Filmfestival Cannes 2024

Filmfestival Cannes 2024: Filmposter

Das diesjährige Filmposter, Copyright für alle folgenden Fotos: Festival de Cannes

Die diesjährigen Filmfestspiele in Cannes gingen mit einer ergreifenden Schlusszeremonie zu Ende. Francis Ford Coppola, der mit seinem Alterswerk MEGALOPOLIS seit 45 Jahren mal wieder im Wettbewerb vertreten war, überreichte eine Goldene Palme für das Lebenswerk an seinen Kollegen und Freund George Lucas, obwohl dies genauso gut umgekehrt hätte sein können. Und doch war dies nicht der Höhepunkt dieser Show, denn der gehörte dem iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof, der trotz Berufsverbot seinen neuen Film THE SEED OF THE SACRED FIG (Alamode / Wild Bunch) fertiggestellt und in Cannes eingereicht hatte und anschließend zu acht Jahren Haft mit Folter verurteilt wurde.

The Seed of the Sacred Pig

The Seed of the Sacred Pig

Zu Beginn des Festivals ist er zu Fuß über die Berge aus dem Iran geflüchtet und konnte tatsächlich an der Preisverleihung teilnehmen. Dass dies allein schon eine Palme wert war, war jedem klar, und die Jury unter Vorsitz von Greta Gerwig traf das salomonische Urteil, ihm einen zusätzlichen Preis, den ‘Special Jury Award’ zu überreichen. In seiner Dankesrede erklärte Rasoulof, dass es dieses Preises gar nicht bedurft hätte. Allein die Tatsache, dass er diesen Film drehen konnte, vom Festival ausgewählt und so viel internationale Beachtung bekommen habe, wäre für ihn Auszeichnung genug gewesen. Der Preis helfe aber, dass sein Film weltweit gesehen werde. Selbst wenn er im Iran nie laufen werde, sei er sich sicher, dass seine Landsleute ihn im Internet sehen werden. So schloss sich endlich ein Kreis. Iranische Filme hatten schon immer die volle Solidarität der europäischen Festivals, doch diesmal konnten dem auch Taten folgen: Rasoulof wurde mit einer Standing Ovation gefeiert und ihm ein neues künstlerisches Zuhause angeboten.

Anora

Anora

Danach geriet die Verleihung der Goldenen Palme dann fast zur Nebensache. Allerdings war sie auch keine Überraschung, denn Sean Bakers ANORA (UPI) hat nicht nur die Hitliste der internationalen Presse mit Abstand angeführt, sondern erwies sich auch als absoluter Crowd Pleaser. Nachdem Baker 2018 für THE FLORIDA PROJECT für den Oscar nominiert wurde und 2021 hier mit RED ROCKET den Eskapaden eines männlichen Pornodarstellers in Texas nachging, konnte er in diesem Jahr mit einer Cinderella-Story zwischen einer Erotik-Tänzerin und einem blutjungen und steinreichen Russen, der sich in New York die Hörner abstoßen darf, auch kommerziell punkten. Bei seiner Dankesrede brach er eine Lanze für das unabhängige Kino und antwortete auf die leise Kritik, dass mit seinem Film  eine kommerzielle Komödie den diesjährigen Wettbewerb gewonnen habe: “Ich würde mich freuen, wenn mein Film auch in Multiplexen läuft, denn dann sehen die Zuschauer dort, dass es Filme gibt, wie ich sie mache und liebe.”

Filmstill aus The Substance

Filmstill aus The Substance

Eine Komödie als Cannes-Gewinner! Tatsächlich konnte man diese Verlagerung schon bei der Filmauswahl feststellen. Neben Komödien tummelten sich Musicals, Dokumentar-,  Animations- und Genre-Filme im Wettbewerb, der früher der klassischen Filmkunst vorbehalten war. So erhielt Coralie Fargeat für ihren Genrefilm THE SUBSTANCE (MUBI) den Preis für das Beste Drehbuch und stieß den ‘King of Body Horror’ David Cronenberg von seinem Thron. In der Hauptrolle sehen wir Demi Moore als einen in die Jahre gekommenen Fernseh-Star, der meint, den Schönheitsansprüchen des Senders nicht mehr zu genügen. Also lässt sie sich auf einen makabren Deal ein und nimmt eine Droge zu sich, die bewirkt, dass sie aus ihrem eigenen Körper ein anderes, jüngeres und schöneres Ich gebiert. Diese jüngere Version ihrer selbst wird gespielt von Margaret Qualley, die gleich loszieht und den Sender mit ihren Qualitäten im Sturm erobert. Dumm nur, dass sie zur Regeneration Lebenszeit an ihr anderes Ich abgeben muss. Doch das eigentlich paritätische Zeitkonto wird von ihr immer wieder überzogen und die Grundregel “There is no she and me, there is only a we” in der Regel negiert, was zu üblen Konsequenzen führt, die diesen Film immer mehr in die Untiefen des Body Horrors abgleiten lassen. Dabei ist so viel nackte Haut zu sehen, die offenbar von einer KI generiert wurde, dass man den beiden Schauspielerinnen wohl keinen Preis geben wollte.

The Shrouds

The Shrouds

Auch David Cronenberg war wieder dabei, konnte aber wie schon vor zwei Jahren mit CRIMES OF THE FUTURE nicht überzeugen. Immerhin gelang es ihm damals, das Body-Horror-Genre neu zu beleben. Daran knüpft auch THE SHROUDS an, mit dem er den Tod seiner Ehefrau Carolyn im Jahr 2017 auf seine eigene Weise verarbeitet: Vincent Cassel spielt den Geschäftsmann Karsh, der den Tod seiner Frau (Diane Kruger) nicht überwinden kann. In Rückblenden zeigt er insbesondere beim Sex, wie er den Körper seiner Frau Stück für Stück an den Krebs und die Ärzte verloren hat. Gleichzeitig kann er sich nicht von ihr lösen und hat das Überwachungssystem Shrouds entwickelt, um sie noch im Grab via App überwachen zu können. Wenn die Geschäftsidee für diese Erfindung auch im Unklaren bleibt, Cronenberg nutzt sie nicht nur, um das Trauma seines Protagonisten zu beschreiben, sondern baut darauf eine völlig haarsträubende Geschichte auf, in der die App gehackt, Karsh aus seinem eigenen System ausgeschlossen und die Bilder aus dem Grab manipuliert werden. Zwar lässt sich die undichte Stelle schnell in einem Mitarbeiter in seiner Firma lokalisieren. Doch der hat mit jungen russischen Programmierern zusammengearbeitet, die wiederum Opfer der Chinesen wurden. Cronenberg rührt hier alles zusammen, was unsere derzeitige Nachrichtenlage bestimmt, und spinnt wirre Verschwörungstheorien, denen zu folgen man mehr und mehr die Lust verliert. Eigentlich kann er jetzt zufrieden in Rente gehen und den Bodyhorror der jungen Generation überlassen.

Filmstill aus Emilia Perez

Emilia Perez

Authentischer kam da schon die spanische Schauspielerin Karla Sofía Gascón rüber, die in Jacques Audiards (ROST UND KNOCHEN) EMILIA PEREZ (Wild Bunch / Neue Visionen) den Drogenboss Maitas del Monte spielt. Sie gewann als erste transgeschlechtliche Schauspielerin eine Silberne Palme (zusammen mit dem ganzen Ensemble). Auf der Pressekonferenz widmete sie ihren Preis allen, die für ihre Rechte kämpfen und versuchen, sie selbst zu sein, dafür aber beleidigt und angegriffen werden. Das Trans-Musical, welches das Gangsterfilm-Genre, gewürzt mit einer Prise Telenovela, parodiert, gewann auch den Jury-Preis, denn Audiard gelingt es ganz nebenbei, sozialkritische und aktuelle politische Fragen zu integrieren. Zwar überspannt er gelegentlich den melodramatischen Bogen und streift den Kitsch, insgesamt aber legt er ein gelungenes Werk vor, das von der Kritik ausgesprochen gut aufgenommen wurde. 

