70. Filmfestspiele in Cannes

Ein Festivalbericht

Schöner kann ein Festival nicht zu Ende gehen! Und das ist der Jury zu verdanken, die unter Präsident Pedro Almodóvar zielsicher die besten Filme für die Palmenvergabe heraussuchte und dabei eine breite Mischung aus intelligenten Publikumsfilmen, wichtigen politischen Filmen und sogar einigen Genrefilmen auszeichnete. Was so fulminant und erfreulich endete, hatte zwölf Tage vorher eher verhalten begonnen.

 

ISMAËL'S GHOSTS

ISMAËL’S GHOSTS © Festival de Cannes

Die Eröffnung der 70. Jubiläumsausgabe an der Croisette mit ISMAËL’S GHOSTS von Arnaud Desplechin führte zwar Stars wie Marion Cotillard, Charlotte Gainsbourg, Louis Garrel und Matthieu Amalric auf den Roten Teppich, blieb aber ansonsten eine rein französische Angelegenheit, die international nicht überzeugen konnte.

Was dem Eröffnungsfilm fehlte, lieferte dafür die Eröffnungs-Pressekonferenz der Jury: eine ordentliche Debatte, die sich durch das ganze Festival ziehen sollte. So hatte Festivaldirektor Thierry Frémaux zwei Filme der Firma Netflix ins Programm genommen, was der französische Filmtheaterverband vehement kritisierte, weil diese Filme niemals das Licht der Leinwand erblicken werden, sondern nur via Video on Demand von Netflix-Abonnenten abgerufen werden können. Frémaux gab nach und ließ in die Statuten schreiben, dass zukünftig nur Filme im Wettbewerb gezeigt werden dürfen, denen auch eine Chance auf eine Auswertung im Kino gegeben wird. Eine Maßnahme, der es gar nicht bedurft hätte, so Jury-Präsident Pedro Almodóvar, der sowieso keinen Film auszeichnen wollte, der nicht auch im Kino zu sehen sein wird.

Damit zog er sich den Widerspruch seines Jury-Kollegen Will Smith zu, der das Netflix-Bashing gar nicht verstehen konnte. „Meine Söhne sehen dort so viele alte Filme, und gehen dennoch zweimal die Woche ins Kino“, argumentierte er. Netflix-Konkurrent Amazon verhält sich da geschickter und hat schon im letzten Jahr verlauten lassen, ab sofort alle Filme vor dem Streaming-Angebot ins Kino zu bringen. Damals hatte die Nachricht, dass Woody Allen für den amerikanischen Multimedia-Riesen dreht, die Filmwelt in Aufruhr versetzt.

WONDERSTRUCK

WONDERSTRUCK © Festival de Cannes

In diesem Jahr leuchtete das Amazon Logo vor einem der meist erwarteten Filme auf, nämlich Todd Haynes‘ WONDERSTRUCK, der von zwei gehörlosen Kindern in verschiedenen Zeitebenen – 1927 und 1957 – erzählt, die nach New York ausbüchsen. Protagonist der ersten Geschichte ist der 12-jährige Ben, der vor kurzem seine allein erziehende Mutter bei einem Unfall verloren hat und seitdem bei seinem strengen Onkel lebt. Nur zu gern wüsste Ben, wer sein leiblicher Vater ist, doch seine Mutter hat sich stets beharrlich geweigert, dessen Identität preiszugeben. Als er heimlich in den Hinterlassenschaften seiner Mutter auf dem Dachboden des zum Verkauf stehenden Elternhauses stöbert, findet er tatsächlich eine mögliche Spur zu seinem Vater, die nach New York führt. Da ereilt ihn ein Blitzschlag, der ihn ertauben lässt, was ihn jedoch nicht davon abhält, noch aus dem Krankenhaus in einem Bus nach New York zu fliehen, um dieser Spur nachzugehen.

Parallel erzählt Haynes die Geschichte der gehörlosen Rose im Jahre 1927. Auch sie fühlt sich in ihrem Zuhause in New Jersey unglücklich und missverstanden und setzt sich eines Tages heimlich in einen Bus Richtung Big Apple, um ihren Onkel Walther zu besuchen. Das junge Mädchen, ein Stummfilm-Fan, hofft, in New York auch den von ihr verehrten Stummfilm-Star Lillian Mayhew zu treffen. Ben und Rose landen schließlich im Naturkundemuseum der Stadt, wo sich beider Geschichten auf geheimnisvolle Weise verbinden.

Die Verfilmung des Erfolgsromans von Brian Selznick aus dem Jahr 2011, der hier auch das Drehbuch schrieb, ist liebevoll inszeniert und weiß vor allem mit seinen beeindruckenden Bildern und einem tollen siebziger Jahre-Score zu überzeugen. Schade nur, dass die Geschichte mit ihren klar in schwarzweiß gekennzeichneten Rückblenden und ihrer besonders gegen Ende allzu erklärenden Erzählweise zu viele Zugeständnisse an den Video-on-Demand-Riesen Amazon macht. Auf der Pressekonferenz nahm Haynes Amazon in Schutz, berichtete davon, dass er sowohl freie Hand als auch den „final cut“ gehabt hätte und es ansonsten schwer gewesen wäre, eine Finanzierung für diesen Film zu finden. Da wurde dann klar, dass es bei dieser Debatte um mehr gehen könnte, als um die Frage, wo wir demnächst Filme schauen, im Kino oder auf dem Laptop.

