anschließendem Gespräch mit den Filmschaffenden.

Auch Schülerinnen und Schüler besuchen in Scharen das Filmfest.

Auch Schülerinnen und Schüler besuchen in Scharen das Filmfest.

Weiterhin pflegt sie die Zusammenarbeit mit ‘Alice nella Città’, die tausende von Schulkindern des Morgens auf den ‘Parco della Musica‘ führt. Allein das ist schon ein beeindruckendes Bild und wer einmal eine solche Schulvorstellung im ausverkauften größten Festivalsaal  miterlebt hat, ist beschämt über die meist vernachlässigte Schulkino-Arbeit in Deutschland. Die Kinder laufen über den Roten Teppich, überfluten die Kinos und gehen dermaßen mit, dass es beim finalen Kuss schon mal frenetischen Szenenapplaus gibt. Danach steht dann das Filmteam Rede und Antwort. Ein Regisseur meinte einmal, dass er eine 20-stündige Flugreise aus Australien hinter sich hätte und erst vor wenigen Stunden angekommen sei, aber allein für diesen Applaus hier hätte sich das schon alles gelohnt.

 

Die Programmauswahl hatte in diesem Jahr vier Schwerpunkte: 

 

  • Italienische Filme

Wie in jedem Jahr lag ein Schwerpunkt auf dem Italienischen Film, der sich in diesem Jahr erstaunlich kinotauglich präsentierte. Gingen in früheren Jahren die besten italienischen Filme immer nach Cannes und weitere nach Venedig, blieb für Rom oft nur der Rest, der sich in diesem Jahr aber sehen lassen konnte.

Allein LA DEVINA COMETA, eine Begegnung von Dantes Inferno mit der neapolitanischen Schifffahrtsgesellschaft, angelehnt an das in Italien so berühmte Theaterstück „Christmas in Cupiello’s House“ schien ein wenig komplex und fernsehhaft verquast, konnte man aber als intellektuelle Fingerübung des Modernen Theaters durchgehen lassen. Viele italienische Stars, wie z.B. Toni Servillo und Sergio Rubini gaben sich hier die Ehre. Das sorgte für volle Kinos, wenn auch die eine oder der andere vorzeitig in eine nahe gelegene Hosteria flüchtete.

Darsteller aus IL MALEDETTO

Die Darsteller aus IL MALEDETTO stellten ihren Film persönlich vor.

Auch IL MALEDETTO ist die Adaption eines historischen Stoffes. Der italienische Schauspieler und Regisseur Giulio Base hat Shakespeares Macbeth in die kargen Hügel Apuliens verlegt, wo die Mafia einen blutigen Machtkampf ausfechtet. Angestachelt von seiner Frau, meuchelt einer der Gangster den Mafia-Boss und ernennt sich selbst zum neuen Führer. Dass das nicht gut ausgeht, wissen wir schon aus dem Original. Unter den Gangstern rumort es: Missgunst, Rache, Egoismus, es gibt viele Gründe, die karge Landschaft vor Blut triefen zu lassen. Giulio Base setzt dies mit einem (schwer-)gewichtigen Hauptdarsteller (Nicola Nocella) und seiner sanguin, todeshungrigen Lady Macbeth (Ileana D’Ambra) eindrucksvoll und aus dem Bauch heraus in Szene. Fürs Arthaus vielleicht ein wenig zu gewalttätig, aber hundert Prozent Kino.

Auch IL PRINCIPE DI ROMA greift auf eine klassische Erzählung zurück. Regisseur Edoardo Falcone hat Charles Dickens ‘A Christmas Carol’ ins Rom des frühen 19. Jahrhunderts verlegt. Ein Marquis, selbst einmal Findelkind, ist zu Reichtum gelangt und will nun mitteis Geld in eine Adelsfamilie einheiraten. Er verfolgt sein Ziel skrupellos auf Kosten seiner Mitmenschen. Doch Rom ist auch ein Ort der verlorenen Seelen, und so schickt ihm seine verstorbene Mutter drei Geister, die ihn wieder auf den rechten Weg zurückführen. Von Weihnachten befreit spielt dieser Film zur gleichen Zeit wie der Roman, doch in einem antiken Rom, das mit allerlei Schauwerten und viel Humor sympathisch und akkurat in Szene gesetzt wird. Auf die Frage bei der Pressekonferenz, ob der Regisseur jemanden kennt, dem er den Besuch solcher Geister wünsche, antwortete er spontan: “Ich würde all denen, die nicht zur letzten Wahl gegangen sind, gerne einen solchen Geist schicken.”

Caravaggios Schatten: Riccardo Scamarcio, Isabelle Huppert, Michele Placido, Louis Garrel (v.l.)

Riccardo Scamarcio, Isabelle Huppert, Michele Placido, Louis Garrel (v.l.)