Im Mittelpunkt steht die aufstrebende und sehr erfolgreiche mexikanische Anwältin Rita. Sie erhält eines Tages ein überraschendes Angebot, auf das sie sich nach kurzem Zögern einlässt. Sie soll den Drogenboss del Monte außer Landes schaffen und ihm dort eine Geschlechtsumwandlung ermöglichen. Er möchte seinen Lebenstraum verwirklichen und ein völlig neues Leben anfangen, muss dafür aber seine Frau und Kinder zurücklassen. Das fällt ihm schwerer als gedacht. So lässt er seine ahnungslose Familie, die ihn für tot hält, über die Grenze bringen, gibt sich als ihre unbekannte Tante aus und bringt sie bei sich unter, was neue Komplikationen mit sich bringt. Gleichzeitig versucht er, seine früheren Taten wieder gut zu machen, und gründet dafür eine erfolgreiche Nichtregierungsorganisation, um Vermisstenfälle aufzuklären. 

Auch wenn Audiard auf ein  Happy End verzichtet, gelingt es ihm mit seiner kuriosen  Geschichte von einem Gangster, der sich durch seine Geschlechtsumwandlung vom Saulus zum Paulus verwandelt, Emotionen zu wecken, die durch das Musical-Format beim Publikum weit stärker verfangen, als die Klischees, die er dafür benutzt.

Kinds of kindness

Kinds of kindness

Ein wenig enttäuschend war dagegen KINDS OF KINDNESS (Walt Disney), der neue Filme von Yorgos Lanthimos, der im Look von POOR THINGS mit annähernd gleichem Personal drei etwa einstündige Episoden erzählt, die in puncto Schauspiel und Kamera gewohnt eine Augenweiden sind, sich aber inhaltlich nicht so recht zusammenfügen. Neu im Team ist Jesse Plemons (KILLER OF THE FLOWER MOON), der als Bester Schauspieler ausgezeichnet wurde. In der ersten Episode spielt er Robert, der erfolgreich in seinem Job ist und mit seiner hübschen Frau eine extravagante Villa bewohnt, doch sein Leben wird bestimmt von seinem Boss Raymond, der ihm morgens auf einer 

Karteikarte zusteckt, wie sein Tagesablauf  minutiös abzulaufen hat, selbst sein Sexleben wird so geregelt. Als er eines Tages einen unbequemen Widersacher in einen Autounfall verwickeln soll, probt er den Aufstand, was Konsequenzen hat, die weder er noch der Zuschauer sich vorstellen können. Auch in den beiden weiteren Episoden geht es um Macht und Manipulation von Menschen, wobei Willem Dafoe stets die Rolle des Manipulators spielt. Dabei haben die Episoden meist ein offenes Ende, mit denen sie einerseits an Episoden aus TWILIGHT ZONE erinnern, andererseits wie immer bei Lanthimos in die Abgründe der menschlichen Seele schauen lassen.

Oh Canada

Oh Canada

Ansonsten tummelten sich einige weitere vielversprechende Namen im Wettbewerbsprogramm, deren Filme aber nicht unbedingt überzeugen konnten. Die Erwartungen an den neuen Film von Paul Schrader waren ziemlich hoch, haben ihm seine  letzten drei Filme FIRST REFORMED (2017), THE CARD COUNTER (2021) und MASTER GARDENER (2023), die allesamt in Venedig uraufgeführt wurden, ein beachtliches Comeback ermöglicht. In OH CANADA adaptiert er den 2021 erschienenen Roman „Foregone“ von Russell Banks. Er erzählt die fiktive Geschichte des  Dokumentarfilmers Leonard Fife (Richard Gere), der sich mit Berichten über  Kriegsverbrechen der US-Armee oder Pädophilie in der Kirche einen Namen gemacht hat. Nun gewährt er, bereits schwer vom Krebs gezeichnet, zwei ehemaligen Schülern ein letztes Interview. Es wird misstrauisch von seiner Frau Emma (Uma Thurman) überwacht, ebenfalls eine seiner ehemaligen Studentinnen, mit der er seit 30 Jahren verheiratet ist. Was als letzte Glorifizierung seines Lebens gedacht ist, will Leonard zu einer finalen Lebensbeichte nutzen, meint er doch in seinem Leben alles falsch gemacht zu haben. Doch sein Gesundheitszustand wird immer schwieriger. Er kann sich nicht konzentrieren, schläft immer wieder ein, ohne sich erinnern zu können, was er schon erzählt hat und was nicht. Mit seinen Geschichten verwirrt er das Filmteam, stößt Emma vor den Kopf, die ihren Mann nicht wiedererkennt und am Ende das Ganze abbricht. Für den Zuschauer ist das alles genauso verwirrend und letztlich recht unbefriedigend, da nicht wirklich klar wird, was Leonard eigentlich erzählen will und die Unterschiede zwischen Amerika und Kanada, um die es wohl gehen soll, nicht wirklich klar werden. 

Insgesamt war das Festival wenig kohärent und zeigte sowohl in der Programmauswahl wie bei der Preisvergabe eine Verschiebung dessen, was heutzutage unter Filmkunst verstanden wird. Bisher waren die Preise meist rationalen Filmen vorbehalten, die uns die Welt erklären. Immer öfter sind es heute jedoch die emotionalen Filme, die ausgezeichnet werden. Diese sind vielleicht nicht immer logisch, aber wiedererkennbar real. Auch wenn man ihnen nicht immer folgen kann, kann man sich gut in ihnen wiedererkennen.

The Second Act

The Second Act

Zu solch einem Film gehörte THE SECOND ACT, mit dem Quentin Dupieux das Festival eröffnen durfte. Der exzentrische französische Regisseur, dessen skurriler Humor bisher den Nebenreihen vorbehalten blieb, konnte diesmal mit Léa Seydoux, Vincent Lindon und Louis Garrel auf einen beeindruckenden Cast zurückgreifen. Seiner schrägen Art, Filme zu machen, ist er aber treu geblieben. Er hat ein fintenreiches Drehbuch geschrieben, mit dem er moderne Strömungen des Filmbusiness karikiert. 

Er beschreibt die Dreharbeiten zum ersten von einer KI geschriebenen, inszenierten und auch geschnittenen Film. Anfangs sind die Schauspieler redlich um einen korrekten Umgang mit der KI bemüht, sie ist ja schließlich so etwas wie ihr Boss. Doch die Charaktere, die sie spielen sollen, stimmen so gar nicht mit ihrer Lebenserfahrung überein.  So verschwimmt bald die Grenze zwischen Film und Wirklichkeit, wenn zum Beispiel die unsterblich in den Schauspieler David (Louis Garrel) verliebte Florence (Lea Seydoux) den Angebeteten ihrem ebenfalls schauspielernden Vater Guillaume (Vincent Lindon) vorstellen will. Dabei kann David mit seiner neuen Freundin gar nicht viel anfangen und versucht sie lieber an seinen Freund Willy zu verkuppeln. Beim vereinbarten Termin kommen dann alle vier in einem Restaurant zusammen und die beiden hochkarätigen Darsteller bekommen sich gleich in die Haare, weil Guillaume Aussicht auf eine Rolle im neuen Film von P.T. Anderson hat und so Davids Eifersucht weckt. Währenddessen macht sich Willy an Florence heran, was diese zur Weißglut treibt. 

Heraus kommt am Ende ein Film mit vielen absurden Szenen, der zwischen realem Leben und Schauspiel changiert und die menschliche Fehlbarkeit thematisiert, die so manche Szene ausarten lässt. Doch am Ende wird alles von der KI zu einem stromlinienförmigen Film geschnitten, der von mindestens 87 Prozent seiner Zuschauer für gut befunden werden sollte.

Im Epilog leistet sich Dupieux dann noch einen philosophischen Ausflug, der die von der KI generierte kulturelle Tätigkeit genauso auf die Schippe nimmt wie die menschliche Eigenart, alles besser zu wissen. “Vielleicht ist ja alles genau andersherum, wie wir es denken”, heißt es am Ende und verweist damit auf einen zweiten Akt, der noch geschrieben werden müsste, fragt sich nur, ob von einer KI oder einem Menschen.