 

Loveless

Loveless © Festival de Cannes

Wesentlich kinematographischer ist da LOVELESS von Andrey Zvyagintsev, der mit seinem letzten Film LEVIATHAN hier bereits 2014 eine Silberne Palme und diesmal den Jury Preis gewann. Er erzählt die Geschichte eines Ehepaares, das die gemeinsame Wohnung verkaufen will, um ihre Scheidung zu finanzieren. Der Film beginnt mit einem handfesten Ehestreit, bei dem es um das Sorgerecht des gemeinsamen Sohnes geht, den keiner der beiden mit in sein neues Leben nehmen will. Am Ende der Diskussion schlägt die Wohnzimmertür zu, hinter der dann der kleine Junge mit tränenüberströmtem Gesicht ins Bild kommt. Fortan wird er vermisst. Keiner weiß, ob er nur weggelaufen oder ob ihm etwas zugestoßen ist. Die Eltern suchen ihn, die Polizei kann sich darum nicht kümmern und verweist auf einen privat organisierten Suchtrupp. Doch trotz aller Bemühungen bleibt der Junge verschwunden…

Auf dieser Suche führt uns Zvyagintsev nicht nur an die Abgründe einer modernen, aber emotionslosen Gesellschaft, sondern visualisiert sie auch mit allerhand Metaphern, wie verlassenen Industriegebäuden oder neuen Wohnungen, die in Kontrast zu den ehemaligen Plattenbauten stehen. Sie sind zwar neu, aber nicht unbedingt gemütlicher, offensichtlich ist der Wohlstand schneller gewachsen als der Sinn für Geschmack und Stil. In gefrorenen Tableaus spiegelt sich die soziale Gewalt der russischen Gesellschaft mit ihrer Ambivalenz zum Westen: Reaktionäre Lebenskonzepte interferieren mit neuen Technologien, die Kälte des Winters tritt in Beziehung zu den kühlen Scheiben der Geräte, auf denen mit gewohnter Gleichgültigkeit durch Social Media gescrollt wird. Zvyagintsev verbindet auf eindrucksvolle Weise, wie bereits in LEVIATHAN, das Dysfunktionale der Familien mit den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konsequenzen.

Aus dem Nichts, 2017 - Fatih Akin

Aus dem Nichts © Festival de Cannes

Nicht so metaphorisch, dafür aber ebenso politisch, war Fatih Akins AUS DEM NICHTS (Warner) angelegt, der von Katja erzählt, die abrupt ihren armenischen Ehemann und Sohn durch einen Terroranschlag verliert. Obwohl sie der Polizei eine Verdächtige beschreiben kann, ermittelt diese erst einmal in Richtung Familie, Bekannte und Geschäftspartner, obwohl sich schon früh ein neofaschistischer Hintergrund andeutet. Der mittlere Teil beschreibt ausführlich die Gerichtsverhandlung und ihren enttäuschenden Ausgang. Hier hat sicherlich der (Ex-Jurist) Hark Bohm am Drehbuch geholfen. Ihm gelingt es jedenfalls, das Versagen der Justiz ohne Schuldzuweisungen plausibel zu machen, und so bleibt eine Protagonistin zurück, die nicht nur ihre Liebsten, sondern auch den Prozess um die Bestrafung der Täter verliert. Man ahnt es schon, dass es im letzten Teil um ihre Rache gehen wird. Das liegt einerseits auf der Hand, riecht aber auch nach Selbstjustiz. Dass diese dem Film nicht zum Verhängnis wird, liegt vielleicht an Akins chronologischer und stets plausibler Erzählweise, immer streng aus der Sicht der Opfer, ganz sicher aber an der bewegenden Performance seiner Hauptdarstellerin Diane Kruger, die hier erstmals in deutscher Sprache dreht und sich auf Anhieb in die Herzen des Publikums spielt, wofür sie mit einer Silbernen Palme ausgezeichnet wurde. Überhaupt ist der Film insbesondere bei der ausländischen Presse gut angekommen. Irgendwie hatte man den Eindruck, hier wurde honoriert, dass sich der deutsche Film weg von der ewigen Bewältigung des Nationalsozialismus hin zu akuten Themen wie dem Neofaschismus bewegt. Offensichtlich ist der NSU-Prozess, der Akin inspiriert hat, im Ausland längst nicht so präsent wie hierzulande und damit ein spannendes Kinothema.

