Mit dem Gewinn des Goldenen Löwen für den ersten englischsprachigen Langfilm Pedro Almodóvars THE ROOM NEXT DOOR (Warner) ging die 81. Ausgabe des Filmfestivals in Venedig zu Ende. Mit seinem beeindruckenden Darstellerinnen-Duo und einer bewegenden Geschichte konnte Almodovar die Jury überzeugen und auch erstmals einen Hauptpreis bei einem internationalen Festival für sich entscheiden.
In englischer Sprache zu drehen ermöglicht Almodóvar, internationale Weltstars vor seine Kamera zu holen und seine Filme weiter zu öffnen, da er nicht mehr nur auf sein spanisches Personal (Penelope Cruz, Maria de Medeiros, Carmen Maura, Rossy de Palma) angewiesen ist. Dass er mit Tilda Swinton unbedingt noch einmal zusammenarbeiten wollte, hatte er schon bei der Premiere seines Kurzfilms THE HUMAN VOICE 2020 in Venedig beteuert und nun hat er ihr Julianne Moore an die Seite gestellt.
Die beiden spielen zwei New Yorker Freundinnen, die sich im Laufe ihres bewegten Lebens ein wenig aus den Augen verloren haben. Die von Swinton gespielte Marta ist Kriegsreporterin, doch kann sie ihren Beruf nicht mehr ausüben, da sie an Krebs im Endstadium erkrankt ist. Julianne Moore spielt Ingrid, eine erfolgreiche Buchautorin, die sich in ihren Werken vor allem mit der Angst vor dem Tod auseinandersetzt. Als sie bei einer Buchpräsentation von Martas Erkrankung erfährt, setzt sie sich mit ihr in Verbindung und besucht sie bald regelmäßig, um sie zu trösten und zu unterstützen. Dabei schwelgen die beiden in Erinnerungen an ihre gemeinsame frühere Zeit bei einer Zeitschrift, sprechen aber auch über Kunst und Kultur, Reue, über verpasste Gelegenheiten und die eigene Sterblichkeit. Auf eine echte Probe wird ihre Freundschaft gestellt, als Marta Ingrid bittet, mit ihr in ihr Landhaus zu kommen, wo sie ihrem Leben mittels eines im Darknet besorgten Medikaments ein Ende setzen möchte.
“Ich wollte ein klares Zeichen für Sterbehilfe setzen!” betonte Almodóvar in Venedig. Es gehe um die persönliche Freiheit des Menschen, sein Recht, nicht die Krankheit entscheiden zu lassen, wann das Ende naht, sondern selbst die Zügel in der Hand zu behalten.Trotz des schweren, manchmal deprimierenden Themas, behält bei Almodóvars Inszenierung eine gewisse Leichtigkeit die Oberhand. Dafür sorgen in erster Linie die beiden Hauptdarstellerinnen, aber auch die Leuchtkraft und Farben seiner Bilder, die zuweilen wie gerahmte Kunstwerke wirken, und eine die ernsten Diskussionen auflockernde Prise Humor.
Ganz allgemein waren die diesjährigen Filmfestspiele am Lido wieder ein Festival der starken Frauenfiguren, was sich auch in den weiteren Preisen niederschlug. So war z.B. der Große Preis der Jury für Maura Delperos VERMIGLIO eine Überraschung. Er spielt im gleichnamigen Bergdorf im Trentino gegen Ende des 2. Weltkriegs und wurde von der eigenen Familiengeschichte der Regisseurin inspiriert. Das eher behäbig inszenierte Werk schildert das Leben einer kinderreichen gottesfürchtigen Tiroler Familie, die von patriarchalischen Strukturen geprägt ist. Der Vater ist der Lehrer des Dorfes, hoch angesehen und hat seine Familie fest im Griff. Deren Lebenswirklichkeit ist von ihrer kargen Umgebung geprägt, die täglichen Routinen bieten wenig Abwechslung oder die Möglichkeit sich jenseits des Familienkosmos zu verwirklichen. Dies gilt ganz besonders für die Töchter. Doch als ein Soldat aus Sizilien bei ihnen Unterschlupf sucht und findet, gewinnt das Geschehen an Dynamik. Die älteste Tochter verliebt sich in ihn und wird prompt schwanger. Die beiden heiraten, eine Wendung zum Guten bedeutet dies jedoch keineswegs. Eingeteilt in vier Abschnitte, die in den vier verschiedenen Jahreszeiten spielen und thematisch von Vivaldis gleichnamigem Musikwerk begleitet werden, bleibt der Winter zu Beginn am nachdrücklichsten im Gedächtnis. Die bildgewaltig eingefangene Bergwelt wirkt verschlossen wie ihre Bewohner und übt doch nach einer Weile eine gewisse Faszination aus, der sich wohl auch die Jury nicht entziehen konnte.