Rumours

Rumours

Auch Guy Maddin gilt als Außenseiter der internationalen Regie-Szene und war des Öfteren auf der Berlinale zu Gast. Sein neuer Film RUMOURS wartet mit Alicia Vikander als Präsidentin der Europäischen Kommission und Cate Blanchett als deutsche Bundeskanzlerin auf, die zum G7-Gipfel nach Deutschland eingeladen hat. Im Merkel-typischen Blazer empfängt sie die sechs mächtigsten Politiker der Welt in der Rotunde eines fetalen Waldschlosses. Madden macht sich einen Spaß daraus, die einzelnen Staatsmänner und -frauen zu parodieren und lässt es gar nicht erst zu einem gemeinsamen Diskurs kommen. Vielmehr beschränkt er sich auf bilaterale Gespräche, die persönliche Sympathien freilegen, bis irgendwann das gesamte Personal verschwindet. Anfangs stockt dadurch nur der Wein-Nachschub, doch als es dann noch anfängt zu regnen, fällt die ganze Elektronik aus und die Gruppe ist von der Welt abgeschnitten. Um diese wieder zu erreichen, irren sie durch den Wald, bis sie am Ende wieder im Schlösschen landen und der kanadische Ministerpräsident das Ergebnis des Gipfels in einer phänomenalen Abschlussrede zusammenfasst. 

Maddens Film ist eine Farce über die Sinnlosigkeit solcher Treffen, die unter enormen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden und in der Regel keinerlei Ergebnis zu Tage bringen. 

Marcello Mio

Marcello Mio

Zum dritten Mal im Wettbewerb dabei war Christophe Honoré mit seiner etwas skurrilen Komödie MARCELLO MIO, in der die Schauspielerin Chiara Mastroianni in einer Schaffens- und Lebenskrise in die Rolle ihres Vaters, des berühmten, 1996 verstorbenen italienischen Schauspielers Marcello Mastroianni schlüpft. Nicht minder berühmt ist im wirklichen Leben ihre Mutter Catherine Deneuve, die im Film ebenfalls einen Auftritt hat. Als Scheidungskind stand Chiara stets zwischen Vater und Mutter, der Vater ist ihr, nachdem er die Familie verlassen hat, immer etwas fremd geblieben – bis heute. Mit einem Experiment versucht sie, ihm und damit auch sich selbst näher zu kommen: Sie kleidet sich wie er, spricht wie er und zieht durch Rom. So nimmt sie dessen Identität an, gespeist von ihren eigenen Erinnerungen, Filmen mit ihm und Erzählungen ihrer Mutter, dass sogar Außenstehende meinen, sie wäre er. Doch kommt sie ihm und sich damit wirklich näher? Kann sie so ihre eigene Trennung von ihrem langjährigen Partner verarbeiten? Die Annäherung einer Tochter an ihren entfremdeten, meist abwesenden Vater ist durchaus innovativ, bestückt mit Personal aus der eigenen Familie wie Chiaras Expartner, dem Sänger und Schauspieler Benjamin Biolay und dem Schauspieler Melvil Poupaud. Es bedarf aber einiger Vorkenntnisse im Universum dieses Familienclans, um die gezeigten Filmsequenzen und -bilder richtig zuordnen zu können. Einen Preis konnte der für seine feinfühligen Inszenierungen bekannte Honoré diesmal nicht gewinnen. 

The Count of Monte Christo

The Count of Monte Christo

Eine dreistündige Neuversion des Literaturklassikers DER GRAF VON MONTE CHRISTO legten Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière basierend auf ihrem eigenen Skript vor. Wer eine innovative Neuinterpretation des Stoffes von Alexandre Dumas dem Älteren erwartet, ist hier falsch. Seine Stärke liegt vielmehr in seiner Treue zum Originalstoff, seinem epischen Atem, seiner großartigen Ausstattung, guten Schauspielern und einer Kernaussage, die heute noch ebenso Bedeutung hat wie zur Zeit der Entstehung der Vorlage, die nach wie vor zu den Klassikern der Weltliteratur zählt. 

Angesiedelt in der post-napoleonischen Zeit geht es um Rache für ein großes Unrecht: 14 Jahre musste der am Tag seiner Hochzeit von seinen Widersachern verleumdete Protagonist unschuldig im Gefängnis schmoren. Fast ebenso lange bereitet er seinen Rachefeldzug gegen seine Feinde vor und zieht sie gnadenlos durch. Er nimmt eine neue Identität an, erkundet die Lebensumstände der Verhassten, entdeckt durch große Zufälle weitere von ihnen begangene Verbrechen und sieht sich bald als Vertreter des Strafgerichts Gottes auf Erden. Doch am Ende steht auch die Erkenntnis: Rache ist nicht alles im Leben. Man darf sich nicht ausschließlich davon bestimmen lassen, um der Zukunft, die man selbst gestalten kann, eine Chance zu geben.

 

Wild Diamond

Wild Diamond

Wieder in die Gegenwart und zwar nach Frejus, einem kleinen Küstenort zwischen Cannes und Saint Tropez, führt uns das Regiedebüt WILD DIAMOND von Agathe Riedinger, die es damit sogleich in den Wettbewerb geschafft hat. Wer jetzt bunte Urlaubsbilder bei strahlendem Sonnenschein erwartet, liegt falsch. Riedinger zeigt uns die Kehrseite dieser Medaille und zeichnet ein seltsam düsteres Bild von der Côte d’Azur. Touristen, Glanz und Glamour kommen in ihrem Film nicht vor, sie konzentriert sich ganz auf ihre Protagonistin, die 19-jährige Liane. Die ist wahrlich ein ungeschliffener Diamant und lebt in erbärmlichen Verhältnissen, aus denen sie gerne ausbrechen möchte, weswegen sie sich bei der Reality-TV-Show ‘Magical Island’ beworben hat. Doch die Landpomeranze trägt ein bisschen zu dick auf, ihr Outfit kommt mehr nuttig als sexy rüber und dem allgemein gültigen Schönheitsideal kann sie trotz einiger Schönheitsoperationen einfach nicht gerecht werden. So lässt die Einladung in die TV-Show auf sich warten, und wenn sie am Ende dann doch noch kommt, haben wir viel Überraschendes und Abgründiges aus Lianes prekärem Leben erfahren.

Riedinger gelingt ein stimmiges Porträt von den Außenseitern und Abgehängten unserer Gesellschaft, das sie mit sepia-dunklen Bildern und grobem Korn inszeniert.

Motel Destino

Motel Destino

Ähnliche Bilder findet auch Karim Ainouz (DIE SEHNSUCHT DER SCHWESTERN GUSMÃO) für den brasilianischen Beitrag MOTEL DESTINO (Piffl), der ebenfalls an der Küste spielt, allerdings im wenig mondänen Norden Brasiliens. Er wirkt wie ein Gruß aus den achtziger Jahren, ein’ film noir’ mit viel Korn, wenig Licht und verblassten Neonfarben, der  stets ein wenig schmutzig wirkt, was gut zu dem Stundenhotel passt, in dem er spielt. Hierhin verschlägt es Heraldo, der nach einem missglückten Raubüberfall untertauchen muss und so in die Beziehung des ungehobelten Elias und seiner Frau Dayana platzt, die gemeinsam diesen Ort betreiben. Sie fragen nicht lange und stellen Heraldo ein. In der schwülen Hitze des Tages, beim Bettenbeziehen und Kondome entsorgen und unter dauernder Beschallung der Sexgäste, lädt sich ihre Beziehung sexuell auf und wird zur Ménage-à-trois. Dayana, zunehmend frustriert von der Enge ihres Lebens, ist fasziniert von dem seltsam naiven jungen Mann. Ein gefährliches Spiel beginnt, ein Tanz zwischen  Macht und Begehren, zwischen Loyalität und Liebe und dem sehnsüchtigen Wunsch nach Freiheit. Ainouz konzentriert sich ganz auf diesen Ort, dem Heraldo nicht entfliehen kann und so zum Spielball seiner Gastgeber wird, was man als Metapher auf eine Jugend lesen kann, deren Zukunft von einer unterdrückerischen Elite gestohlen wird. Rebellion und Gewalt scheinen die Folge zu sein.

Three miles to the end of the world

Three miles to the end of the world

Sehr gut angenommen wurde der rumänische Wettbewerbsbeitrag THREE MILES TO THE END OF THE WORLD. Obwohl dieser eher konventionell erzählt und vom Thema her nicht wirklich neu ist, bleibt der rumänische Regisseur Emanuel Parvu so eng bei seinen Figuren, dass die Geschichte ein großes Identifikationspotential bietet und eine große Betroffenheit und Empathie mit dem Protagonisten zur Folge hat. 

