Haute CoutureDie Schönheit der Geste

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Eine freche Vorstadtgöre ohne Perspektive und eine arrivierte, kühle Chef-Directrice kurz vor der Rente – Jade und Esther kommen nicht nur aus zwei verschiedenen Welten, sondern sie prallen auch noch aufeinander. Sylvie Ohayon erzählt ihre leicht märchenhaft angehauchte Geschichte als peppige Mischung aus Clash of Cultures und Gesellschaftsdramödie vor dem Hintergrund der Pariser Haute Couture-Szene – ein Blick hinter die Kulissen der Modewelt, abseits von Roten Teppichen und Catwalks.

Esther hat ihr ganzes Leben lang geschuftet, jetzt steht sie kurz vor der Rente. Sie kennt keine Freizeit, kein Privatleben und ist jetzt schon einsam. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Chef-Directrice bei Dior. Jade ist eine Vorstadtgöre aus dem Pariser Banlieue: laut, emotional und nachlässig. Obwohl sie schon Anfang 20 ist, hat sie weder einen Beruf noch einen Job. Zusammen mit ihrer Freundin Sousou geht sie schon mal auf Diebestour, und so begegnen sich Esther und Jade zum ersten Mal, denn Jade klaut Esther die Handtasche. Vielleicht ist es ihr schlechtes Gewissen oder die Ablehnung ihrer Freundinnen, möglicherweise erhofft sie sich eine Belohnung … jedenfalls bringt Jade die Tasche zurück zu Esther, die sie trotz ihrer Bedenken zum Essen einlädt.

Am nächsten Morgen hat sich für beide Frauen die Welt verändert: Jade hat ein Praktikum im Schneideratelier, und Esther hat ein Projekt: Sie will aus Jade eine Haute-Couture-Schneiderin machen. Die Arbeit selbst macht ihr viel Spaß, so dass sie zu Sousous Ärger sogar abends an Seidenresten herumstichelt. Parallel zur Fertigstellung der neuen Kollektion entwickelt sich zwischen Jade und Esther eine Art Mutter-Tochter-Beziehung, die von beiden skeptisch beäugt wird. Während Jade langsam zu verstehen scheint, warum ein Beruf, der Spaß macht, gut fürs Selbstbewusstsein sein könnte, merkt auch Esther, dass sie noch dazulernen kann. Zum Beispiel, wie wichtig regelmäßige Mahlzeiten sind …

Sylvie Ohayon nimmt sich recht viel Zeit für ihre Exposition. In kurzen Sequenzen stellt sie die beiden Hauptfiguren und ihren unterschiedlichen Tagesablauf gegeneinander. Dabei geht es ihr weniger um überraschende Wendungen als um die ausführliche Zeichnung der beiden gegensätzlichen Charaktere, die sie später dann umso besser aufeinander loslassen kann. Die wunderbare Nathalie Baye, eine Grande Dame des französischen Films, spielt die Esther mit unterkühlter Eleganz. Esther ist nicht nur die Chefin des Ateliers, sie ist ein Vollprofi und lässt weder Gefühle noch Verständnis für sich oder andere zu. Nathalie Baye spielt die Entwicklung dieser einsamen, alternden Frau, die mit ihren Blumen spricht, weil sie sonst niemanden hat, sehr sensibel und mit einem Hauch von feiner Selbstironie. Ihre Partnerin ist Lyna Khoudri (THE FRENCH DISPATCH): temperamentvoll und spontan, immer einen kessen Spruch auf den Lippen und mit einer sehr, sehr kurzen Zündschnur. Lyna Khoudri schafft es mit ihrer Frische und ihrer jugendlichen, beinahe kindlichen Ausstrahlung, ihre Figur trotz aller Fehlleistungen sympathisch zu halten und die wachsende Zuneigung zum Beruf glaubhaft zu gestalten.
Die dritte Hauptrolle spielt der Beruf selbst: die Tätigkeit der Schneiderinnen in der Haute Couture, eine Frauengesellschaft, die von der Leidenschaft für den Beruf ebenso angetrieben wird wie von Intrigen, Neid und Missgunst.

Mit viel Geschick umschifft Sylvie Ohayon die Sandbänke der Oberflächlichkeit. Sehr viele, aber stets liebevolle Details und interessante Charaktere schmücken ihren Film zusätzlich aus und fügen die eigentlich einfache und oft gesehene Selbstfindungs-Buddy-Geschichte zu einer komplexen Handlung, die in sich stimmig ist: von Jades frömmelnder Mutter, die depressiv ist und seit Jahren nicht mehr aufstehen kann, vom nicht weiter thematisierten Aspekt, dass Esther Jüdin ist, bis zu Jades Transgender-Freundin Sephora oder der arabischen Nachbarschaft – hier wirkt die Vielfalt in jeder Beziehung normal und irgendwie so realistisch, dass man die schöne Geschichte gern glauben möchte. Am Ende lichtet sich das Chaos, und das Ende ist vielleicht nicht unbedingt überraschend, aber wunderhübsch.

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