Auch nicht ganz unumstritten war der Coppa Volpi für Nicole Kidman als beste Hauptdarstellerin in BABYGIRL (Constantin). Wahrscheinlich war Jurypräsidentin Isabelle Huppert hier nicht ganz unschuldig, gilt sie doch als Fan ungewöhnlicher, provokanter Frauenfiguren. Kidman verkörpert im Film der Niederländerin Halina Reijn eine erfolgreiche, verheiratete Geschäftsfrau, die in einer Affäre mit einem wesentlich jüngeren Praktikanten zum ersten Mal ihre masochistischen sexuellen Phantasien auslebt. Ein Tabubruch in jeder Hinsicht, gilt Romy doch bei ihren Angestellten als Vorbild, in das die Erniedrigung durch einen untergebenen Angestellten nicht hinein passt. So sieht es auch ihre jüngere Assistentin, die hinter die Affäre kommt. Doch nicht zuletzt die Gefahr der Aufdeckung ist es, was die Affäre für sie so reizvoll macht.
BABYGIRL ist weniger ein Thriller als eine Selbstentdeckungsreise in die Welt der eigenen Wünsche und Bedürfnisse und in die Strukturen von Macht und Unterwerfung. Nicole Kidman verkörpert perfekt den schwierigen Balanceakt zwischen Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit. Dabei konnte sie ihre Erfahrung aus Kubricks EYES WIDE SHUT sicher gut einbringen, an dessen Virtuosität dieser Erotikfilm allerdings nicht herankommt.
Ein großer Kritiker-Liebling mit starker weiblicher Protagonistin – bis zum Screening von THE ROOM NEXT DOOR lange führend im Kritikerspiegel – war Walter Salles Drama I’M STILL HERE (AINDA ESTOU AQUI), der weitgehend während der Militärdiktatur in den siebziger Jahren in seinem Heimatland Brasilien spielt und auf wahren Geschehnissen beruht. Fernanda Torres als Mutter der siebenköpfigen Familie Paiva, die von der unpolitischen Hausfrau zur engagierten Menschenrechtsaktivistin wird, hätte sicherlich den Coppa Volpi ebenso verdient gehabt.
Das Familienidyll der Paivas wird auf den Kopf gestellt, als Vater Rubens, ein früherer Kongressabgeordneter und Regierungskritiker, plötzlich ohne Vorwarnung von bewaffneten Regime-Vertretern zu einer Befragung abgeholt wird und nie wieder zurückkehrt. Mutter Flavia ist fortan genötigt, die Familie allein durchzubringen. Gleichzeitig lässt sie nicht nach in ihren Bemühungen, Nachforschungen zum Verbleib ihres Mannes anzustellen. Erst mehr als vier Jahrzehnte später sind diese von Erfolg gekrönt und sie erhält die offizielle Todesbescheinigung. Um die Fallhöhe deutlich zu machen, lässt sich Salles bewusst viel Zeit und schildert das glückliche Familienleben vor dem Verschwinden des Familienoberhauptes besonders ausführlich und macht so die psychische Belastung deutlich, denen Angehörige verschwundener Menschen ausgesetzt sind. Dieser psychischen Folter des Regimes setzt die Familie hier die gemeinsame Erinnerung entgegen, und das Bemühen, für die Nachwelt Klarheit über die Untaten der vor Massenmord und Folter nicht zurückschreckenden Diktatur zu schaffen. Vorlage für den Film war die Autobiographie des Sohnes von Rubens Paiva.