Der 17-jährige homosexuelle Ado ist zu Besuch in seinem Heimatdorf im idyllischen Danube Delta. Eines Abends trifft er dort auf einen jungen Touristen, die beiden kommen ins Gespräch und beginnen miteinander zu flirten. Beim Abschiednehmen werden die beiden vom Nachbarssohn beim Austausch von Zärtlichkeiten erwischt und daraufhin von ihm im Beisein von dessen Freunden verprügelt. Ado will zuhause aber zunächst nicht verraten, wer ihn so zugerichtet hat, denn seine Eltern ahnen nichts von seiner Veranlagung. Als sein Vater den Nachbarn zur Rede stellt, redet dieser nach einigem Hin- und Her Klartext. Mit der Behauptung des Nachbarn konfrontiert, kann Ado seine sexuelle Ausrichtung nicht länger verleugnen. Doch seine Eltern kommen mit der neuen Lage nicht klar. Der Vater macht ihm schwere Vorwürfe, seine Mutter ist verzweifelt, hält ihn für krank und holt in ihrer Verzweiflung den Priester, der einen Exorzismus vorschlägt. Ado versucht vergeblich, abzuhauen, doch seine Eltern gehen sogar so weit, dass sie ihn fesseln und in seinem Zimmer einschließen. Dank einer Freundin im Dorf, die ihn versteht und etwas von seiner prekären Lage ahnt, bekommt er unerwartete und effektive Hilfe. Als ihr Versuch, die Polizei zu verständigen, fehlschlägt, unter anderem, weil der Dorfpolizist kurz vor der Rente steht, keinen Ärger haben und schon gar nicht sein Dorf bloßstellen will, ruft sie das Jugendamt in der Hauptstadt an, und tatsächlich kommt eine Vertreterin der Behörde in die Provinz. Doch ist sie tatsächlich so modern und unabhängig, wie sie erscheint? Und wird Ado seinen eigenen Eltern in den Rücken fallen? 

THREE MILES ist ein kleiner, feiner Film darüber, wie Korruption und mangelnde Bildung sowie fehlender Kontakt zur Außenwelt bereits im Kleinen verheerende Folgen haben können und wie gefährlich das mittelalterliche Denken ist, auch wenn es gut gemeint ist. Allein die Ankündigung des Priesters, wenn der Exorzismus nicht helfe, könne er Ado mit ins Kloster nehmen, da sei er sicher, lässt sich eher als Drohung verstehen, als effektive Hilfe.

The Girl with the Needle

The Girl with the Needle

Ähnlich konventionell erzählt ist Magnus von Horns THE GIRL WITH THE NEEDLE, der nach dem 1. Weltkrieg in Schweden spielt und auf einer wahren Geschichte beruht. In düsteren Schwarzweiß-Bildern erzählt er von Karoline, die als Näherin in einer Fabrik arbeitet und deren Mann im Krieg verschollen ist. Sie beantragt Witwenrente, doch ohne Sterbeurkunde kann ihr Chef das nicht genehmigen. Er hat aber Mitleid, findet Gefallen an der jungen Frau und beginnt ein Techtelmechtel mit ihr. In diesem Moment taucht ihr Mann auf, schwer entstellt von einer Kriegsverletzung. Karoline weist ihn ab, weil sie meint, mit dem Fabrikbesitzer etwas Besseres gefunden zu haben. Außerdem ist sie schwanger von ihm, doch er wird wegen der Standesunterschiede nicht zu seiner Vaterschaft stehen. So ist Karoline gezwungen, ihr Baby wegzugeben und landet schließlich bei Dagmar (Trine Dyrholm), einer Engelmacherin, die vielen Frauen weiterhilft, die ihre Kinder loswerden wollen, weil sie sie nicht versorgen können. Sie nimmt die Kinder auf und behauptet, sie an Familien weiterzuvermitteln, die ihnen ein besseres Leben bieten können. Auch Karoline findet bei ihr Unterschlupf und arbeitet für sie als Amme. Zunächst meint sie noch etwas Gutes zu tun, doch dann kommt sie hinter ein dunkles Geheimnis.

Magnus von Horn hat auch das Drehbuch geschrieben, das auf der wahren Kriminalgeschichte der dänischen Engelmacherin Dagmar Overbye beruht, die armen Frauen half, ihre ungewollten Babys loszuwerden und 1921 zum Tode verurteilt wurde. 

Bird

Bird

Acht Jahre nach AMERICAN HONEY kehrte Andrea Arnold mit BIRD (MFA) in den Wettbewerb zurück. Überzeugend in der weiblichen Hauptrolle: Nykiya Adams als zwölfjährige Bailey, die in dürftigen Verhältnissen im englischen Kent lebt und hin- und hergerissen ist zwischen Abhauen und Bleiben. Sie lebt mit ihrem Vater und mehreren Geschwistern in einem prekären Wohnblock. Ihr Vater kann zwar sehr liebevoll sein, ist aber oft aggressiv, trinkt, veranstaltet wilde Partys in seiner Wohnung und ist mit seinen Kumpels immer wieder in kriminelle Aktivitäten verwickelt. Nun steht er kurz vor der Hochzeit mit einer jungen alleinerziehenden Mutter, die er erst drei Monate kennt. Bailey ist wütend, fühlt sie sich doch schon jetzt mehr verantwortlich für ihre Geschwister als ihr Vater und ahnt, dass sich die Situation auch in Zukunft nicht bessern wird. Einen unerwarteten Verbündeten findet sie, als der titelgebende Bird auftaucht. Der von Franz Rogowski gespielte geheimnisvolle junge Mann mit einer Obsession für Vögel ist auf der Suche nach seinem Vater. Seine Mutter hatte ihn zur Adoption freigegeben. Doch das Jugendamt will und kann ihm nur wenig weiterhelfen. Er weiß nur, dass seine Mutter einmal im Wohnblock von Bailey gewohnt hat. Deshalb streift er dort umher und befragt die Bewohner. Bailey beschließt, ihm zu helfen.

Lange bleibt unklar, ob Bird nur ein „imaginary friend“ ist, den Bailey sich aus Einsamkeit und Verzweiflung ihrer Lage ausgedacht hat, oder ob er tatsächlich existiert. Überhaupt verschwimmen (Wunsch-)Traum und Wirklichkeit, Vision und Halluzination immer wieder, nicht nur bei Bailey, sondern auch bei ihrer häufig unter Alkoholeinfluss und Drogen stehenden dysfunktionalen Familie. Bei aller Tristesse und Unzugänglichkeit entschädigt uns Andrea Arnold mit poetischen Bildern und lässt am Ende Hoffnung aufkeimen: Denn Baileys Vater (herausragend gespielt von dem stets wandelbaren Barry Keoghan (SALTBURN, BANSHEES…) kann in zwei kurzen Szenen sein besseres Ich zeigen. Neben der jugendlichen Hauptdarstellerin glänzt wie immer Frank Rogowski, der sein Können in dieser geheimnisvollen Rolle voll ausspielen kann.

Caught by the tights

Caught by the tights

Als Roadmovie und Zeitreise zugleich kommt Meisterregisseur Zia Zhangkes (ASH IS THE PUREST WHITE und A TOUCH OF SIN) neues Werk CAUGHT BY THE TIDES (Rapid Eye Movies) daher, bei dem er zum großen Teil Material aus seinen vergangenen Filmen wie auch aus Archiven verwendet und diese in eine neue Geschichte verwebt. Geboren wurde diese Idee während der Corona-Pandemie. Die weibliche Hauptrolle der Qiao Qiao hat erneut seine langjährige Ehefrau Zhao Tao übernommen. Sie begibt sich in verschiedenen Zeitebenen auf die Suche nach ihrem verschwundenen Geliebten auf eine Reise quer durch China. Dabei gerät dessen Strukturwandel und die damit verbundene rigorose Umsiedlungspolitik der Regierung ebenso in den Blick wie die Auswirkungen von Klimawandel und Globalisierung einschließlich der jüngsten Covid-Krise. Qiao Qiao ist eine Vertreterin des Bewahrens einer eigenen individuellen kulturellen Identität, Fortschritt ist für sie ohne die eigene Tradition nicht denkbar. Das macht sie in einer Gesellschaft, die wenig Individualität zulässt, zwangsläufig einsam. 