Mit ALLEIN GEGEN DIE MAFIA ist Michele Placido als Schauspieler berühmt geworden. Seit vielen Jahren versucht er sich auch als Regisseur. Blieb ihm diesbezüglich ein internationaler Durchbruch versagt, so könnte das mit seinem neuen Film DER SCHATTEN CARAVAGGIOS gelingen. Michelangelo Merisi (aka Caravaggio) war vielleicht der beste, aber sicher der bedeutendste Maler des Mittelalters. Doch was für ein Mensch war er? Diese Frage stellte sich Michele Placido bereits 1968, als er noch auf der Kunsthochschule war. Wir alle wissen von dem Raufbold und dem Totschläger, der aus Rom verbannt wurde, doch das, was wirklich hinter diesen Gerüchten steckt, ist kaum bekannt. Auch Placido weiß das nicht, deswegen ist sein Film auch kein Biopic, sondern eher eine Art Krimi, für den er eine neue Figur erfand: den Schatten Caravaggios. Der ist ein Ermittler, den Papst Paul V. einsetzte, als Caravaggio aus der Verbannung nach Neapel floh, wo seine größte Gönnerin, die Comtesse Colonna, residierte. Ihr Begnadigungsgesuch sollte eigentlich eine sichere Sache sein, doch der Papst zweifelt, ob der Mensch, der hinter diesem genialen Künstler steckt, wirklich in Rom geduldet werden sollte. Zu viel hat Caravaggio schon auf dem Kerbholz und so setzt er einen Ermittler ein, der fortan seinen Wegen folgt und seine Freunde, wie auch seine Feinde, besucht, um sich ein Bild von dessen Lebenswandel zu machen. Dabei kommen politisch-kirchlicher Gehorsam und künstlerische Freiheit miteinander in Konflikt und der eher konservative Ermittler, den Louis Garrel nach seinen Worten als Faschist angelegt hat, steht in Kontrast zu der kunstliebenden Comtessa Colonna, die in dem angeblichen Totschlag eine Handlung aus Notwehr sieht.

Wer am Ende Recht hat, bleibt offen, aber Placido verglich Caravaggio auf der Pressekonferenz in Rom mit Pasolini, der ebenfalls vom Land nach Rom kam und in seinen Filmen Laiendarsteller aus dem Prekariat besetzte. Die Ärmsten der Armen saßen auch für Caravaggio Modell und gelangten so als Heilige in seine Bilder und sind noch heute in unseren Museen zu bewundern. 

Die Filmcrew des Films IL COLIBRI

Die stattlich zum Filmfest angereiste Filmcrew des Eröffnungsfilms Films IL COLIBRI

Francesca Archibugi ist normalerweise ein Venedig-Regular, stellte aber in diesem Jahr den Eröffnungsfilm in ihrer Geburtsstadt und arbeite für ihren neuen Film IL COLIBRI mit vielen bekannten Schauspielern zusammen, die es nicht nehmen ließen, das Podium auf der Pressekonferenz beinahe platzen zu lassen. Ein wahres Heimspiel inszenierten sie auf dem Roten Teppich und Nanni Moretti erzählte, dass dies bereits sein fünfter Film als Schauspieler mit Archibugi sei, und er es liebe; sich einfach nur auf seine Rolle zu konzentrieren und den ganzen Regie-Stress einfach hinter sich zu lassen.

IL COLIBRI basiert auf der Novelle ‘Der Kolibri’ (2019) von Sandro Veronesi, der die Regisseurin selbst für die Verfilmung seines inzwischen in 25 Sprachen übersetzten Buches vorgeschlagen hatte, weil sie Probleme der Mittelschicht in ihren Filmen so einfühlsam und nachvollziehbar umsetzen kann.

Im Zentrum des Werkes stehen Leben, Lieben und Traumata des Protagonisten Marco Carrera (Pierfrancesco Favino), die in Vor- und Rückblenden von den siebziger Jahren bis in die Gegenwart erzählt werden. Einen wichtigen Teil nimmt seine Beziehung zu seiner Nachbarin Luisa Lattes (Bérénice Bejo) ein, die rein platonisch bleibt, aber ihn sein Leben lang prägt. Auch die anderen Frauen in seinem Leben, etwa seine selbstmörderisch veranlagte Schwester und seine spätere Ehefrau Marina, die ihn wegen eines anderen verlässt, nehmen einen wichtigen Teil ein. Mit Hilfe eines Psychoanalytikers (Nanni Moretti) lernt er, sein Leben in den Griff zu bekommen und Veränderungen zu akzeptieren. Die Erzählstruktur mit ihren fortlaufenden Sprüngen in verschiedene Zeitebenen macht es dem Zuschauer nicht immer leicht, sorgt aber auch für eine gewisse Lebendigkeit, die den Film durchaus sehenswert macht.

Einen Naturfilm ohne Worte legte Egidio Eronico mit AMATE SPONDE (Sky) vor. Eine beeindruckende Bildershow, die verschiedene Gesichter Italiens zeigt. Anfangs die schönen, dann immer öfter die hässlichen. Leider gibt es keinen Kommentar und auch einen roten Faden konnte man nicht ausmachen, so dass man einer Dia Show ausgeliefert ist, die quer durch Italien zappt, durch Städte, Landschaften, Industrie und Landwirtschaft, Mensch und Tier. Leider weiß man nie so recht, wo man ist, und so bleibt auch die Message des Regisseurs eher kryptisch. Letztlich stellt er das schöne Italien dem hässlichen gegenüber mit einer eher negativen Tendenz. Abgesehen von den zum Teil großartigen Bildern ist das schwierig für ein Publikum jenseits Italiens. Schade, denn im Fernsehen werden die tollen Bilder verpuffen.

 

  • Festival-Jahresauslese
Auditorium Parca della Musica - Roter Teppich

Auditorium Parca della Musica – Roter Teppich

Eine bunte Mischung von Filmen, die in diesem Jahr auf diversen Festivals reüssierten, bildeten einen weiteren Schwerpunkt. Der Cannes-Gewinner TRIANGLE OF SADNESS und CORSAGE für den Vicky Krieps in Cannes als Beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, waren oder sind in den deutschen Kinos bereits zu sehen. 