Den Marcello Mastroianni Award für den besten Nachwuchsdarsteller ging an Paul Kirchner für seine Rolle in AND THEIR CHILDREN AFTER THEM (LEURS ENFANTS APRÈS EUX) der französischen Zwillingsbrüder Ludovic und Zoran Boukherma. Er spielt darin den 14-jährigen Teenager Anthony, der 1992 in einer deindustrialisierten Kleinstadt im Osten Frankreichs aufwächst. Vier Sommer lang begleitet der Film ihn auf seinem Weg, erwachsen zu werden. Gemeinsam mit seinem Cousin streift er durch die verlassenen Fabrikruinen der Gegend, die erahnen lassen, dass das von Arbeitslosigkeit geprägte Städtchen einmal bessere Zeiten erlebt hat. Auch um die Ehe seiner Eltern ist es nicht gut bestellt. Sein Vater ist Alkoholiker und Anthony versucht, sich so gut wie möglich von ihm fernzuhalten. Ein Lichtblick in Anthonys Leben ist die etwas ältere Steph, in die er sich verliebt. Im Gegensatz zu ihm kommt sie aus einer Mittelklasse-Familie und als sie ihn zu einer Party einlädt, will er standesgemäß vorfahren und leiht sich dafür unerlaubt das wertvolle Motorrad seines Vaters aus. Prompt wird die Yamaha geklaut – von Hacine, einem marokkanischen Gastarbeitersohn, der die Maschine lieber in Brand setzt als sie zurückzugeben – Basis für eine jahrelange Feindschaft zwischen den beiden.
Paul Kirchners überzeugende Darstellerleistung ist das große Pfund in diesem etwas zu lang geraten melodramatischen Coming-of-Age-Film. Das Script basiert auf dem gleichnamigen hochgelobten Roman von Nicolas Mathieu. Doch während dieser die Klassen- und Rassengegensätze zwischen den Protagonisten schärfer fokussiert und vor allem der Figur des Hacine mehr Aufmerksamkeit schenkt, verzichtet der Film darauf und lässt diesen Teil der Geschichte fast wie einen Fremdkörper wirken.
Der Coppa Volpi für den besten Darsteller ging an Vincent Lindon, der in THE QUIET SON von den Schwestern Delphine und Muriel Coulin einen Vater spielt, dessen Sohn in rechtsradikale Kreise gerät und schließlich wegen
Mordes im Gefängnis landet. Auch wenn es meistens Spaß macht, Lindon auf der Leinwand zuzusehen, hätten sich für diesen Preis andere Schauspieler empfohlen.
So zum Beispiel Daniel Craig, der in Luca Guadagninos recht eigenwilliger Adaption von William S. Burroughs’ semi-autobiographischem Roman QUEER den Amerikaner Lee spielt. Er muss die Vereinigten Staaten verlassen, weil ihn dort sein exzessiver Drogenmissbrauch ins Gefängnis bringen würde. Nun weilt er in Mexiko City, schlendert im weißen Leinenanzug durch die Straßen und strahlt, während er Ausschau nach hübschen Jungs hält, eine morbide Melancholie aus, die einen an John Hustons Verfilmung von Malcolm Lowrys UNTER DEM VULKAN erinnert, damals mit Albert Finney in der Hauptrolle. Im Gegensatz zu Guadagninos wunderbar metaphorischen Bildern in YOU CAN CALL ME BY YOUR NAME wirkt QUEER eher künstlich und studiohaft. Dafür muss Daniel Craig vollen Körpereinsatz leisten, die Sexszenen sind so explizit, dass dem Bond-Darsteller auch schon mal Sperma das Gesicht runterläuft. Darüber hinaus spielt der ehemalige Agentenheld seine Rolle ausnehmend gut. Dass es trotzdem zwischen den Liebenden nicht so recht funken will und auch zur Romanvorlage stets eine gewisse Distanz herrscht, liegt wohl eher an Guadagninos distanzierter Inszenierung, die Burroughs erst im letzten Drittel näher kommt, wenn sich Lee zu einem Selbstfindungs-Drogen-Trip nach Südamerika aufmacht und der Film sich im Surrealen verliert.