Diane Kruger konnte sich mit ihrer Leistung in einen starken weiblichen Auftritt im diesjährigen Festival einreihen. Zwar waren wieder nur drei Filme von Regisseurinnen in den Wettbewerb geladen, aber immerhin war die Jury mit vier Frauen und Frauenversteher Almodovar an der Spitze annähernd paritätisch besetzt. So beschwerte sich Jessica Chastain auf der Abschlusspressekonferenz der Jury über die Rollen, die manche Filme Frauen zumuten und Agnès Jaoui relativierte, dass auch Männer – wie zum Beispiel Almodovar – gute Frauenfilme machen können. Auf den Punkt aber brachte es Maren Ade, die konstatierte, dass das Kino den weiblichen Blick nötiger habe denn je: Viele interessante Geschichten würden niemals das Licht der Leinwand erblicken, weil man Frauen nicht hinter die Kamera lasse, die weibliche Perspektive fehle! Maren Ade war hier im letzten Jahr mit TONI ERDMANN vertreten, der unverständlicherweise leer ausgegangen war.

Die Verführten 2017, Nicole Kidman

Die Verführten © Festival de Cannes

Der Preis für die Beste Regie ging dann auch an eine Frau, nämlich Sofia Coppola für DIE VERFÜHRTEN (UPI), die Jane Campion als ihr Vorbild nannte, die einzige Frau, die je eine Goldene Palme gewann (1993 für DAS PIANO). Auch sie schaltete sich in die Netflix-Debatte ein und polemisierte, dass sie Filme für die große Leinwand und nicht fürs Smartphone mache. Nicole Kidman berichtete danach von den Dreharbeiten zu der Serie TOP OF THE LAKE, die sie mit Jane Campion gedreht hat und von der die Folge CHINA GIRL in Cannes zu sehen war. Wenn auch nicht fürs Kino konzipiert, vertraue sie ihrer Regisseurin, denn die wisse genau, was sie tue.

Coppolas Film spielt während des amerikanischen Bürgerkriegs in einer Mädchenschule in den Südstaaten. Nicole Kidman versucht als Leiterin den Schulalltag aufrecht zu erhalten, in dem die jungen Damen von einer schüchternen Lehrkraft (Kirsten Dunst) in Französisch und in der Kunst des Stickens unterwiesen werden. Die Dinge kommen allerdings endgültig durcheinander, als eine der Schülerinnen nicht weit von der Schule entfernt einen verletzten Soldaten, einen Yankee (Collin Farrell) findet. Sie beschließen, den „Feind“ in ihr Haus aufzunehmen, bis er genesen ist, um ihn dann den Konföderierten zu übergeben. Doch schon bald kommt es zu Eifersucht und Zwietracht unter den Frauen. DIE VERFÜHRTEN ist ein Remake des von Don Siegel 1971 mit Clint Eastwood verfilmten Romans von Thomas Cullinan. Sofia Coppola hat allerdings die Perspektive umgekehrt und erzählt aus Sicht der Frauen, die sich einen schauspielerisch sehenswerten Konkurrenzkampf um die Gunst des Fremden liefern. Die Anstaltsleiterin (Nicole Kidman) muss sich da aus Altersgründen wieder auf ihre Autoritätsrolle zurückziehen, während sich die wahrhaft verliebte Lehrerin (Kirsten Dunst) der durchtriebenen Intriganz einer frühreifen Schülerin (Elle Fanning) erwehren muss. Sofia Coppola inszeniert dieses Chaos der Gefühle geradezu virtuos und zeigt auch die Berechnung, die hinter all den Emotionen steckt. In traumhaften, zarten Bildkompositionen ohne viel Musikeinsatz entwickelt sie auch ihren Stil weiter.

The Killing of a Sacred Deer

The Killing of a Sacred Deer © Festival de Cannes

Nicole Kidman war in sage und schreibe vier Filmen dieses Festivals vertreten und wurde am Ende mit einem Sonderpreis zum 70. Jubiläum geehrt. Im Wettbewerb spielte sie noch in THE KILLING OF A SACRED DEER (Alamode) von Yorgos Lanthimos, der bereits 2015 den Jury-Preis für THE LOBSTER gewann. Nicole Kidman ist hier als zweifache Mutter wieder an der Seite von Colin Farrell zu sehen, der nun ihren Ehemann spielt, einen Chirurgen, der unter Alkoholeinfluss eine Operation verpfuscht und dabei den Vater eines 16-jährigen Jungen getötet hat. Dieser Junge will nun Unheil der übernatürlichen Art über sie bringen und droht alle zu töten, wenn der Vater nicht selbst eines seiner Familienmitglieder umbringt. Dies erinnert an die griechische Mythologie: Hier strafte die Göttin Artemis Agamemnon für das Erlegen eines Hirsches in ihrem Garten, indem sie seinen Schiffen die Fahrt nach Troja durch eine Windstille so lange verwehrte, bis dieser seine Tochter Iphigenie opferte. Auch erinnern die blutenden Augen des Sohnes an Medusa, die sich mit ähnlich unmöglich zu treffenden Entscheidungen konfrontiert sah. Lanthimos inszeniert dies alles mit einer Kälte, die an Hanekes FUNNY GAMES erinnert und einem das Blut in den Adern gerinnen lässt. Ob das alles nur ein stilvoller Horror-Trip ist oder sich dahinter das Spiegelbild einer Gesellschaft verbirgt, die sich immer öfter zwischen Pest und Cholera entscheiden muss, darf jeder selbst entscheiden. Der Jury war dies – wenn auch ex aequo – den Drehbuchpreis wert.