COUPEZ! (dt. Titel FINAL CUT, Weltkino) hat in diesem Jahr das Festival in Cannes eröffnet und wurde bereits dort zwiespältig aufgenommen. Er beginnt mit einem sinnlosen Blutbad, das in 20-minütiger Länge gezeigt wurde und sich an dem japanischen Splatterfilm ONE CUT OF THE DEAD orientiert. Erst danach zeigt der Film die Entstehungsgeschichte dieses Takes und wird zu einer ironischen Komödie über einen Filmdreh, bei dem nach einer Folge von Pleiten, Pech und Pannen am Ende ein reichlich überdrehter Splatterfilm im Kasten ist. COUPEZ bedeutet übersetzt Schnitt, womit natürlich in erster Linie das Blutgemetzel, aber auch der Filmschnitt gemeint ist, wie es der internationale Titel FINAL CUT auf den Punkt bringt.

Louis Garrel gehörte nicht nur der Jury an, die über die besten Filme entschied, sondern hatte gleich vier Filme im Gepäck und legte einen bemerkenswerten Auftritt für Presse und Publikum hin. Wie schon in CARAVAGGIOS SCHATTEN war er auch in L’ENVOL (dt. Titel SCARLET, Piffl) zu sehen, in dem er einen jungen Piloten spielt. Im Mittelpunkt steht der junge Soldat Raphaël, der aus dem 1. Weltkrieg zurückkehrt. Der muss erfahren, dass seine Frau gestorben ist und ihm das Baby Juliette hinterlassen hat. Die Schwiegermutter bietet ihm Kost und Logis und Hilfe bei der Großziehung des Mädchens an. So besorgt er sich einen Job in der Holzverarbeitung, wofür er zwei goldene Hände hat. Doch bald kommt er hinter ein Geheimnis, das mit dem Tod seiner Frau zu tun hat, und nimmt Rache. Seitdem wird die Familie von der Dorfgemeinschaft gemieden. Raphaël verliert seinen Job, die Schwiegermutter wird als Hexe verfemt und die heranwachsende Juliette für verrückt erklärt. Nur eine alte Frau hält zu ihr und weissagt dem Mädchen, dass sie irgendwann ein Schiff mit purpurnen Segeln abholen und davontragen wird.

Pietro Marcello inszenierte diesen Film als freie Adaption des Romans „Das Purpursegel“ von Aleksandr Grin, als altmodische Fabel im Normalformat in Sepia-Tönen mit historischen Aufnahmen aus den 20er Jahren. Dabei hat er die universelle Liebesgeschichte nach Nordfrankreich verlegt und die Geschichte leicht verändert, um sie moderner zu machen. Erstmals drehte er mit Profi-Schauspielern, die improvisieren durften, aber in der Zeit bleiben mussten. Der Film wirkt streckenweise märchenhaft und sorgt mit seinem Musical-Touch für ein angenehmes Kinoerlebnis.

Louis Garrel

Louis Garrel

In LES AMANDIERS (internationaler Titel FOREVER YOUNG) spielt Garrel das Alter Ego von Patrice Cheréau im Film seiner Ex-Freundin Valeria Bruni Tedeschi. Hierin verarbeitet sie ihre eigenen Erlebnisse in Cheréaus gemeinsam mit Pierre Romans geführter Schauspielschule am Théâtre des Amandiers in Nanterre, die sie einige Zeit besucht hat. So spielt der Film auch Ende der achtziger Jahre. Er verfolgt das Leben von vier jungen Leuten um die 20, die hier ihr Glück versuchen. Ein wenig erinnert er an Alan Parkers FAME, die französische Variante ist allerdings nicht so kitschig. Liebevoll widmet sie sich den unterschiedlichen Charakteren, ihren Erfahrungen mit dem Leben und der Liebe an einem entscheidenden Punkt ihres Lebens. Der jugendliche Überschwang der jungen Leute ist einnehmend, Louis Garrel als ihr Lehrmeister gibt sich zuweilen ein wenig zu exzentrisch.

Zuletzt lief noch seine vierte Regiearbeit L’INNOCENT, in dem er ein Händchen für komische Momente und absurde Situationen beweist. Er selbst spielt Abel, den Sohn der 60-jährigen Silvie, die sich bei einem Schauspiel-Workshop im Gefängnis unsterblich in den Häftling Michel verliebt. Der steht kurz vor seiner Entlassung nach einer fünfjährigen Strafe wegen bewaffnetem Raubüberfall. Der seiner Mutter liebevoll zugetane Abel ist alles andere als begeistert von der Beziehung, erst recht nicht, als sich Silvie fest entschlossen zeigt, Michel zu heiraten. So spannt er einen Bekannten ein, um die Hochzeit zu hintertreiben, doch das geht gründlich schief. Bald sieht er sich gemeinsam mit seiner Freundin, die ihn seit langem versucht zu motivieren, mehr Risiken im Leben einzugehen, unfreiwillig in wilde Verfolgungsjagden verwickelt. Die gelungene Mischung aus Komödie, Romanze, Thriller und Familiendrama ist ein Publikumspleaser, der im Arthaus-Bereich erfolgreich sein könnte.

Um das Gleichgewicht zwischen Politik und Kirche geht es in BOY FROM HEAVEN (X-Verleih) von Tarik Saleh (DIE NILE HILTON AFFÄRE), der in Cannes für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Für Adam, Sohn eines einfachen Fischers, geht mit einem Stipendium für die renommierte al-Azhar-Universität in Kairo ein Traum in Erfüllung. Sie ist das Epizentrum der religiösen Macht Ägyptens, doch als der Direktor gleich zu Semesterbeginn vor den Augen seiner Studenten zusammenbricht und stirbt, beginnt ein Machtkampf um die zukünftige geistige Führung, in dessen Strudel auch Adam gerät. Von einem dubiosen Regierungsbeamten als Informant angeworben, gerät er nicht nur zwischen die Fronten der religiösen und politischen Eliten des Landes, sondern auch in Lebensgefahr. Wenn am Ende der Wille des Staatspräsidenten durchgesetzt ist, will man ihn loswerden. Immerhin darf er sich entscheiden zwischen Todesstrafe und lebenslanger Haft. Doch er ist nicht bereit, das ihm von Gott vorgesehene Schicksal zu akzeptieren und beginnt, die einzelnen Parteien gegeneinander auszuspielen.