Abgesehen von Daniel Craigs preiswürdiger Performance kommt der Film weder dem Roman noch dessen Autor wirklich nahe, sondern bleibt eine eigenwillige Adaption Guadagninos, die aufgrund ijrer Explizität nur eine kleine Zielgruppe haben wird.
Breiter aufgestellt war dagegen Pablo Larrains MARIA (StudioCanal), ein Tribut an Maria Callas, die hier von Angelina Jolie verkörpert wird. Larrain ist bereits zum dritten Mal mit einem großen Frauenporträt am Lido vertreten. 2016 holte sein Präsidenten-Ehefrau-Biopic JACKIE den Drehbuchpreis, 2021 rechnete er in SPENCER mit dem englischen Königshaus ab, und nun erzählt er aus dem tragischen Leben von Maria Callas. Dabei konzentriert er sich auf die letzte Woche ihres Lebens, wo sie tablettensüchtig und todkrank zusammen mit ihrem treuen Hauspersonal um ein Comeback kämpft.
In Rückblenden inszeniert er sie als Diva, wofür er mit Angelina Jolie eine kongeniale Darstellerin gefunden hat. Sie kann ihre Unnahbarkeit, Einsamkeit und Zerbrechlichkeit in jeder Szene fühlbar machen und zeigt die Operndiva als die vielleicht selbständigste Frau ihrer Zeit, der niemand sagt, was sie zu tun oder zu lassen hat. Trotzdem war sie vereinsamt und lebte in einem goldenen Käfig, den sie nur für ihre Bühnenauftritte verlassen konnte. Diese inszeniert Larrain in großartigen Rückblenden, mit betörenden Bildern von opulenten Kostümen und unvergessenen Bühnenauftritten, denen er geschickt neben der Stimme von Jolie die damaligen Originalaufnahmen beimischt, die diesen Film nicht nur zu einem Augen-, sondern auch zu einem Ohrenschmaus machen.
Die Irrungen und Wirrungen im Liebesleben dreier Freundinnen stehen Mittelpunkt von Emmanuel Mouretks THREE FRIENDS (TROIS AMIS), der sich ein wenig in die Länge zog und durch seine allzu große Dialoglastigkeit ermüdete.
Joan fühlt sich nicht mehr zu ihrem Mann Victor hingezogen und ist unglücklich darüber. Ihre beste Freundin Alice findet das gar nicht so schlimm, ihr gehe es genauso, die große Leidenschaft sei vorbei, doch ihre Ehe funktioniere trotzdem wunderbar. Was sie nicht ahnt: ihr Mann Eric hat eine Affäre mit der dritten Freundin im Bunde, Rebecca.
Diese Grundkonstellation ist nur der Anfang für weitere, nicht enden wollende Verwicklungen, die genüsslich zelebriert werden. Leider fehlt den Dialogen jedoch der nötige Esprit, um die Spannung über den gesamten Handlungsverlauf aufrecht zu halten. Interessant ist die gewählte Erzählperspektive. Nachdem Joan ihrem Mann ihre Gefühle für ihn gestanden hat, flieht er in eine Bar und kommt auf dem Rückweg bei einem Unfall um. Aus dem Off berichtet er nun quasi aus höherer Perspektive von den Geschehnissen. Insgesamt ein eher enttäuschender Wettbewerbsbeitrag.