 

You Were Never Really Here 2017

You Were Never Really Here © Festival de Cannes

Die andere Hälfte dieses Preises ging an YOU WERE NEVER REALLY HERE von Lynne Ramsay, die bereits ihre Filme RATCATCHER und WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN in Cannes vorstellte. Im Gegensatz zu Lanthimos, der sich mit SACRED DEER noch an der Grenze zwischen Filmkunst und Genre bewegte, bekennt sich Ramsay klar zu letzterem, ohne auf Qualität und Anspruch zu verzichten. In einer sehenswerten Performance mit viel Mut zur Hässlichkeit spielt Joaquín Phoenix hier einen amerikanischen Kriegsveteranen, der einem Kinderpornographie-Ring auf seine Art das Handwerk legen will. Bewaffnet mit Gaffa-Tape und einem Zimmermannshammer macht er sich auf und dringt mit äußerster Brutalität in immer höhere gesellschaftliche Schichten vor. Dabei werden die moralischen Abgründe, die er aufdeckt, mit seiner eigenen kompromisslosen Brutalität und blitzartigen Bildern aus einer traumatischen Vergangenheit kontrastiert. Seiner Mutter gegenüber ist er aber der liebevolle Sohn, und mit den geretteten Mädchen teilt er eine nicht geheuchelte hohe Empathie, so dass sich am Ende nicht nur er, sondern auch der Zuschauer fragt, wessen Freiheit er damals als GI da eigentlich verteidigt hat. Joaquín Phoenix weiß diesen widersprüchlichen Charakter so grandios in Szene zu setzen, dass er dafür völlig zu Recht den Darstellerpreis erhielt.

L’Amant Double 2017

L’Amant Double © Festival de Cannes

François Ozon ist ja bekannt dafür, dass er sich in allen Genres zu Hause fühlt. Doch diesmal dauert es eine Weile bis der Zuschauer merkt, mit welchem er es zu tun hat. In L’AMANT DOUBLE (Weltkino) spielt Marine Vacth (Ozons Entdeckung aus JUNG UND SCHÖN, der vor drei Jahren im Wettbewerb lief) Chloé, eine junge Frau, die mit Magenschmerzen zum Arzt geht. Doch der kann nichts feststellen und schickt sie zum Psychiater Paul, der die Behandlung nach einigen Sitzungen abbricht, weil er Gefühle für seine Patientin entwickelt hat. Diese sind durchaus gegenseitig, weshalb die beiden zusammenziehen. Doch die Magenschmerzen stellen sich wieder ein, weshalb Chloé einen anderen Psychiater konsultiert. Der stellt sich als Zwillingsbruder von Paul heraus und ist dessen negatives Spiegelbild, was Einfühlungsvermögen und Liebe angeht. Er fordert sie sexuell heraus, will sie seinem Bruder ausspannen und Chloé spürt, dass hinter den Zwillingen ein Geheimnis schlummert, das auch sie existentiell betrifft.

So wechselt der Film von Liebesgeschichte über Erotik-Krimi hin zu einer Psycho-Thriller, der passioniert aus der Filmgeschichte zitiert. So schneidet sich Chloé am Anfang selbst die schönen langen Haare, was an Polanskis Rosemaries Baby erinnert und nichts Gutes erwarten lässt. Das Frauenbild erinnert an Hitchcock und Brian de Palma lässt grüßen, wenn Chloé sich in ihren Wahn steigert und der Film zum Thriller wechselt. Das ist an manchen Stellen derart überdreht, dass der Film zuweilen die Bodenhaftung zu verlieren droht, doch dann stellt Ozon ihn mit einem genialen Ende überraschend wieder vom Kopf auf die Füße und beendet eine Achterbahnfahrt, bei welcher der Zuschauer zwischenzeitlich das Gefühl hat, den roten Faden zu verlieren.