Es ist nicht immer ganz klar, ob Tarek Saleh einen politischen Thriller oder eine Innenansicht des religiösen Machtapparates machen wollte. Irgendwie ist ihm beides gelungen und das im faszinierenden Umfeld der weltweit größten religiösen Universität al-Azhar in Kairo, was dem Film Spannung und Tempo verleiht. Am Ende jedenfalls müssen kirchliche und weltliche Kräfte zu einem Kompromiss kommen und die Korruption in den eigen Reihen überwinden. Dass es dabei zu Kollateralschäden kommt, wird gerne als gottgewolltes Schicksal in Kauf genommen.

 

  • angloamerikanische Filme
Auditorium Parca della Musica - Blick in den Saal

Auditorium Parca della Musica – Blick in den Saal

Einen anglo-amerikanischen Schwerpunkt hatte Rom schon immer und kann dabei in der Regel auf eine breite Palette interessanter Filme zurückgreifen, die es, warum auch immer, nicht auf eines der europäischen Festivals geschafft haben. Dazu kommt offensichtlich ein besonders gutes Verhältnis zur römischen Filiale von Universal, die es immer wieder mit überraschenden Highlights versorgen. So in diesem Jahr mit der Europapremiere von THE FABELMANS (UPI). Ähnlich wie Kenneth Branagh zuletzt in BELFAST verarbeitet Steven Spielberg hier seine eigene Kindheit. Das semibiographische Werk ist eine behutsame Coming of Age-Geschichte, die die Begeisterung eines kleinen Jungen (Sammy) für das Medium Film ins Zentrum stellt, die ihm hilft, das Leben mit all seinen Katastrophen zu verarbeiten. 

Seine Eltern entfachen seine Liebe zum bewegten Bild, als sie ihn Anfang der fünfziger Jahre als Kind zum ersten Mal mit ins Kino nehmen, um THE GREATEST SHOW ON EARTH zu sehen. Der darin enthaltene spektakulär inszenierte Zug-Crash mit einem Auto fasziniert den kleinen Sammy so sehr, dass er sich von seinen Eltern eine Modelleisenbahn wünscht. Heimlich stellt er die Szene nach und seine Mutter Mitzi animiert ihn dazu, das Ganze mit einer kleinen Kamera zu filmen. So kann sich ihr Sohn die Szene immer wieder anschauen, ohne das wertvolle Spielzeug zu gefährden. Bald filmt der Junge, wo er nur kann, zum Beispiel Western-Szenen mit seinen Freunden in der Schule oder das ganz normale Familienleben. Diese Filmchen sind es aber auch, die ihm beim Schneiden durch die immer vertraulicher werdenden Gesten und Blicke zwischen Benny und seiner Mutter bald bewusst werden lassen, dass die Ehe seiner Eltern sich dem Ende zuneigt.

Spielberg schrieb das Drehbuch zusammen mit Tony Kushner, mit dem er auch schon die WEST SIDE STORY und MÜNCHEN  umgesetzt hatte. Gemeinsam mit dem hervorragenden Cast, darunter Hauptdarsteller Gabriel Labelle, Paul Dano und Michelle Williams als seine Eltern sowie David Lynch in einer furiosen Gastrolle als John Ford, gelingt Spielberg ein berührender und zuweilen poetischer Film über die Magie des Kinos. Gleichzeitig hat er auch eine Liebeserklärung an seine Eltern geschaffen, denen er durch eine differenzierte Charakterzeichnung Leben einhaucht. Sein technikbegeisterter Vater und seine künstlerisch begabte Mutter waren durch ihre liebevolle Erziehung letztlich nicht unerheblich daran beteiligt, dass Spielberg zu einem der innovativsten Filmemacher seiner Zeit wurde.

Kurz vor dem deutsche Kinostart steht THE MENUE von Mark Mylod, in dem Ralph Fiennes einen düsteren Sternekoch spielt, der eine sorgsam ausgewählte Gruppe zu einem finalen Dinner in sein Nobelrestaurant auf einer einsamen Insel einlädt. Doch der Abend verläuft nicht wie geplant, weil einer der Gäste eine Freundin (Anya Taylor-Joy) mitbringt, die nicht auf der Gästeliste steht. Margot merkt schnell. das hier was schief läuft und gibt die Widerspenstige, was ihr am Ende das Leben rettet.

Als kulinarischen Horror-Thriller könnte man diesen Film bezeichnen, der wie Ruben Östlunds TRIANGLE OF SADNESS dem derzeitigen Kinotrend des ‘Eliten-Bashings’ folgt. Zieht Östlund die Welt der Reichen und Schönen durch den Kakao, bekommt hier die Welt der Haute Cuisine ihr Fett weg.