Da macht es Altmeister Claude Lelouch schon besser. In FINALLY (FINALEMENT, außer Konkurrenz), seinem 51. Film, scheint der in Venedig mit dem Filmmaker-Award ausgezeichnete 86-jährige auf sein Leben und Wirken zurückzuschauen. Sein Alter Ego ist ein gewisser Lino Massaro, dessen Name sich aus Lino Ventura und dem Protagonisten, den er in Lelouchs Film MONEY MONEY MONEY spielt, zusammensetzt. Gespielt wird er von Kad Merad, der uns hier auf eine wirklich mysteriöse Reise mitnimmt. Von der Normandie nach Süden Richtung Avignon trampt Lino quer durchs Land und tischt den Menschen, denen er begegnet, die unglaublichsten Geschichten auf. Einmal ist er ein pädophiler Priester auf der Flucht, dann Pornoregisseur und schließlich ein gesuchter Verbrecher. Es wirkt ein wenig, als wolle er austesten, wie sein Gegenüber auf die dreisten Geschichten reagiert, und Lelouch reichert diese Szenen mit allerlei Filmzitaten an, die dem Film eine gewisse Leichtigkeit geben und ihn in Richtung Musical lenken. Ein Road-Musical also, auf dem Lino seine Vorliebe fürs Trompetenspiel entdeckt, während wir seiner wahren Identität Stück für Stück näherkommen. Offensichtlich ist er ein Anwalt, der an einer Hirnkrankheit leidet, die ihn plötzlich daran hindert, zu lügen, was starke Konsequenzen für seinen Job und sein Eheleben hat. So macht er sich auf eine Reise, um zu sehen, was von seinem Leben noch übrig ist… finalement, am Ende.
Solide Kino-Kost lieferte auch Justin Kurzel mit THE ORDER, in dem Jude Law den einsamen FBI-Agenten Terry Husk spielt, der in den 1980er Jahren an der Pazifikküste der USA einer Serie von zunehmend gewalttätig werdenden Banküberfällen, Geldfälschungen und Raubüberfällen auf Geldtransporter nachgeht. Er kommt dabei bald zu dem Schluss, dass die Verbrechen nicht das Werk herkömmlicher Krimineller waren, sondern einer Gruppe gefährlicher einheimischer Terroristen. Angeführt von dem radikalen und charismatischen Bob Mathews (Nicholas Hoult), plant die stumme Bruderschaft einen verheerenden Krieg gegen die US-Regierung. Das erinnert nicht von ungefähr an die Stürmung des Kapitols im Januar 2021 und tatsächlich beruht Kurzels bisher größter Film auf dem Sachbuch “The Silent Brotherhood“ von Kevin Flynn und Gary Gerhardt, die den amerikanischen Inlands-Terrorismus nach dem Ende des Klu Klux Klans analysiert. So gelingt Kürzel nicht nur ein klassischer FBI-Thriller, er zeigt auch aktuelle politische Entwicklungen auf, die er auf ihre historische Herkunft zurückzuführt.
In der Reihe Orizzonti lief Carine Tardieus THE TIES THAT BINDS US (L’ATTACHEMENT). Darin spielt Valeria Bruni-Tedeschi die Mittfünfzigerin Sandra, Inhaberin eines feministischen Buchladens und aus Überzeugung kinderlos. Als die Frau ihres Nachbarn bei der Geburt stirbt, wird sie erst widerwillig, dann mit immer größerem Engagement zur Ersatzmutter, die sich um das Neugeborene und dessen sechsjährigen Stiefbruder kümmert und zur wichtigen Bezugsperson der beiden wird. Der Begriff der Familie erfährt hier eine Erweiterung jenseits gängiger Muster. Ähnlich wie in Kore-Edas Filmen sind es weniger die Blutsbande, die den Zusammenhalt der einzelnen Familienmitglieder bestimmen, sondern emotionale Gründe wie Zuneigung und Fürsorge. Valeria Bruni-Tedeschi geht ganz in ihrer Rolle auf und bildet das Zentrum dieser einfühlsamen Verfilmung des Romans “L’Intimité” von Alice Ferney. Seine humorvollen Komponenten verhindern eine unnötige Schwere und sorgen für eine ausgeglichene Balance zwischen Anspruch und Unterhaltung.