Auch GOOD TIME (Ascot) ist ein Genrefilm, der von der Kritik mehrfach mit dem Überraschungserfolg DRIVE verglichen wurde. Durch den eindringlichen Elektro-Soundtrack und einen sich ankündigenden Kult-Charakter liegt der Vergleich nahe, dennoch ergeben sich auch Differenzen. Die Safdie Brüder, zwei Independent-Regisseure aus New York, inszenieren hier einen Heist-Thriller, der nichts Romantisches oder Stilisiertes mehr hat, es geht nicht mehr um die Konstruktion eines komplexen Überfalls, sondern um die Frage, ob der dilettantische Protagonist überleben wird oder nicht. Hier profiliert sich Robert Pattinson erstaunlich gut als Prolet und Trickster, der instinktiv aus brenzligen Situationen zu entkommen weiß. Auch die Gesamtästhetik des Films lässt sich oft mit einem räudigen Hund vergleichen und so formuliert GOOD TIME einen impliziten Kommentar auf Trumps Amerika, die Allgegenwärtigkeit des Prekären, die Haltung eines „Fressen oder Gefressen-Werdens“, in der niemand mehr etwas zu verlieren hat. Einmal schaut Pattinson, während er seine Haare ins Orange blondiert, eine Reality TV Show wie „Cops“, in der Polizisten eine schwarze Frau im Nachthemd verfolgen und brutal zu Boden werfen. Die Safdie Brüder übertragen diese neue Form der medialen Wirklichkeit, die auch Trump mit Shows wie „The Apprentice“ großgemacht hat, auf die gesamte Inszenierung und machen daraus ein treibendes, Adrenalin durchtränktes Kinoerlebnis, das auf eine sehr eigene Weise subversiv ist.

Genre-Filme gab es auch in der Un Certain Regard zu sehen. Einer der ersten hieß schon so, nämlich der deutsche Beitrag von Valeska Grisebach WESTERN (Piffl), eine Komplizen Film Produktion, die im letzten Jahr mit TONI ERDMANN ganz Cannes aufhorchen ließ. Grisebach erzählt von einer Gruppe deutscher Bauarbeiter, die für einen Auftrag in die bulgarische Provinz kommen und dort mit der Bevölkerung in Kontakt geraten. Die sieht die Anwesenheit der Deutschen skeptisch, hat sie doch schon vor 75 Jahren nichts Gutes gebracht. So überwirft sich Vincent, der Boss der Truppe, auch schnell mit den Einwohnern, während Meinhard eine behutsame Annäherung gelingt, die ihm dann wieder Scherereien im eigenen Lager einbringt. Grisebach erzählt mit großem Feingefühl und mischt immer wieder Westernelemente in ihre Studie, die recht archaisch von der Begegnung zweier Kulturen erzählt. Ein sehenswerter Film, für den es nicht leicht sein wird, ein Publikum zu finden.

Einen Erfolg konnte auch Taylor Sheridan, der das Drehbuch für SICARIO und HELL OR HIGH WATER schrieb, mit seinem Erstlingswerk WIND RIVER verbuchen. Er wurde mit dem Preis für die Beste Regie in der Reihe Un Certain Regard ausgezeichnet. Der bereits in Sundance erfolgreich gelaufene Thriller spielt in der rauen Wildnis des Wind River Reservats in Wyoming. Dort findet der Wildtierjäger Cory Lambert die erfrorene18-jährige Nathalie, eine indianische Ureinwohnerin, die, wie sich später herausstellt, vergewaltigt wurde und vor ihrem Tod kilometerweit barfuß durch den Schnee um ihr Leben lief. Zur Aufklärung des Falles entsendet das FBI seine Agentin Jane Banner aus Las Vegas, die gemeinsam mit Lambert und den örtlichen Behörden versucht, dem Mörder auf die Spur zu kommen, dabei aber erst einmal mit der für sie neuen Umgebung zurechtkommen muss. Lambert hat großes Interesse an der Suche des Schuldigen. Das Opfer war die beste Freundin seiner Tochter, die unter ähnlichen Umständen vor Jahren ums Leben kam und deren Mörder nie gefunden wurde.

Jeremy Renner, Oscar-nominiert für seine Rolle in Kathryn Bigelows HURT LOCKER und sonst meist in Mainstream-Filmen unterwegs, spielt den seelisch verwundeten Wildtierjäger überzeugend, und auch Elisabeth Olsen, Schwester der Olsen-Zwillinge Mary Kate und Ashley, fällt positiv auf. Gleiches gilt für die passend zum Film komponierte Musik von Nick Cave und Warren Ellis. Sheridan gelingt ein karger, aber auch atmosphärisch dicht inszenierter Thriller, in dem es neben der Aufklärung eines Mordes auch um Trauer, Verlustbewältigung und Rache geht. Dabei nimmt er ebenfalls die soziale Situation der amerikanischen Ureinwohner in den Blick, deren Leben im Reservat geprägt ist von Armut und Arbeitslosigkeit. Die eiskalte lebensfeindliche Schneelandschaft Wyomings spiegelt dabei kongenial eine Gesellschaft wider, in der menschliche Wärme kaum noch eine Chance hat.