So wird CAUGHT BY THE TIDES zu einem geschickt zusammengesetzten Mosaik aus unterschiedlichen Formaten, vom 16 Millimeter-Film bis hin zu 5D und Experimenten mit Künstlicher Intelligenz, ein Zeitdokument, das mehr erzählt als jede Geschichtsstunde. 

Panthenope

Panthenope

Seiner Heimatstadt Neapel wollte Paolo Sorrentino mit PARTHENOPE (Wild Bunch / Alamode) ein Denkmal setzen. Dass er das kann, wissen wir bereits seit GRANDE BELEZZA, wo er das Rom Fellinis neu auferstehen ließ. Doch zuhause tut er sich ähnlich schwer wie Giuseppe Tornatore und Ennio Morricone, die Gleiches für ihre Heimatstadt Palermo im Sinn hatten und mit BAARIA scheiterten. Ganz so schlimm ergeht es Sorrentino nicht, gelingen seinem Kameramann Daria d’Antonio doch Bilder von atemberaubender Schönheit, die Tradition und Moderne vor einer grandiosen Naturkulisse zwischen Neapel und Capri zusammenbringen, für die er als Bester Kameramann geehrt wurde. Doch dann schweift die Kamera immer wieder ab und nimmt Parthenope, meist leicht bekleidet, ins Visier. Sie ist eine Tochter aus gutem Hause und trägt den historischen Namen Neapels, doch ursprünglich stammt ihr Name von einer Sirene aus der griechischen Sagenwelt. Und beinahe so wie Odysseus geht es auch Sorrentino, er kann angesichts ihrer Schönheit nicht wegsehen und gerät gelegentlich gefährlich nah an eine Altherren-Fantasie. Partenope verdreht aber auch allen anderen Männern in Neapel den Kopf, hat gleich zwei Freunde, zwischen denen sie sich nicht entscheiden kann, und entdeckt schließlich die Vorzüge älterer Männer. An der Universität will sie Anthropologie studieren, wird aber bald vom Film als Schauspielerin abgeworben. Sie lernt den amerikanischen Schriftsteller John Cheever kennen, der sich als Lebenskünstler entpuppt und von Gary Oldman in einer fantastischen Performance, die an Thomas Manns Gustav Achenbach erinnert, kongenial dargestellt wird. 

Sorrentino feiert die Schönheit der Stadt, ihrer Bewohner, die Liebe und das Leben, und obwohl Neapel der einzige Ort auf der Welt ist, der dies alles vereint, sind die Neapolitaner immer etwas traurig und depressiv. Am Ende entscheidet sich Parthenope für die Anthropologie, nachdem ihr Professor ihr angedeutet hat, worum es in der Lehre der Menschheit geht. Es geht ums Sehen, denn das lernt man erst im Alter, wenn all diese Schönheiten verblassen und einem bewusst wird, was man die ganze Zeit besessen hat.  

Filmstill aus Megalopolis

Megalopolis

Sehnsüchtig erwartet worden war Francis Ford Coppolas MEGAPOLIS (Constantin), den er schon seit 40 Jahren als Idee eines epischen Science-Fiction-Films über eine utopische Version New Yorks mit sich herumträgt, aber nie finanzieren konnte. Jetzt hat er sein Herzensprojekt endlich umgesetzt und dafür Teile seines Weingutes verpfändet. Coppola will hier das Ende eines Imperiums bzw. einer Staatsmacht am Beispiel von New York zeigen und zieht eine Analogie zum Untergang des Römischen Reiches. Die These: eine Stadt bzw. Macht, die nicht mehr an sich und ihre Werte glaubt, ist dem Untergang geweiht. Die Stadt an der Ostküste ist hier sowohl finanziell als auch vom Gebäudebestand her durch eine nicht genannte Katastrophe heruntergekommen. Soziale Spannungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten verschärfen sich von Tag zu Tag aufgrund der immer größer werdenden Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Fast niemand will noch in die Stadt investieren oder hat die Mittel dazu. Doch der junge Star-Architekt Cesar Catilina (Adam Driver) hat noch eine Vision: von einer umweltfreundlichen Welt, einem Utopia, in der die Menschen friedlich und im Einklang mit der Umwelt zusammenleben. Doch er braucht Geld und steht im Konflikt mit Franklyn Cicero (Giancarlo Esposito), dem Bürgermeister von New York, der als Konservativer die alte Welt wiederherstellen bzw. restaurieren lassen will. Dafür lässt er sich ein mit dem reichen Unternehmer Hamilton Crassus III (Jon Voight), der in zahlreiche Korruptionsfälle involviert ist und dem die Umwelt und das Wohl der Bürgerinnen und Bürger egal ist, nur Profit und Macht sind ihm wichtig. Dies manifestiert sich auch in seinem Baustil, der phallische Hochhäuser favorisiert, während Cesars Entwürfe organisch und geschwungen sind und eher weibliche Formen haben.

Verbindendes Element ist die sich anbahnende Liebesgeschichte zwischen Cesar und Julia (Nathalie Emmanuel), der cleveren und eigensinnigen Tochter des Bürgermeisters,  die nach einem Sinn im Leben sucht und Cesars Visionen interessant findet, aber durch sie in einen Loyalitätskonflikt mit ihrem Vater gerät. Am Ende bleibt Coppolas Version hoffnungsvoll. Ein gemeinsames Kind von Cesar und Julia symbolisiert das Potential der Jugend, eine neue, bessere Zukunft aufzubauen, die alte Werte und neue technische Möglichkeiten zum Wohl und letztlich zum Erhalt der Menschheit vereint.

Leider ist MEGAPOLIS ziemlich komplex und überfrachtet und kann Coppolas Gedanken auch in 140 Minuten nicht wirklich auf den Punkt bringen. Ein interessantes Gedankenspiel, mit vielen Anspielungen auf das heutige Amerika, das wohl nicht sein Vermächtnis werden wird. 

The Apprentice

The Apprentice

Ali Abbasi (HOLY SPIDER) ist da wesentlich direkter und stellt das heutige Amerika bloß,  indem er die Lehrjahre von Donald Trump in THE APPRENTICE (DCM) genüsslich  zelebriert. Der Film war außerhalb des Wettbewerbs zu sehen und wartet mit zwei tollen Schauspielern auf, die das unerfreuliche Thema ausgesprochen unterhaltend in Szene setzen. New York In den 1970ern, Ed Koch übernimmt das Bürgermeisteramt  und versucht aus dem Sündenpfuhl eine renommierte Stadt zu machen. Zu dieser Zeit versucht sich Donald Trump (Sebastian Stan) im Immobilien-Imperium seines Vaters freizuschwimmen. Eine helfende Hand bekommt er von Roy Cohn, kongenial gespielt von Jeremy Strong. Er ist der Staranwalt der Stadt und findet Gefallen an dem jungen Donald, er lehrt ihn seine Grundsätze für den Erfolg: Nie aufgeben, keine Rücksicht auf andere nehmen, und immer sein eigenes Ziel verfolgen. Dass es dabei nicht nach dem Gesetz zugeht, gehört zum Geschäft, und so sind die Anwälte die wahren Helden dieser Stadt. Cohn und Trump werden zum Traumpaar, der eine prescht vor mit Projekten, die eher haarsträubend als wagemutig sind, und der andere sichert ihn ab. Da muss man auch mal den Bürgermeister erpressen, Cohn hat jedenfalls eine Sammlung von kompromittierendem Material, mit dem er die Großen der Stadt jederzeit unter Druck setzen  kann. So schaffen sie gemeinsam ein gigantisches Immobilien-Imperium auf Kosten ihrer Widersacher und der Bürger der Stadt. Irgendwie wünscht man sich ständig Batman herbei, der dem Treiben ein Ende bereiten soll, doch das geht munter weiter, selbst wenn am Ende Cohn an AIDS erkrankt. Trump lässt ihn einfach fallen und zieht sein Ding alleine durch, gnaden- und skrupelloser denn je, er ist erwachsen geworden.

Ali Abasi wird in diesem Biopic sehr konkret, erzählt von Trumps missgünstigem Vater, dem Selbstmord seines Bruders – einem Piloten, den sein Vater als Busfahrer mit Flügeln bezeichnet – und der Vergewaltigung seiner Frau Ivana. Das alles könnte die Herausbringung des Films verzögern, sind Trumps Anwälte doch längst am Start, könnte aber auch sein, dass Trump Gefallen an seiner Darstellung findet.