Asif Kapadia ist bekannt für seine exzellenten Künstlerbiographien wie SENNA, AMY oder DIEGO MARADONA. Dem Dokumentarfilm ist er mit 2073 treu geblieben, allerdings spielt dieser in der Zukunft – was erst einmal neugierig macht. Auf die Idee hat ihn der Brexit gebracht, der durch Lügen und Korruption in Großbritannien zustande kam. “Ich hatte das Gefühl, ich müsse einen Film machen, um zu verstehen, warum sich die Welt scheinbar in Richtung Lügen, Autoritarismus und Gewalt bewegt”,sagte er und interviewte Journalisten auf der ganzen Welt. Die Journalisten waren sich einig und propagierten die Zerstörung des Ökosystems.
So wurde 2073 zu einem Art Sci-Fi-Horrorfilm, der die Herausforderungen unserer Welt bis ins Jahr 2073 extrapoliert. Wie wird die Welt aussehen, wenn wir unsere Probleme nicht in den Griff bekommen? Eine Dystopie, für die Kapadia zwar die richtigen Worte findet, aber seiner Bebilderung haftet wenig Futuristisches an. In seinen besten Momenten erinnert er vielleicht an KOYAANISQATSI, aber seine visuellen Ideen dauern nie lang und werden schnell von irgendwelchen Talking Heads abgelöst. Was die sagen, ist zwar in umweltbewussten Kreisen unstrittig, eine visuelle Vision dieser Zukunft kann Kapadia aber nicht liefern.
Seine Affinität zum Dokumentarfilm ist dem Oscar-Preisträger Kevin Macdonald (HIGH AND LOW) quasi in die Wiege gelegt worden. Schließlich ist er der Enkel des ‘Godfather of Documentary’ Emeric Pressburger, und tatsächlich lieferte er eine echte Überraschung ab. In ONE TO ONE: JOHN & YOKO erinnert er sich an das gleichnamige Benefizkonzert des legendären Singer-Songwriters aus dem Jahr 1972, seinem einzigen Bühnenauftritt nach dem Ausstieg bei den Beatles. Dabei steht ihr Leben in New York City im Mittelpunkt. Es ist weniger von Musikauftritten als von politischem Aktivismus geprägt und zeigt ihr unerschütterliches Engagement für Frieden und Gewaltlosigkeit in einer turbulenten Ära von Unruhen, Korruption und unnötigen Kriegen.
Mit neu restauriertem Filmmaterial, Telefonmitschnitten und Heimvideos, die noch nie zu sehen waren, gibt Macdonald Einblick in ein politisch aktives Leben, das wohl letztlich auch das FBI (The U.S. vs. John Lennon) auf den Plan gerufen hat.
“Ich wollte einen Film machen, der selbst eingefleischte Lennon- und Ono-Fans überrascht und begeistert, indem ich mich auf eine transformierende Phase in ihrem Leben konzentriere und die Geschichte durch ihre eigenen Worte, Bilder und Musik erzähle“, sagte MacDonald in Venedig.
Im Jahre 2000 gewann Kevin Macdonald einen Oscar für seinen Dokumentarfilm EIN TAG IM SEPTEMBER, in dem es um den Terroranschlag auf das israelische Sportteam bei den Olympischen Spielen 1972 in München ging. Tim Fehlbaum hat den Stoff nun mit SEPTEMBER 5 (Constantin) als Spielfilm inszeniert, und wer meint, dass das Thema niemanden mehr ins Kino lockt, könnte völlig falsch liegen. Fehlbaum wählt nämlich eine interessante Perspektive, um von den damaligen Geschehnissen zu berichten. Beinahe dokumentarisch folgt er einem Fernseh-Team des amerikanischen Senders ABC, das über die Sportereignisse berichten soll. Dies geschieht zum allerersten Mal live, dank modernster Satellitentechnik, die in München erstmals zur Verfügung stand. Doch anstatt neue Weltrekorde zu vermelden, werden sie quasi zu Zeugen des Terroranschlags und müssen live berichten. Das Team nimmt die Herausforderung an, schleust einen Mitarbeiter im Jogginganzug, der sich mit gefälschter Akkreditierung als Sportler ausgibt, ins längst von der Polizei abgesperrte Olympische Dorf, wo er Filmaufnahmen macht, die dann wieder ins Pressezentrum geschmuggelt werden müssen, um entwickelt zu werden. Unterdessen zweifelt man im Mutterkonzern in Amerika daran, ob eine Sportredaktion überhaupt in der Lage ist, von solch brisanten Vorgängen zu berichten, was eigentlich Sache eines News-Teams wäre. Ununterbrochen auf Sendung läuft das Sport-Redaktionsteam zur Höchstform auf und häuft brisantes Material an, wie es sich jeder Sender nur erträumen kann. Erstmals stellen sich auch ethische Fragen: Was darf man zeigen, was besser nicht, worauf muss man Rücksicht nehmen, welche diplomatischen Verwicklungen stehen zu befürchten? Das Team bleibt jedenfalls on air und erreicht am Ende über 900 Millionen Zuschauer, mehr als die Mondlandung.