In die Reihe der starken Filme von Frauen über Frauen reiht sich auch JEUNE FEMME, der Gewinner der Camera d’Or, dem Preis für den besten Erstlingsfilm, ein. Regisseurin und Drehbuchautorin Léonor Serraille inszeniert hier mit einem starken weiblichen Team – auch die Kamera, die Musik sowie das Sound- und Set- Design lagen in Frauenhand – einen Wendepunkt im Leben der 31-jährigen Paula (Laetitia Dosch). Die fliegt nach zehnjähriger Beziehung bei ihrem wohlhabenden Freund, einem erfolgreichen Fotografen, aus der gemeinsamen Wohnung. Nun versucht sie, in Paris neu Fuß zu fassen. Zunächst macht sie es dem Zuschauer nicht leicht, denn Paula ist ein impulsiver, schnell aufbrausender Charakter, der sich auch nicht davor scheut, ihre Mitmenschen zu bestehlen oder zu belügen, was sie mittlerweile auch die meisten ihrer Freundschaften gekostet hat. Selbst ihre Mutter will nichts mehr von ihr wissen. Doch ihre starke Präsenz und ihr robuster Charme lässt sie uns allmählich immer mehr ins Herz schließen. Mit der gekidnappten Katze ihres Ex unterm Arm und ohne Dach überm Kopf lässt sie sich durch die französische Hauptstadt treiben und begegnet dabei einer Reihe von Menschen. Gerade diese Begegnungen sind es, die sie allmählich zurück in ein selbstbestimmtes Leben führen. So wird das Wiedersehen mit ihrem Ex schließlich zu einer Begegnung auf Augenhöhe. Léonor Serrailles dynamische Verfilmung machte nicht nur Laetitia Dosch in Cannes zum Star, sondern wirft auch einen präzisen und ganz und gar unromantischen Blick auf die sozialen Realitäten in Frankreichs Metropole. Und macht Hoffnung, indem er dazu auffordert, sich auch in ausweglosen Situationen niemals unterkriegen zu lassen und Neues zu erproben.

Mit dem Jury-Preis wurde in der Certain Regard der neue Film von Michel Franco ausgezeichnet, der mit AFTER LUCIA bereits einmal die Sektion gewonnen hatte und vor zwei Jahren im Wettbewerb für das Beste Drehbuch von CHRONIC ausgezeichnet wurde. APRIL’S DAUGHTERS ist ein faszinierendes Familiendrama, in dem Franco erneut seine Sensibilität unter Beweis stellt, extreme Geschichten auf sehr authentische Weise in ein naturalistisch gefilmtes Setting einzubinden. Clara und Valeria sind Schwestern und leben in einem beschaulichen Strandhaus in Mexico, doch bereits in der ersten Szene wird die emotionale Schieflage zwischen beiden deutlich. Während die schöne 17jährige Valeria schamlos und hochschwanger in der Gegenwart der korpulenten Clara mit ihrem Surfer-Freund schläft, was diese sichtlich demütigt, verlagern sich die Zuschauersympathien zunächst eindeutig auf die Ältere. Doch Clara schlägt auf ihre Weise zurück, indem sie die gemeinsame Mutter einlädt, die beide aus zunächst unklaren Gründen dort zurückgelassen hat. Abril ist eine attraktive und charismatische Frau um die Vierzig und versucht zunächst scheinbar besorgt eine Lösung für die Geldprobleme und mangelnden Zukunftsperspektiven der Töchter zu finden. Bald wird jedoch klar, dass diese Frau, sichtlich neiderfüllt durch die Schönheit und Jugend der Jüngsten, ihren ganz eigenen Plan verfolgt.

Franco gelingt es hier auf ganz erstaunliche Weise einen Plot, der sehr schnell in die Telenovela kippen könnte, so eindringlich und glaubwürdig zu erzählen, dass dem Zuschauer die Luft wegbleibt. Seine vielschichtig entwickelten Figuren spielen mit Erwartungen und Stereotypen, verkehren sie zum Psychogramm einer tief gestörten Frau und zeigen die Konsequenzen für ihre Familie.

Eine ganz andere Art des Familienfilms präsentierte Sean Bakers FLORIDA PROJECT, der nach seinem großen Erfolg mit TANGERINE sogar noch eine deutliche Steigerung zeigen konnte und zum allseits genannten Festivalliebling avancierte. Dabei wurde viel diskutiert, wieso gerade so ein starker Film in der Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs versteckt wurde, anstatt ihn im Wettbewerb zu präsentieren, wo er zweifelsohne die Chance auf einige Hauptpreise gehabt hätte. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht der kleinen Moonee, die mit ihren sechs Jahren einen fröhlichen und ungestümen Blick auf das prekäre Leben in einem Motel in der Nähe von Disneyworld mitbringt. Die tätowierte Mutter hat gerade ihren Job als Stripperin verloren, doch von ihrem Kampf ums finanzielle Überleben weiß die Kleine wenig. Sie spielt lieber mit ihren Freunden in den endlosen Korridoren, über die der Manager Bobby als eine Art Vaterfigur wacht, die Willem Dafoe zu einer der besten Performances seiner Karriere entwickelt. Als ein Sturm über Florida aufzieht, zeigt das Sozialdrama schließlich auch seine bewegenden Schattenseiten. Vor allem die unglaubliche Präsenz der Kinderdarsteller, die Sean Baker über Social Media gecastet hatte, verleihen dem Film eine Kraft, die der Guardian zu Recht mit Truffauts „Taschengeld“ verglichen hat. Hier verbindet sich Filmkunst mit der Möglichkeit ein großes Publikum zu adressieren.