Ein Duell auf engstem Raum bietet dagegen SANCTUARY von Zachary Wigon. Spielort ist eine Hotelsuite, auf die sich der Besitzer der Hotelkette (Christopher Abbott) eine ‘mental domina’ (Margaret Qualley, ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD) kommen lässt. Er hat ihr ein Drehbuch für ein Rollenspiel geschrieben, das sie professionell umsetzt, ohne ihn dabei zu berühren oder sich berühren zu lassen. Doch dann dreht sie das Spiel eine Nummer weiter, behauptet, die Session gefilmt zu haben und erpresst ihn auf ein Jahresgehalt von vier Millionen Dollar. Ist das reell oder gehört das noch zum Spiel, quasi eine Drehbuch-Erweiterung? Die beiden verfangen sich immer mehr ineinander und ihre Dialoge werden immer privater, drücken ihre Ängste und ihre Wünsche aus. Am Ende gibt es einen schönen Twist: Ging es bisher um Macht und Sex, geht es jetzt um Macht und Beruf. Der Hotelier weist der Domina eloquent nach, dass sein Job, den er wohl gerade antreten will, ziemlich derselbe ist, wie der ihre als Sexarbeiterin: Er ist der Sklave, muss sauber machen, die Scherben auflesen und es allen Recht machen. Ein intelligentes Kammerspiel mit einem Ende, das alles auf den Kopf stellt.

Hat es schwer bei den Kritikern - der starbesetzte Film AMSTERDAM

Hat es schwer bei den Kritikern – der starbesetzte Film AMSTERDAM

Bereits in unseren Kinos angelaufen und mit der Hypothek schlechter amerikanischer Kritiken belastet ist David O. Russells AMSTERDAM (Walt Disney). Wie schon in THREE KINGS setzt der bereits fünffach oscar-nominierte Regisseur auf ein Hauptdarsteller-Trio, das diesmal keinen Goldschatz in der irakischen Wüste sucht, sondern um sein nacktes Leben kämpft. Sie begegnen sich erstmals während des Ersten Weltkrieges in Belgien, wo sich die amerikanischen Soldaten Burt (Christian Bale) und Harold (John David Washington) schwören, sich nicht mehr aus den Augen zu lassen, um so gemeinsam diesen grausamen Krieg zu überstehen. Schon bald landen beide im Lazarett, wo sie von der attraktiven Krankenschwester Valerie (Margot Robbie) wieder zusammengeflickt und gesund gepflegt werden. Auch sie ist Amerikanerin und hat längst ein Auge auf Harold geworfen. Sie organisiert ihre gemeinsame Flucht ins sichere Amsterdam. Hier verlebt das Trio seine glücklichsten Tage, bevor es Burt nach Hause zieht, wo seine Verlobte wartet und sein Schwiegervater ihm eine Praxis auf der Fifth Avenue einrichten will. Doch aus der schönheits-chirurgischen Klinik mit Nobeladresse wird dann doch eher ein Behandlungsraum, in dem er andere ramponierte Soldaten mit Prosthetic, Gesichtschirurgie und Schmerzmitteln versorgt. Harold arbeitet hier als Rechtsanwalt und wird eines Tages von Liz Meekins (Taylor Swift) mit der Aufklärung des überraschenden Todes ihres Vaters, General Bill Meekins (Ed Begley Jr.), beauftragt, der angeblich eines natürlichen Todes gestorben ist. Harold bittet Burt eine geheime Obduktion vorzunehmen, und tatsächlich findet er Hinweise auf eine Vergiftung. Doch bevor die beiden die Angelegenheit aufklären können, werden sie selbst des Mordes bezichtigt und von vermeintlich unbekannter Seite in ein Komplott größeren Ausmaßes gezogen, bei dem es zu einem überraschenden Wiedersehen mit Valerie kommt.

Wieder einmal erweist sich David O. Russell als ein meisterhafter Weber von Geschichten, deren Handlungsstränge sich kaum vorhersagbar winden und verdrehen. Schein und Sein sind nur selten zu unterscheiden und das Verschwörungs-Komplott, in das die beiden geraten, wird nicht nur immer größer, sondern bekommt am Ende auch eine historische Dimension, wenn Robert De Niro als populärer General Gil Dillenbeck eine flammende Rede über Krieg und Frieden, Hass und Liebe und für die amerikanische Verfassung hält. Das erinnert dann schon deutlich an den jüngsten Sturm auf das Capitol und untermauert die These, dass die Demokratie Tag für Tag verteidigt werden muss. Dafür fährt Russel ein beeindruckendes anglo-amerikanisches Staraufgebot auf, in dem außerdem noch Andrea Riseborough, Zoe Saldana, Anya Joy, Chris Rock, Matthias Schoenaerts, Michael Shannon, Mike Myers, Zoe Saldana und Rami Malek in Nebenrollen glänzen. Leider hat sich niemand vom Team in Rom sehen lassen.

James Gray

James Gray

Eine kleine Entdeckung war ARMAGEDDON TIME (deutscher Titel ZEITEN DES UMBRUCHS, UPI) von James Gray (AD ASTRA), der autobiographische Züge trägt und sein bisher persönlichster Film ist. Er spielt im New York der 1980er Jahre, wo der jüdische Junge Paul Graff im reichen Queens eine Public School besucht, obwohl die Großeltern ihm eine Privatschule bezahlen würden. Er freundet sich mit einem schwarzen Mitschüler an und kann den täglichen Rassismus, der ihm von allen Seiten begegnet, kaum ertragen. Bei seinen Eltern kann er mit diesem Problem nicht landen, sein Vater ist eher der Typ Mitläufer, der froh ist, wenn das Leben Chancen für ihn bereithält, die er dann ohne zu fragen nutzen kann. Ganz anders sein Großvater Aaron (Anthony Hopkins), dessen Mutter als junge Frau miterleben musste, wie die Nazis ihre Eltern in der Ukraine umbrachten. Mit diesem Trauma floh sie nach Amerika, wo Aaron zur Welt kam und zu einem Mann von Format heranwuchs. Ein wahres Vorbild für den kleinen Paul, der  eine enge Beziehung zu seinem Großvater pflegt. Nur der hat immer ein Ohr für all seine Probleme, unterstützt ihn bedingungslos und nimmt sogar seine künstlerische Ader ernst.