Tim Fehlbaum bleibt nah am Redaktionsteam, das mit John Magaro, Peter Sarsgaard und Leonie Benesch (DAS LEHRERZIMMER) in den Hauptrollen eine eingeschworene Einheit bildet. Dabei zeigt er ihre vorbehaltlose Einsatzbereitschaft, ihre professionelle Arbeitsweise und greift dabei nicht nur historische Fakten auf, sondern stellt auch ethische Fragen. So gelingt es ihm, dank der eskalierenden Ereignisse, das Tempo stetig zu steigern und aus seinem Journalisten-Film am Ende einen atemberaubenden Medien-Thriller zu machen. Der kam auch bei der internationalen Presse so gut an, dass er Diskussionen auslöste, warum er nicht im Wettbewerb, sondern nur in der Nebensektion Orizzonti lief.
In dieser Reihe lief auch Andres Veiels Dokumentarfilm RIEFENSTAHL, dessen Auswahl für Venedig ein Muss war, schließlich hat Leni Riefenstahl ihre Filme TRIUMPH DES WILLENS und OLYMPIA hier vorgestellt. Beide liefen damals im Wettbewerb und wurden prämiert, obwohl dies gegen das Reglement verstieß, was Mussolini gegen den Protest der Amerikaner damals einfach ändern ließ. Für diese Vorgeschichte war das internationale Interesse an Veiels neuen Erkenntnissen, die ihm durch den freien Zugriff auf Riefenstahls Nachlass möglich war, übersichtlich. Die Pressekonferenz war spärlich besucht und die amerikanischen Journalisten waren zufrieden, dass der Film ihr Vorurteil von den Deutschen, die von allem nichts gewusst haben, bestätigt.
In siebenhundert Kisten hat Riefenstahl ihren Nachlass aufbewahrt, der jetzt Andres Veiel als erstem Filmemacher zugänglich gemacht wurde. Was er und sein Team da durchstöbert und zu einem Film montiert haben, ist in erster Linie eine wahre Fleißarbeit. Neue Erkenntnisse konnten sie aber nicht verbuchen. In Venedig räumte Veiel ein, dass Riefenstahls Nachlass kein Zufallsprodukt war: “Bestimmte Sachen sollten wir dort finden und andere eben nicht.”
Veiel trägt alles zusammen, was wir über Leni Riefenstahl wissen und schafft so ein umfassendes Porträt der Nazi-Künstlerin. Doch wir kommen ihr nicht näher, einen Blick hinter die Fassade ihres Lebens hat sie nie zugelassen, auch nicht nach ihrem Tod.
In der Critics Week fanden wir dann noch ein deutsch-österreichisches Kleinod, das überraschend viel Spaß machte. In PFAU – BIN ICH ECHT? (Wild Bunch) spielt Albrecht Schuch Matthias, den Mitarbeiter einer Rent-a-friend-Agentur, der es sich zu eigen gemacht hat, seinen Kund*innen all ihre Wünsche von den Lippen abzulesen. Zuhause bei seiner Frau kommt diese Devotheit aber gar nicht gut an. Sie empfindet sein Verhalten, das er auch zuhause nicht ablegt, eher als künstlich, kühl und abweisend. Je mehr er sich also bemüht, den Wünschen seiner Frau gerecht zu werden, desto mehr verachten sie ihn, bis sie ihn schließlich verlässt.