Der französischen Chanson-Ikone BARBARA widmete Matthieu Amalric seine eigene gleichnamige Regiearbeit, welche die Reihe Un Certain Regard eröffnete. Dabei bleibt er seinem Stil, den er schon in seinen Werken DAS BLAUE ZIMMER und TOURNÉE zelebrierte, treu: Kein geradlinig erzähltes Biopic, sondern eine über mehrere kunstvoll ineinander verschachtelte Ebenen erzählte Hommage versucht er der eigenwilligen Sängerin, die zu Beginn der sechziger Jahre ihre größten Erfolge hatte und unter anderem mit Jacques Brel, Georges Brassens und Gérard Depardieu befreundet war, nahe zu kommen. Amalric selbst spielt einen Regisseur, der einen Film über die von ihm verehrte Barbara dreht, wobei ihm jedoch zunehmend die Kontrolle über die Produktion entgleitet, die zum Fiasco zu werden droht. Die Grenzen zwischen seiner Verehrung der Sängerin und der sie verkörpernden Schauspielerin Brigitte (Jeanne Balibar in einer Doppelrolle) verschwimmen zunehmend, und die Figur des Regisseurs rückt immer mehr in den Fokus. Wie immer bei Almaric ist dies auch ein wenig selbstverliebt inszeniert. Doch wer seinen Stil mag, wird seine Freude haben und auch die Fans der Sängerin Barbara kommen auf ihre Kosten. Den Interpretationen der Chansons, elegant inszeniert und von Balibar überzeugend vorgetragen, werden am Ende immer mehr Raum zugestanden. Sie sind zweifellos eine der großen Stärken des Films und machen Lust, die Sängerin (wieder) zu entdecken. Auch eine Auszeichnung konnte der Film mit nach Hause nehmen: Er wurde als Best Poetic Narrative geehrt.

Die Reihe Quinzaine des Réalisateurs wurde mit LET THE SUNSHINE IN(Pandora), ebenfalls einem französischen Film, eröffnet. In einer Adaption von Roland Barthes’ “Fragmente einer Sprache der Liebe”, lässt Claire Denis ihre Hauptdarstellerin Isabelle (Juliette Binoche), Mutter eines erwachsenen Kindes und geschieden, auf der Suche nach der wahren Liebe durch eine erotische Midlife-Crisis flanieren. Eine Verabredung jagt die andere und irgendwie gerät Isabelle immer an den Falschen, denn eigentlich wollen die Männer immer nur das eine – doch dem stellt Claire Denis lange Gespräche zum besseren Kennenlernen voran, in denen sie peu à peu Isabelles Bedürfnisse, ihre Sehnsüchte, Wünsche und Träume formuliert, und damit das krisenhafte Portrait einer Frau in der Mitte ihres Lebens zeichnet. So etwas kennen wir in dieser Form meist nur von Männern. Denis wendet es auf ihre Protagonistin an und spiegelt damit eine moderne Welt, in der Liebe ab einem gewissen Alter keine Rolle mehr spielt. Dies alles verpackt in einer romantischen Komödie, die Isabelle scheinbar immer nur in ihren schlechten Momenten zeigt, eine schwierige Rolle, die von Juliette Binoche mit derart entwaffnender Ehrlichkeit gespielt wird, dass ihr Charakter schnell ans Herz wächst. Die französische Gilde der Drehbuchschreiber zeichnete ihn mit dem SACD-Preis aus.

Einen ebensolchen Preis erhielt auch LOVER FOR A DAY von Philippe Garrel, der, nachdem er bereits sieben Mal mit seinem Sohn Louis zusammengearbeitet hat, nun seine Tochter Esther vor die Kamera holt. Sie spielt Jeanne, die nach der plötzlichen Trennung von ihrem Freund tränenüberströmt in der Wohnung ihres Vaters Unterschlupf sucht, und da auf dessen neue Freundin Ariane trifft, die etwa in ihrem Alter, Anfang zwanzig, ist. Auf der einen Seite ist Jeanne von ihrer Stiefmutter in spe angewidert, auf der anderen kann sie gerade jetzt eine Freundin gut gebrauchen und so finden die beiden Frauen über diverse Vorlieben und Geheimnisse, die sie miteinander teilen, zueinander. Am Ende aber entwickelt Ariane einen genialen Plan, wie sie ihre neue Freundin doch noch aus dem Hause kriegt, ohne dass einer der Beteiligten Schaden nimmt. Nur ihr Vater, gespielt von Eric Caravaca, steht am Ende ähnlich verloren da, wie Juliette Binoche in LET THE SUNSHINE IN, mitten in der Midlife-Crisis. Garrel erzählt geistreich und charmant und erklärte nach der Vorführung, dass er sich vom Motiv eines umgekehrten Ödipus-Komplexes habe leiten lassen. Den hat C.C. Jung seinerzeit als Elektrakomplex postuliert, war dann aber in Vergessenheit geraten, bis ihn Simone de Beauvoir in einem ihrer Romane aufgenommen hat.