James Gray taucht tief ein in diese Kindheitsgeschichte und stellt sie außerdem in ihr historisches Umfeld. Galt die Urgroßmutter noch als ‘displaced person’, so war der Großvater ein angesehenes Mitglied der jüdischen Gemeinde New Yorks. Doch 1981 ändert sich das politische Klima im Land. Auf Jimmy Carter folgt Ronald Reagan und läutet eine Wendezeit ein, die auch Paul zu spüren bekommt, als er wegen Kiffens auf der Toilette der Schule verwiesen wird und doch noch auf einer Privatschule landet. Nicht auf irgendeiner Privatschule, sondern auf der Kew-Forest Elite School, wo auch Donald Trump zur Schule geht. 

Es sind diese Kleinigkeiten, die aus ARMAGEDDON TIME mehr machen als eine einfühlsame Coming of Age-Story. Es ist auch ein erhellendes gesellschaftliches Porträt eines Amerikas vor einer politischen Wende, mit der wir es heute noch zu tun haben. Elitarismus, Vorurteile, verdeckter Rassismus, Korruption und Klassendenken sind auf dem Vormarsch. Vielleicht ist dieser politische Aspekt Gray wichtiger als die Adoleszenz-Geschichte und vielleicht hat er den Jungen deswegen nicht allzu sympathisch gezeichnet. Er erscheint etwas langsam, nicht besonders clever und bleibt so mehr Beobachter als Akteur einer Geschichte, die mit zwei Stunden anspruchsvollster Unterhaltung aufwartet.

Ziemlich nostalgisch wird es in MRS. HARRIS GOES TO PARIS  (deutscher Titel: MRS. HARRIS UND EIN KLEID VON DIOR, UPI), den der britische Autor, Produzent und Regisseur Anthony Fabian umgesetzt hat. Nach eigenem Bekunden kennt er London und Paris sehr gut, und es hat ihm viel Spaß gemacht, beide Kulturen aufeinanderprallen zu lassen. “Die Briten sind besessen von Klassenunterschieden, während Frankreich allein durch die Gewerkschaften schon sozialer orientiert ist. Damit zu spielen, hatte einen großen Reiz”, so der Regisseur auf der Pressekonferenz. 

Die unscheinbare Londoner Putzfrau Ada ist eine freundliche Frohnatur, obwohl ihr Mann vor ein paar Jahren im Krieg gefallen ist und die Mittfünfzigerin ihr Geld gut einteilen muss. Doch als sie eines Tages ein Kleid von Dior bei einer ihrer Kundinnen entdeckt, ist es um sie geschehen. Sie möchte auch ein solches besitzen und setzt alles daran, ihren Traum zu erfüllen. Einige glückliche Zufälle wie Wettgewinne, Finderlohn und eine überraschend gewährte Witwenrente rücken ihren Wunsch in greifbare Nähe. Kurzentschlossen fliegt sie zum Einkauf nach Paris und platzt dort in eine Modenschau, bei der die neuesten Kreationen des Meisters vorgestellt werden. Zwar will man sie dort zunächst nicht einlassen, Isabelle Huppert führt hier ein hartes Regiment als Vorzimmerdame, doch sie lässt sich so leicht nicht abwimmeln und weitere glückliche Zufälle bringen sie ihrem Ziel immer näher.

Die auf dem Erfolgsroman von Paul Gallico aus dem Jahre 1958 basierende Feel Good-Komödie mit Hauptdarstellerin Lesley Manville (bekannt aus vielen Mike Leigh-Filmen und als Prinzessin Margaret in THE CROWN) spielt mit dem Sprichwort “Kleider machen Leute”. Mrs. Harris macht im Verlaufe des Films eine Wandlung durch. Sie kämpft dafür, nicht länger unsichtbar zu sein, nicht wahrgenommen zu werden, nur weil sie als Reinigungskraft arbeitet. Doch ist es nicht das Kleid, das dies bewirkt, sondern ihre innere Haltung, die sie um ihr Glück kämpfen lässt, sie zum Leuchten bringt und ihre inneren Werte sichtbar macht.

James Ivory (links) berichtet über seinen Aufenthalt in Kabul.

James Ivory (links) berichtet über seinen Aufenthalt in Kabul.

Wer bei A COOLER CLIMATE an eine Klima-Doku denkt, liegt völlig falsch. Vielmehr versteckt sich hinter dem Titel ein Dokumentarfilm, in dem James Ivory von seinen beruflichen Anfängen erzählt. Damals wurde er nach Delhi geschickt, um historische  Gebäude zu filmen, doch das Klima war ihm viel zu heiß. So wich er aus nach Kabul, wo es aber keine imposanten Gebäude gab. Also filmte er die Menschen. Damals, das war 1960, vor den Taliban und vor den Kriegen. Kabul war eine reiche Stadt, in der seine Bürger ein friedliches Leben führten, mit Respekt vor den alten Traditionen und Neugier für alles Neue. Gastfreundschaft wurde groß geschrieben und so siedelte Ivory sich hier für ein Jahr an. Sechzig Jahre war dieser Film verschwunden, er hatte ihn mal Freunden gezeigt, dann aber wieder vergessen. Beim Staubputzen hat er die verstaubten Filmrollen aus dem Regal gezogen. Die Farben waren verblasst, aber die Bilder bewegten ihn immer noch,  und so ließ er den Film restaurieren und von Giles Gardner neu schneiden. Herausgekommen ist eine Liebeserklärung an Afghanistan mit Bildern aus Kabul und Bamiyan, immer wieder unterbrochen von Bildern aus seiner eigenen Kindheit in Oregon, alles mit von ihm selbst gesprochenen Kommentaren unterlegt. So entstand nicht nur ein historisches Porträt einer Stadt und der Leute, die hier lebten, sondern auch eine sehr persönliche Erinnerung an seine beruflichen Anfänge und eine Zeit, die die Richtung seiner  Karriere vorbestimmen sollte. 