Matthias stürzt in eine tiefe Krise, die auch seine berufliche Professionalität beeinträchtigt. War er bisher der beste Mann im Stall, muss sich sein Chef nun Sorgen um seine seelische Befindsamkeit machen.
Der österreichische Filmemacher Bernhard Wenger, der bisher nur mit seinen Kurzfilmen, die vielfach ausgezeichnet wurden, aufgefallen ist, legt fier ein Langfilm-Debüt vor, das mit großer Lakonie inszeniert, seinem Hauptdarsteller Alfred Schuch eine Bühne bietet, die der zum großen Amüsement der Zuschauer auf voller Breite bespielt. So wird aus der gelungenen Fingerübung ein abendfüllender Spielfilm, den es in unseren Kinos nur noch zu entdecken gilt.
Zuletzt noch einen Nachtrag aus dem Wettbewerb, in dem Todd Phillips seine zweiten Teil JOKER 2 – FOLIE À DEUX vorstellte, der sogar nicht nach dem Geschmack von Publikum und Presse war. “Der erste Joker ohne Gewalt” titelte eine Redaktion und traf damit den Nagel auf den Kopf. Tatsächlich fragte man sich im Vorfeld, was dieser zweite Teil bringen soll. Ausbruch aus dem Gefängnis und Aufruhr auf den Straßen, der schließlich Batman auf den Plan ruft? Dass sie an solch einer Geschichte kein Interesse haben, bekundeten der Regisseur und sein begnadeter Hauptdarsteller Joaquin Phoenix schon immer und so tauschen sie nun die dominante Mutter und das freudlose Kinderzimmer aus dem ersten Teil gegen einen übergriffigen Vollzugsbeamten und eine düstere Gefängniszelle. Die tauscht der nach Läuterung suchende Arthur Fleck nur gelegentlich mit dem Gerichtssaal, in dem seine Anwältin ihm eine Schizophrenie andichten will, die seine Gräueltaten seinem anderen Ich “Joker” anlastet. Der Gerichtssaal ist voll von dessen Fans und eine von ihnen, Harley, gespielt von Lady Gaga, hat es geschafft sich ins Arkham Asylum einweisen zu lassen, um ihrem Idol stets nahe zu sein. Zwischen ihnen entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte, die Todd Phillips als Musical inszeniert und damit ein wenig Licht in diesen düsteren Film bringt.
Abgesehen vom Titel-Song, den Lady Gaga selbst geschrieben hat, singen und tanzen sich Arthur und Harley quer durch das ‘American Songbook’. Was dem Film an Action fehlt, wird mehr als ausgeglichen durch Songs, Choreographie und der hervorragenden Kamera von Lawrence Sher (HANGOVER), der die klaustrophobische Enge des Films öffnet und ihm eine Wucht verleiht, die Träume und Wünsche immer wieder für kurze Zeit in greifbare Nähe kommen lassen.
Auch wenn der Zuspruch für diesen Film eher spärlich war, war er für uns das Highlight des Festivals, der im Arthaus besser funktionieren könnte als in den Multiplexen, fast vollends auf Gewalt verzichtet und wie schon der erste Teil eine psychologisch dichte Charakterstudie ist, für die man Joaquin Phoenix durchaus den Darstellerpreis hätte geben können.
Insgesamt kann man festhalten, dass die Filme in Venedig, ähnlich wie schon in Cannes, mit vielen großen Namen aufwarten konnten, aber großartige Filmkunst, die auch ein großes Publikum erreichen kann, eher spärlich vertreten war. Hoffen wir also auf einen Überraschungshit, schließlich haben wir im letzten Jahr auch nicht vorhergesehen, dass ANATOMIE EINES FALLS und THE ZONE OF INTEREST die stärksten Arthaus-Filme des Jahres wurden.