Neben dem Biographischen erklärt uns Abasi aber auch die neue Denkweise der Republikaner, die seit Reagan längst nicht mehr den demokratischen Werten oder der Verfassung folgen. Gesetze gelten immer nur für die anderen und die Durchsetzung eigener Ideen hat oberste Priorität. Dazu bedient man sich ganzer Anwaltskanzleien, die das Land solange mit Rechtsstreitigkeiten überziehen, bis sich die Justiz selbst ad absurdum führt und in der Öffentlichkeit den Eindruck eines schwachen Staates hinterlässt. Diese Ideologie ist noch skrupelloser als die der Mafia, weil nicht einmal Familienwerte zählen.

Limonov - The Ballad

Limonov – The Ballad

Ein erstaunliches Spiegelbild zu diesem New York-Bild der 70er und 80er Jahre lieferte Kirill Serebrennikov, der mit LIMONOV – THE BALLAD nach dem doch sehr speziellen PETROV’S FLU und seiner Putin-Provokation TCHAIKOVSKY’S WIFE endlich an sein Meisterwerk LETO (2018) anschließen konnte. Er erzählt uns von Eduard Limonov,  Gründer der Nationalbolschewistischen Partei, der 1974 aus Russland ausgewiesen wurde und im Westen als viel gefragter Dissident immer für einen coolen Spruch über das verkommene Russland gut war. 1990 kehrte er zurück und prägte die russische Kultur maßgeblich bis zu seinem Tod im Jahr 2020. Er war ein Messer schwingender Dichter, revolutionärer Kämpfer, Schläger, Untergrundschriftsteller, Kriegstreiber und politischer Agitator, aber auch ein Liebhaber schöner Frauen, ein Butler für einen Millionär in Manhattan und ein Romancier, der gern über seine eigene Größe schrieb. Seine Theorien sind in der Regel ziemlich grotesk und widersprüchlich, bergen aber immer auch einen wahren Kern. So setzt er dem D-Day entgegen, dass die Franzosen wahrscheinlich heute noch deutsch sprechen müssten, wenn nicht Millionen russischer Soldaten ihr Leben auf dem Schlachtfeld für deren Freiheit gegeben hätten. So gelingt ihm in einem Satz eine ungewöhnliche, aber dennoch überzeugende Geschichtsdeutung einfach durch den Wechsel der Perspektive. 

Für Serebrennikov sind das Vorgaben, die er meisterlich zu einem komplexen Film aus Idealen, Träumen und Zukunftsvisionen umsetzt, die die russische Wirklichkeit gerne mal ausblendet und Putin als unwesentliche Übergangserscheinung abtut. Das mag auf der einen Seite verharmlosend sein, gibt uns aber auch eine Idee von der russischen Seele, die er mit viel Temperament, authentischer Musik und allerlei Provokationen genüsslich in Szene setzt. Ein Rock-Abenteuer, das auf der Novelle von Emmanuel Carrère beruht und mit einem phänomenalen Ben Whishaw in der Hauptrolle überzeugt.

Außerhalb des Wettbewerbs als ‘Cannes Premiere’ war THE MARCHING BAND (Neue Visionen) des mehrfach ausgezeichneten französischen Filmemachers und Schauspielers Emmanuel Courcol (EIN TRIUMPH) zu sehen. Er erzählt von Thibault, einem international anerkannten Dirigenten, der an Leukämie erkrankt ist. Er braucht dringend einen Knochenmarkspender, doch die Genuntersuchungen in der eigenen Familie bringen nur zu Tage, dass er mit ihr gar nicht verwandt ist. Unter Tränen gesteht ihm die Mutter, dass er adoptiert wurde, und so macht er sich auf die Suche nach seiner leiblichen Familie. Die findet er auf dem Land unter eher ärmlichen Bedingungen wieder. Sein leiblicher Bruder reagiert zunächst mit Eifersucht auf den Pariser Emporkömmling, doch bald finden sie zueinander in ihrer gemeinsamen Liebe zur Musik. 

So gelingt Courcol ein amüsantes Brüder- und Buddy-Movie, das angesichts des tragischen Hintergrunds gelegentlich etwas zu leicht daherkommt, aber viel Spass macht.

The Balconettes

The Balconettes

Beides kann man noch mehr von THE BALCONETTES behaupten, der als Midnight Screening zu sehen war und mit dem CST-Preis für die Beste Kamerafrau ausgezeichnet wurde. Evgenia Alexandrova führt mit gesättigten Farben und einem durchsetzungsfähigen Lichtmanagement den Film von Noémie Merlant, den diese zusammen mit Céline Sciamma (PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN) geschrieben hat, von der Komödie zum Genre. Schon mit ihrer ersten Einstellung setzt sie den Drehort, einen idyllischen Hinterhof in Marseille, farbenfroh und lebensecht in Szene. An diesem heißen Sommertag findet das Leben hier ausschließlich auf den Balkonen statt, wo es recht lebhaft zugeht. Doch schon die zweite Einstellung führt uns in eine Wohnung, wo ein älterer Mann seine Frau misshandelt und ihrer Rache anheimfällt. Ab jetzt wird’s blutig.

Merlant erzählt von drei Frauen, die hier gemeinsam in einer WG wohnen. Sie sind vom Typ her völlig unterschiedlich: Ruby ist eine lebenslustige junge Frau, die sich gerne freizügig kleidet und sich als Cam-Girl über Wasser hält. Nicole (gespielt von der Regisseurin) arbeitet als Schauspielerin und ist fest liiert. Élise hingegen ist Schriftstellerin, ihr Leben spielt sich in ihrem Kopf ab, auch ihr Sexleben. Mit Anklängen an Hitchcocks REAR WINDOW beobachtet sie heimlich den schönen Nachbar gegenüber, dem das Trio eines Nachts, nach einem Tequilla zu viel, einen Besuch abstattet, der zu einer blutigen Affäre wird. 

Merlant hat hier ein feministisches Splatter-Spektakel geschaffen, farbenfroh, temporeich und mit der passenden Musik unterlegt.Es wird deutlich, dass sich hier eine Menge Unmut über die Herren der Schöpfung angesammelt hat, und das wird explizit, aber nicht ohne Humor geäußert. Die einen fanden das gut, andere zu sehr auf die Spitze getrieben. So ganz kann sich dem Charme dieses munteren Damen-Trios aber niemand entziehen.

Filmstill aus The Surfer

The Surfer

Ein weiterer spannender Beitrag in der Reihe “Midnight Movie” war Lorcan Finnegans  neuer Film THE SURFER, der seine umjubelte Premiere in Anwesenheit von Nicolas Cages feierte. Cage spielt hier einen namenlosen nach Kalifornien übergesiedelten Australier, der innerhalb kürzester Zeit in seiner alten Heimat zum im Müll wühlenden Wilden mutiert. Wie konnte es so weit kommen? Alles beginnt ganz harmlos. Cage nimmt seinen Sohn mit zum Traumstrand seiner Jugend, um mit ihm gemeinsam zu surfen. Dort hatte sein Vater ein Haus und eben dieses will er für seinen Sohn und seine Frau  zurückkaufen. Doch die hat ihn verlassen und sich einem anderen zugewandt. Auch mit dem Haus läuft es nicht gut. Wie ihm sein Makler am Handy mitteilt, bietet jemand hartnäckig mit. Noch schlimmer kommt es, als er mit seinem Sohn den Strand betritt. Eine einheimische Surfer-Gruppe versperrt ihnen den Zugang und bedroht den in ihren Augen ‘Fremden’: “Don’t live here. Don’t surf here”, so die klare Ansage ihres Anführers Scully. Natürlich will Cage sich das nicht gefallen lassen, doch das ist leichter gesagt als getan, und so werden wir Zeugen eines Niedergangs.

Bald steht er ohne alle Insignien seines früheren Wohlstandes da, ohne sein Luxusauto, seine Schuhe, sein teures Handy, selbst die von seinem Vater geerbte Uhr und später seinen Ehering wird er los. Andere Touristen und Surfer, die an den Strand kommen, halten ihn für einen Obdachlosen. Da macht ihm der teuflisch-sektenhafte und charismatische Anführer der BayBoys ein verlockendes Angebot…

Unserem Protagonisten wird so lange übel mitgespielt, bis der friedliche, für Demokratie und Kapitalismus stehende Mann so gereizt ist, dass er gewaltbereit ist. Dies wiederum ist für Scully erst die erste Stufe, um in seinen Club aufgenommen zu werden. Doch es müssen noch zwei weitere Prüfungen bestanden werden. Ein an den Strand gespülter Toter zu Beginn des Films verheißt hier nichts Gutes. Am Ende ist Cage nicht nur äußerlich heruntergekommen. Brillant gespielt, ein kluges Drehbuch und passgenaue Bilder machen THE SURFER zu einem der überraschenden Höhepunkte des diesjährigen Festivals.