Erst 1961 in New York lernte er  Ismail Merchant kennen und sie beschlossen, einen gemeinsamen Film (THE HOUSEHOLDER) zu drehen, er als Regisseur und Merchant als Produzent. Doch wer sollte das Drehbuch schreiben? Auf Vorschlag von Merchant besuchte er Ruth Jawer Jhabvala in Indien. Die gab zu bedenken, dass sie noch nie ein Drehbuch geschrieben hätte. “Das macht gar nichts!” meinte Ivory damals, „Das ist auch mein erster Film.“ Es sollten über 40 Filme folgen, bei denen das Trio sich treu blieb.

Stephen Frears

Stephen Frears

Der Höhepunkt des Festivals war für uns THE LOST KING, bei dem Stephen Frears auf ein altbewährtes Schauspielerpaar setzt. Sally Hawkins und Steve Coogan spielen hier ein getrenntes, aber zusammenlebendes Ehepaar, das sich nur eine Wohnung leisten kann, solange die beiden Jungs noch nicht groß sind. Auch wenn die Liebe erloschen scheint, verbindet John und Philippa eine emotionale Verbundenheit und so akzeptiert es John, als seine Frau immer öfter spät nach Hause kommt, ihren Job vernachlässigt und nur noch von einem gewissen Richard redet.

Gemeint ist RICHARD III. von dem die geschichtsinteressierte Philippa ein Theaterstück gesehen hat, das den verrufenen König nicht wie bei Shakespeare als mordenden Tyrannen darstellt, sondern als weisen und edelmütigen Herrscher. Das Stück haut Philippa geradezu um, sie liest alles, was sie zu Richard III. finden kann, besucht Vorträge an der Uni Leicester und stößt bald auf Widersprüche und will die aktuelle Geschichtsschreibung widerlegen. In der Richard III.-Society findet sie Verbündete für ihre These und tatsächlich können die Historiker sie auch nicht widerlegen, müssen sie aber auch nicht, denn Philippa muss den Beweis führen, und das würde vielleicht gelingen, wenn man die sterblichen Überreste des Königs finden und untersuchen könnte. Sie  sammelt Geld für Ausgrabungen und hat auch schon eine Idee, wo sie graben muss. Auf einem Parkplatz in Leicester wird sie – six feet entfernt von der Stelle, die sie selbst markiert hat – fündig.

Philippa gegen die Wissenschaftler! Mit viel Sympathie für die kleinen Leute erzählt Stephen Frears diese Geschichte, die sich in England tatsächlich zugetragen hat und brüskiert damit die etablierten Historiker, die natürlich, nachdem sie sich ausgiebig über Philippa lustig gemacht haben, schnell genug einlenkten, um den archäologischen Erfolg für sich verbuchen zu können. Doch im Film bleibt Philippa die Königin der Herzen, während die Akademiker ihr Fähnchen immer gemäß dem Wind drehen. Auch die Queen hat das wohl so gesehen und Philippa Langley 2015 geehrt. 

“Nicht nur das!” ergänzte Stephen Frears auf der Pressekonferenz: Die königlichen Archive seien seit langem von allen Unterlagen zu Richard III. gesäubert. Die Queen hätte  dies alles rückgängig gemacht und ein königliches Begräbnis angeordnet. “So hat Philippa die Geschichtsschreibung verändert.“ In Großbritannien wäre der Film auf ein großes Echo gestoßen und ihm selbst hätte es großen Spaß gemacht, Shakespeare zu widerlegen, so Frears weiter und auf die Frage einer italienischen Kollegin, ob er keine Angst vor Konsequenzen habe, wenn er die Dinge derart konkret ausspricht, antwortete er amüsiert: “I’m only a grumpy old man. Nobody cares and nobody listens to what I have to say.”

 

  • New Progressive Cinema
Auditorium Parca della Musica - Blick auf das Außengelände

Auditorium Parca della Musica – Blick auf das Außengelände

Auch deutsche Filme waren in Rom vertreten. So stellte Fatih Akin in einer Sondervorstellung RHEINGOLD vor und Andreas Dresen diskutierte mit dem Publikum über seinen RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH. Aelrun Goette nahm sogar mit IN EINEM LAND DAS ES NICHT MEHR GIBT am neu eingerichteten Wettbewerb teil, der unter dem Titel “New Progressive Cinema” internationale Filme gegeneinander antreten ließ. Eine Jury unter der Leitung von Marjane Satrapi zeichnete die besten Filme aus. 

