Anora
Vereinigte Staaten | 2024 | FSK TBA
Cannes 2024: Goldene Palme
Das Filmfestival in Cannes überraschte in diesem Jahr mit einer ungewöhnlichen Filmauswahl. So tummelten sich Dokumentarfilme und Genrefilme von Western bis Horror im Wettbewerb, und der Gewinnerfilm war eine Komödie. Auch wenn Komödien für Festivals früher ein No-Go waren - wahrscheinlich weil sie die Filmkunst nicht ernst genug nahmen oder auch umgekehrt - waren in diesem Jahr wenig kritische Stimmen zu hören. ANORA stand das ganze Festival über auf Platz 1 des Bestenlisten von Presse und Publikum.
Für Sean Baker ist es bereits sein achter Spielfilm. Zum ersten Mal in Cannes dabei war er 2017 mit DAS FLORIDA PROJECT, für den er den C.I.C.A.E.-Award gewann und für einen Oscar nominiert wurde. Vor drei Jahren startete er mit RED ROCKET, der von den Eskapaden eines männlichen Pornodarstellers in einer armen Gemeinde in Texas erzählt, im Wettbewerb und im zweiten Anlauf schaffte er nun mit ANORA die Goldenen Palme. Dabei bleibt er seinem Sujet treu. Sein Blick richtet sich auf die Außenseiter der Gesellschaft, gerne auf Sexarbeiter.
Als eine solche versteht sich auch Anora, eine junge Stripperin aus Brooklyn, die die Chance auf ihren sozialen Aufstieg sieht, als sie Ivan, den Sohn eines steinreichen russischen Oligarchen, kennenlernt. Die beiden ziehen von Party zu Party, von Club zu Club, Geld spielt keine Rolle, der Wodka fließt in Strömen und auch im Bett haben sie viel Spass. Soviel Spass, dass jeder Tag eine Wiederholung des vorherigen sein soll. Anora verwechselt das wohl mit Liebe und auch Ivan hat in seinem jungen Leben ein solches Hochgefühl noch nicht kennengelernt. Kurzerhand mieten sie einen Privatjet und düsen nach Las Vegas, um ihre Verbindung amtlich zu machen.
Das allerdings ruft Ivans Eltern im fernen Moskau auf den Plan, ein Flittchen als Erbfolgerin, das passt der Mutter von Ivan gar nicht und der Vater hat seine Mittelsmänner schon auf die beiden angesetzt, die sie zurück in New York in Hausarrest nehmen sollen. Doch das fällt den beiden Bodyguards gar nicht so leicht, denn Anora entwickelt ungeahnte Kräfte, wenn es darum geht, ihren Lebenstraum zu verteidigen. Zwei Bodyguards reichen da nicht. Ivan wird dagegen deutlich ruhiger, dämmert ihm doch allmählich, dass die Zeit in New York ihm von seinem Vater aus Großzügigkeit gewährt wurde, um sich die Hörner abzustoßen. Im nächsten Monat soll er in die väterliche Firma eintreten und den Ernst des Lebens spüren.
Während die beiden Aufpasser das junge Pärchen im Familien-Loft arretieren, treffen endlich die Eltern ein, und nun stoßen Anora und Ivans Mutter aufeinander. Dagegen ist männlich Grobheit und Gewalt gar nichts, und Anoras Kampf um ein möglichst großes Stück vom Kuchen wird umso vehementer, je aussichtsloser er erscheint.
Eigentlich ist es eine Cinderella-Geschichte, die uns Baker da vorsetzt und ältere Semester fühlen sich wahrscheinlich an PRETTY WOMAN erinnert. Mit dem Unterschied, dass Baker all den Kitsch mit Tempo, Lebensfreude und Ekstase ersetzt. Seine Feelgood-Komödie lebt nicht nur vom jugendlichen Alter seiner Protagonisten, sondern auch von ihrem Lebenshunger und ihrer Bereitschaft, ihr Glück hier und jetzt zu genießen, ohne über irgendwelche Folgen nachzudenken. Das macht ANORA zu einem Crowdpleaser allererster Güte, denn wer von uns würde nicht auch gerne eine solche Liebesaffäre erleben. So unglaublich das Treiben manchmal ist, so nüchtern gelingt es Baker, den Film wieder auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen, und so hat man, Cinderella hin oder her, nie das Gefühl, ein Märchen gesehen zu haben.