An ordinary case

An ordinary case

Als Special Screening war Daniel Auteuils zweite Regiearbeit AN ORDINARY CASE zu sehen. Er selbst spielt den desillusionierten, in die Jahre gekommenen Anwalt Jean Monier, der sich noch einmal eines Falls annimmt. Irgendwie ist ihm der wegen Mordes an seiner Frau angeklagte Nicolas Milik sympathisch, er traut dem fünffachen Familienvater eine solche Tat jedenfalls nicht zu und hält ihn für unschuldig. Doch die Indizien sind erdrückend, und trotz all seiner Bemühungen wird sein Klient zu 20 Jahren verurteilt. Für Monier nur eine weitere  Niederlage, die ihn am französischen Rechtssystem zweifeln lässt. Doch als ihm später eine Schöffin erzählt, dass das Urteil anders ausgefallen wäre, wenn nicht die Richterin Einfluss auf die Jury genommen hätte, geht er der Sache nicht einmal nach. Dennoch kommt er noch einmal mit dem Fall in Berührung, wenn sich der Verurteilte nach drei Jahren bei ihm meldet, um ihm zu beichten, dass er nicht nur seine Frau umgebracht, sondern auch seine Kinder sexuell missbraucht hat. Daniel Auteuil hat da einen inspirationslosen Fernsehfilm inszeniert, der wohl nur aus Respekt vor seiner Lebensleistung ins Programm genommen wurde.

Savages

Savages

Die schweizerisch-belgisch-französische Koproduktion SAVAGES  unter der Regie von Claude Barrat (MEIN LEBEN ALS ZUCCHINI) ist ein niedlicher kindgerecht gestalteten Animationsfilm für die ganze Familie, der eine europäische Alternative zu Disney bieten will. Zu Beginn wird die Mutter eines Baby-Orang-Utans – Erinnerungen an Bambi werden hier wach – von Waldarbeitern getötet, die den tropischen Regenwald in Borneo roden. Angelehnt an die Tarzan-Saga werden hier die Verhältnisse umgekehrt. Der Baby-Orang-Utan wird von einer kleinen Ureinwohnerin namens Kéria gerettet und zu Hause aufgenommen. Doch auch ihr Zuhause ist gefährdet und muss wahrscheinlich bald den Rodungen weichen. Ihr Vater arbeitet für die Rodungsfirma, um Geld für die Familie zu verdienen, wohl wissend, dass er an dem Ast sägt, auf dem er selbst sitzt. Als Kéria die Zusammenhänge begreift, ist sie einerseits wütend auf ihren Vater, will aber auch selbst aktiv werden. Sie beschließt, die Arbeiter zu vertreiben, indem sie Feuer legt, dieses breitet sich aber schnell aus und gefährdet erst recht ihr Zuhause, den Wald und seine Tiere. Ihr Vater schärft ihr ein, Ungerechtigkeiten niemals mit Gewalt zu lösen. Auf der Suche nach einer Alternative hat Kéria eine zündende Idee.

Dem Film gelingt es, einem jungen Publikum, die komplizierten Zusammenhänge rund um den Schutz des Regenwaldes nahezubringen und bietet nach der Vorführung und zu Hause sicher jede Menge Diskussionsstoff für Groß und Klein.

The Shameless

The Shameless

Ein ganzes Sammelsurium an Problemen, die indische Frauen erleiden müssen, zeigt der bulgarischen Regisseur Konstantin Bojanov in THE SHAMELESS, der in der Nebenreihe Un Certain Regard zu sehen war. Er erzählt die Geschichte einer muslimischen Prostituierten, die auf der Flucht ist, weil sie einen Polizisten umgebracht hat. Sie nimmt den Hindu-Namen Renuka an und kann so in einem Bordell in Nordindien unterkommen. Die anderen Prostituierten meiden Renuka, sind sie doch von ihrer Lebenserfahrung und ihrem schroffen Selbstbewusstsein abgeschreckt. Nur Devika, für die ein Leben als Tempelprostituierte vorgesehen ist, ist von ihr fasziniert. Renuka lässt die Annäherung zu und führt Devika behutsam in die lesbische Liebe ein. Sie bringt ihr aber auch andere Dinge bei, wie zum Beispiel Kiffen, Männerhass, das Eintreten für  Frauenrechte und die Infragestellung bestimmter Traditionen. Das verärgert nicht nur Devikas Mutter, die ihre Tochter als Devadisa teuer verkaufen wollte, sondern macht auch in dem eher abgelegenen Dorf die Runde.

Es ist wohl nicht das Interesse des Regisseurs, uns behutsam in indische Traditionen und Wertvorstellungen einzuführen, vielmehr lässt er diese fulminant aufeinanderprallen, um sie ad absurdum zu führen. Dank seiner Hauptdarstellerin Anasuya Sengupta, die in dieser Sektion als Beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde, gelingt ihm eine emotionale Dichte, die einige Zuschauerinnen zu Heulkrämpfen rührte. Ein provokativer Film, streitbar, europäisch aber auch ungemein bewegend.

Dog on trial

Dog on trial

Mit DOG ON TRIAL gab die französische Schauspielerin Laetitia Dosch (Bonjour, Paris) ihr Regiedebüt. Darin befasst sie sich mit einem wahren Fall. Der Therapiehund Cosmos hat schon drei Frauen durch Bisse verletzt und wurde vor Gericht dafür angeklagt.  Mögliches Urteil: die Todesstrafe, d.h. er muss eingeschläfert werden, wenn das Gericht feststellt, dass er auch in Zukunft eine Gefahr für Leib und Leben darstellt. Denn ein Hund wird nach wie vor Gericht als Sache behandelt. In einigen Ländern wie England oder Frankreich gibt es aber schon verschiedentlich Bestrebungen, hier ein Umdenken in Gang zu setzen. Denn Hunde zeigen Emotionen, können sich freuen, Angst und Schmerz empfinden. So sieht es jedenfalls die auf hoffnungslose Fälle spezialisierte Anwältin Avril (gespielt von Dosch selbst), die sich geschworen hat, ihren nächsten Fall zu gewinnen. Und so lässt sie sich bei der Verteidigung auch nicht durch Niederlagen von ihrem Ziel abbringen und bietet immer mehr Expertisen und Experten zu Cosmos’ Verteidigung auf: von Ethik-Experten bis hin zu Philosophen müssen alle aussagen, die dem Tier helfen können. So schafft sie einen einzigartigen Präzedenzfall, der viele Fragen aufwirft und eine Berufung des Falls beim Europäischen Gerichtshof ermöglicht.

Dosch geht ihren Erstling heiter an, baut viele witzige Momente ein und schafft so eine Wohlfühlkomödie mit viel Potential für einen erfolgreichen Arthouse-Einsatz. Der Hund wurde für seine Rolle mit dem beliebten Sonderpreis Palm Dog ausgezeichnet.

Black dog

Black dog

Im Gegensatz zu DOG ON TRIAL, der trotz fehlendem Happy End eher als Wohlfühlfilm für ein bürgerliches Publikum konzipiert ist, ist der chinesische Erstlingsfilm BLACK DOG (Filmwelt) ein Meisterwerk der Filmkunst. Mit großartigen Bildern von archaischen Landschaften und einem Blick für das normale Leben der kleinen Leute jenseits der großen Politik, zeigt er im Kleinen auf, was falsch läuft ‘da oben’ und wie viel bewirkt werden kann, wenn die “Underdogs” der Gesellschaft zusammenarbeiten – wie schon in DOGMAN aus dem Jahr 2023. Auch ein Bezug zum chinesischen Wettbewerbsbeitrag CAUGHT BY THE TIGHTS ist hier erkennbar: in der Thematisierung der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Chinas in den letzten Jahrzehnten und der Anteilnahme gegenüber den Menschen, die davon nicht profitieren können.