So erhielt CAUSEAWAY den Preis für den Besten Nachwuchsfilm. Jennifer Lawrence spielt die Hauptrolle und kehrt damit zurück zu ihren Wurzeln, dem Independent-Film. 2010 schaffte sie in der Rolle der Ree Dolly in WINTER’S BONE ihren Durchbruch und legte damit den Grundstein für eine erfolgreiche Hollywood-Karriere. Höhepunkt war ihre Rolle als Katniss Everdeen in DIE TRIBUTE VON PANEM, die sie zu einer der bestbezahlten weiblichen Hollywood-Stars machte. In CAUSEWAY spielt sie eine traumatisierte US-Soldatin, die nach einer schweren Verletzung bei einem Einsatz in Afghanistan in ihre Heimat New Orleans zurückkehrt. Langsam kämpft sie sich ins Leben zurück – lernt mit Hilfe einer Therapeutin wieder ihre Muskeln zu koordinieren, bald kann sie wieder laufen, Auto fahren und ganz normale Alltagsgeschäfte verrichten, doch ihre seelischen Wunden heilen wesentlich langsamer. Das Verhältnis zu ihrer Mutter ist eher unterkühlt, Freunde hat sie nicht, erst als sie den Automechaniker James kennenlernt, der ihren liegen gebliebenen Wagen repariert, findet sie einen Menschen, der sie versteht. Auch James hatte einen schweren Unfall, bei dem er ein Bein verlor und seine Freundin zu Tode kam. Dies sind nicht die einzigen Gemeinsamkeiten der beiden und langsam entwickelt sich zwischen ihnen eine enge Freundschaft. Ein stiller, aber grandios gespielter Film, der die Themen Einsamkeit und Trauma-Bewältigung einfühlsam verarbeitet. Was in der Vergangenheit passiert ist, wird selten direkt erzählt, sondern schält sich Stück für Stück aus dem Geschehen und der Interaktion der Figuren heraus und hält so manche Überraschung bereit. Das hält den Spannungsbogen dieses von großer Melancholie durchzogenen Spielfilm-Debüt der Theaterregisseurin Lila Neugebauer bis zum Schluss aufrecht.

Lebhaft geht es dagegen in Shekhar Kapurs romantischer Komödie WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT? (Studiocanal) zu, der mit dem Ugo Tognazzi Award als Beste Komödie ausgezeichnet wurde. Kapur folgt darin der jungen Londoner Dokumentarfilmerin Zoe. Auf der Suche nach einem neuen Thema erfährt sie von den Heiratsplänen ihres Jugendfreundes und Nachbarn Kazim. Der Pakistani ist entschlossen, eine traditionell von den Eltern arrangierte Ehe einzugehen – mit einer Braut, die er noch gar nicht kennt. Obwohl Zoe diese Tradition für völlig veraltet hält, ist sie fasziniert und schlägt Kazim vor, das ganze Verfahren mit der Kamera bis zur Hochzeit für eine Video-Dokumentation festzuhalten. Er willigt ein und beide begeben sich auf eine Reise, die jede Menge komischer Momente bereithält. Bald fragt sich Zoe, ob ihre eigene bislang erfolglose Suche nach dem Richtigen mit Hilfe von Dating-Apps wirklich der bessere Weg ist. Kapur fügt dem bereits in den neunziger Jahren erfolgreichen Genre der multikulturellen Romcom nicht viel Neues hinzu. Dennoch ist WHAT’S LOVE GOT TO DO WITH IT über weite Strecken unterhaltsam, die Chemie zwischen den Protagonisten stimmt und die Dialoge zünden, auch wenn die Story ein wenig an Tiefe vermissen lässt. Auch die charmanten Darsteller, allen voran Lilly James als Zoe, und Emma Thompson in ihrer Nebenrolle als Zoes unkonventionelle Mutter, tragen zu einem vergnüglichen Kinoabend bei.

Gleich drei Preise für den Besten Film, die Beste Regie und den Besten Hauptdarsteller heimste JANUARY ein, den wir gar nicht auf der Liste hatten, am letzten Tag aber nachholen konnten. Er spielt im Januar 1991, als die Russen in Litauen einfielen, um die am 4. Mai 2020 erklärte Unabhängigkeit des baltischen Staates wieder rückgängig zu machen. Regisseur Viesturs Kairiss nutzt diese historische Situation als Hintergrund für eine Coming of Age-Story, in der sein Protagonist Jazis von einer Karriere als Filmemacher träumt, sich in Anna verliebt, mit der er seine Vorliebe für Filme von Ingmar Bergman, Jim Jarmusch und anderen teilt und sie genauso schnell wieder verliert, als sie bei dem Filmemacher Juris ein Praktikum beginnt. Kairiss erzählt von erster Liebe, Herzschmerz und politischem Erwachen – typischen Versatzstücken des Coming of Age-Films – und zieht alle drei immer mehr in die politischen Auseinandersetzungen hinein.
Eigentlich hätte auch der polnische Kameramann Wojciech Staroń ausgezeichnet werden müssen, denn es ist schon virtuos, wie er Archivmaterial mit nachgestellten Super 8-Aufnahmen kombiniert und uns einen ungeheuer authentischen Eindruck der damaligen Vorgänge vermittelt. Das betrifft nicht nur eine furchtlose Bevölkerung, die auf die Barrikaden geht und die Russen zum Abzug zwingt, sondern auch Fotografen und Kameramänner, die sich den russischen Panzern so weit nähern, dass man sich nicht wundert, wenn man im Abspann liest, dass zwei von ihnen dabei umgekommen sind. JANUARY ist ein Filmexperiment, das lange im Kopf nachwirkt und derzeit wieder eine traurige Aktualität hat. Bleibt zu hoffen, dass er einen Weg in die deutschen Kinos findet.

Rom hat in diesem Jahr mal wieder so richtig Spaß gemacht. Ein wahres Fest (wie schon der Name “Festa del Cinema” sagt), das nicht nur Filme mit spannenden Themen bot, sondern auch viele Begegnungen mit Filmschaffenden ermöglichte und Publikum und Presse bis spät in die Nacht im Festival-Dorf diskutieren ließ.