Im Mittelpunkt steht der ehemalige Stunt-Motorradfahrer Lang. Nach einer Inhaftierung kehrt er in seine Heimatstadt am Rande der Wüste Gobi zurück. Zuvor war er eine lokale Berühmtheit, doch nun muss er ganz von vorne anfangen. Er verdingt sich als Hundefänger im Rahmen eines Programms der Regierung zur Beseitigung unerwünschter Tiere im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008. Zudem hat er den Gangster Butcher Hu und seine Gefolgschaft auf dem Hals. Der hält ihn für schuldig am Tod seines Neffen und will sich rächen. Langs ausweglose Lage ändert sich durch den titelgebenden schwarzen Hund, ein herumstreunender Wildhund, mit dem das Schicksal es ebenfalls nicht gut gemeint hat und der ihm in einer scheinbar ausweglosen Lage hilft. Auf das Tier ist ein Kopfgeld ausgesetzt und als er gefangen wird, rettet ihn Lang und schließt mit ihm eine symbiotische Freundschaft, die sein Leben für immer verändern wird. Hierfür gab es gleich zwei Preise: den Hauptpreis der Reihe Un Certain Regard und den Palm Dog Grand Jury Preis für den Hund, quasi die “Silbermedaille” in dieser Kategorie. Die Freundschaft der beiden hielt auch über die Dreharbeiten hinaus: Hauptdarsteller Eddie Peng adoptierte den Hund nach dem Film auch im wirklichen Leben. 

The Damned

The Damned

Als Bester Regisseur in der Reihe Un Certain Regard THE DAMNED wurde Roberto Minervis gekürt. Er erzählt von einer Gruppe Freiwilliger im amerikanischen Sezessionskrieg Mitte des 19. Jahrhundert, die in die westlichen Territorien geschickt wurden, um an den Grenzen zu patrouillieren und Ordnung in den freien Gebieten zu schaffen. Die Zuschauer können ihre schwierige Mission hautnah verfolgen, doch der Erzählfluss ist ausgesprochen langsam, so dass es schon einen langen Atem braucht, um bis zum Ende durchzuhalten. Auch die Soldaten selbst zweifeln immer mehr an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns. Neben den beeindruckenden Bildern der kargen Landschaft Montanas zeigt der Film eine nicht von der Hand zu weisende Aktualität: Er erzählt von einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, Soldaten kämpfen gegen ihr eigenes Volk und sind doch selbst die Leidtragenden dieser Situation. 

Armand

Armand

­Die Goldene Kamera für den besten Erstlingsfilm gewann ARMAND (Pandora) von Halfdan Ullmann Tøndel, einem Enkel von Ingmar Bergman. Er erinnert ein wenig an Polanskis GOTT DES GEMETZELS, spielt allerdings nicht in einem New Yorker Luxusappartement, sondern in den Schulräumen einer norwegischen Grundschule. Hierhin wird Elizabeth (Renate Reinsve aus THE WORST PERSON IN THE

WORLD) gerufen, um von der Klassenlehrerin ihres sechsjährigen Sohnes mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, dass dieser einen Mitschüler auf der Schultoilette sexuell missbraucht habe Ein ungeheuerlicher Vorwurf, der angesichts des Alters der Jungen  gewissermaßen phantastisch erscheint. Doch die Schulleitung sieht hier ein größeres Problem und überlegt sogar, die Polizei hinzuzuziehen. Doch vorher will man mit den Eltern reden. So sitzt Elizabeth auf einmal dem Schuldirektor, einer hinzugezogenen Sonderpädagogin und den Eltern des vermeintlich missbrauchten Jungen gegenüber, ohne selbst mit ihrem Sohn über den Vorfall sprechen zu können. 

Wie bei Polanski kommen die beiden Jungs in dem Film gar nicht vor und wie bei VON VÄTERN UND MÜTTERN, der zurzeit noch in unseren Kinos zu sehen ist, geht es auch nicht um sie. Vielmehr projizieren die Eltern eigene Probleme miteinander auf ihre Kinder und tragen sie auf deren Rücken aus. Bei Polanski war das ein kurzes, schnörkelloses Kammerspiel, das die Sache schnell auf den Punkt brachte. Ullmann Tøndel bemüht dagegen ein Drehbuch Bergmannschen Ausmaßes, um die einzelnen Charaktere psychologisch immer weiter zu durchleuchten, obwohl der Zuschauer längst verstanden hat, was er uns sagen will.

This life of mine

This life of mine

Sophie Fillières ist bei uns nicht so bekannt wie in Frankreich. Hier hat sie mit Sandrine Kiberlain, Chiara Mastroianni, Mathieu Amalric, Melvil Poupaud und André Dussolier zusammengearbeitet. Ihr siebter eigener Film THIS LIFE OF MINE (Filmwelt), für den sie sich Agnès Jaoui als Hauptdarstellerin aussuchte, eröffnete die Quinzaine. Die Veranstaltung stand in einem traurigen Zusammenhang, denn Fillières erkrankte und starb kurz nach den Dreharbeiten. Nach dem Film luden ihre beiden Kinder Agathe und Adam Bonitzer zum Q&A und erzählten, wie sie auf Wunsch ihrer Mutter den Film fertiggestellt haben. Auch Agnès Jaoui war dabei und berichtete, dass ihr schon der Titel des Films (MA VIE MA GUEULE) gut gefallen hätte. Sie hatte das Buch in einer Nacht gelesen und war begeistert vom Humor, der Poesie und seiner Einzigartigkeit. “Es war mehr ein Stück Literatur als ein Drehbuch”, sagte sie in Cannes. 

Im Film spielt sie Barberie Bichette, eine gestandene Frau in den Fünfzigern. Ihr ganzes Leben hat sie versucht, ihrem Mann eine großartige Liebhaberin, den Kindern eine gute Mutter und im Büro eine verlässliche Kollegin zu sein. Doch das war, bevor sie 55 Jahre wurde. Nun fällt sie öfter mal aus der Rolle, erfüllt nicht die Erwartungen der anderen, was  die Dinge dunkler, unvorhersehbarer, manchmal sogar gewalttätig und oft absurd werden lassen. Irgendwie ist das Ganze eine Art Midlife Crisis einer Frau, nur wird sie ihr von der Gesellschaft nicht zugestanden. Wenn Frauen nicht mehr so funktionieren, wie man es von ihnen erwartet, dann müssen sie wohl krank sein. Agnes Jaoui jedenfalls spielt diese Rolle, als hätte man sie ihr auf den Leib geschrieben und macht diesen Film zu einem sehenswerten Frauenfilm.

Christmas Eve at Miller's Point

Christmas Eve at Miller’s Point

Auch einen Weihnachtsfilm gab es in diesem Frühling an der Croisette: CHRISTMAS EVE IN MILLER’S POINT von Tyler Taormina. Der war nicht nur wunderbar nostalgisch, sondern konnte auch mit einer Reihe bekannter Namen aufwarten – von Martin Scorseses Tochter Francesca bis hin zu Steven Spielbergs Sohn Sawyer Spielberg.Die Erinnerungen des Spielberg-Sprosses an die Weihnachtsfeiern seiner Kindertage  und die Erinnerungen des Regisseurs selbst, sind in das Drehbuch eingeflossen. Im Film kommt eine Großfamilie zum Weihnachtsfest zusammen, es wird gegessen, getrunken, man unterhält sich, streitet sich, zieht sich zuweilen zurück, um auch einmal alleine zu sein, denkt über sein Leben nach, sowie über verwirklichte und verpasste Chancen. Während im ersten Teil die ältere Generation zum Zuge kommt, ist die zweite Hälfte ganz der Jugend gewidmet, die nach dem Essen aufbricht, um das nächtliche Long Island für sich zu erobern. Was den Film so berührend macht, ist eine von Taormina wunderbar eingefangene bittersüße Melancholie, die bisweilen selbst die Jugend erfasst. So empfiehlt sich die gelungene Mischung aus Nostalgie und Aufbruchstimmung als idealer Festtagsfilm für die ganze Familie.

 

Insgesamt galt für die Nebenreihe das Gleiche wie für den Wettbewerb: Der ganz große Wurf war nicht dabei, aber Filmfreunde können sich auf eine enorme Vielfalt an Themen, Genres und die erstklassigen Schauspielerinnen und Schauspieler freuen.