Den Preis Label Europa Cinemas in dieser Sektion gewann der italienische Beitrag A CIAMBRA von Jonas Carpignano, dessen Flüchtlings-Drama MEDITERRANEA uns noch gut im Gedächtnis ist. Diesmal porträtiert er semidokumentarisch eine Roma-Gemeinschaft in Kalabrien, in deren Zentrum der 14-jährige Pio Amato steht. Er kann nicht schnell genug erwachsen werden, trinkt, raucht und folgt seinem älteren Bruder auf Schritt und Tritt, als würde er ahnen, dass er bald in dessen Fußstapfen treten muss. Carpignano zeichnet ein realistisches wenn auch etwas überdrehtes Bild dieser Community, filmte an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern, allen voran Pio, der mit seinem entwaffnenden robusten Charme überzeugt und auf den der Regisseur bei seinem ersten Set-Besuch aufmerksam wurde, weil er ihm das Auto klaute.

Erwähnt sei auch noch TEHERAN TABU, der in der Semaine de la Critique zu sehen war und den Camino in die deutschen Kinos bringen wird. Ali Samadi Ahadi (PETTERSON & FINDUS) produzierte den Debütfilm seines in Berlin lebenden iranischen Landsmannes Ali Soozandeh, der die Lebenswege dreier selbstbewusster Frauen und eines jungen Musikers sich in Teherans Straßen kreuzen lässt. Sex, Korruption, Drogen und Prostitution gehen in dieser brodelnden Metropole einher mit strengen religiösen Gesetzen. Das Umgehen von Verboten wird zum Alltagssport und der Tabubruch zur individuellen Selbstverwirklichung. Dabei hat der Film eine stark emanzipatorische Haltung, tritt ein für Frauenrechte und führt die Logik dieses Systems ein ums andere Mal ad absurdum. TEHERAN TABU ist ein reiner Animationsfilm und viele Bilder erinnern an Marjane Satrapis Verfilmung ihrer Graphic Novels PERSEPOLIS, nur leider erreicht er nie dessen erzählerische Dichte.

Ein geradezu filmhistorischer Moment war der Auftritt von Vanessa Redgrave, die im hohen Alter von 80 Jahren ihren ersten Film als Regisseurin drehte. Ausgangspunkt ihres Engagements waren Bilder des dreijährigen syrischen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi, dessen lebloser Körper an die türkische Küste gespült wurde. Da wurde ihr klar, berichtete sie einem bewegten Publikum, dass all ihr Engagement als Uno-Botschafterin nicht ausreicht, um gegen dieses Elend vorzugehen. Deswegen beschloss sie, einen eigenen Film zu drehen und ihn auch selbst zu finanzieren. SEA SORROW ist ein Dokumentarfilm, der die derzeitige Flüchtlingskrise in einem historischen Kontext untersucht. Redgrave erzählt von ihrer Arbeit und zeigt Bilder, die sie dabei sehen musste. „Welch anderer Regisseur hätte die zeigen können?“, fragt sie und verbindet das Schicksal dieser Menschen mit ihren eigenen Erinnerungen als Flüchtlingskind im 2. Weltkrieg. Immer wieder pocht sie auf die erst 1948 von Eleanor Roosevelt postulierten Menschenrechte und trägt ihre Forderungen als professionelle Schauspielerin mit akzentuierter Stimme und klaren Worten vor. Am Ende des Films rezitiert Ralph Fiennes die Szene aus DER STURM, in der Prospero der erwachsenen Miranda von ihrer Flucht aus Mailand, als sie erst drei Jahre alt war, erzählt. Es bleibt die gleiche Quintessenz, die auch Aki Kaurismäki in Berlin, nach der Premiere seines Films DIE ANDERE SEITE DER HOFFNUNG zog: „Zeiten ändern sich, und irgendwann können auch wir wieder die Flüchtlinge sein. Da ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Stärkere dem Schwächeren hilft.“

In einem weiteren Special Screening stellten Bonni Cohen und Jon Shenk ihren Dokumentarfilm AN INCONVENIENT SEQUEL vor. Zehn Jahre nach Davis Guggenheims AN INCONVENIANT TRUTH liefern die beiden Filmemacher ein Update von Al Gores Umwelt-Mission und brachten den Ex-Vize-Präsidenten und Friedens-Nobelpreisträger mit auf die Bühne. Leider erzählt der Film nichts Neues, benennt die alten Probleme und ist ein wenig zu verliebt in Al Gores vielfältige Aktivitäten. Immer noch ist er unermüdlich unterwegs, um mit Vorträgen neue Weggefährten zu finden. Dabei lässt er sich von Rückschlägen nicht entmutigen, nicht einmal von der Wahl Donald Trumps. So scheint der Film ein wenig im Kreis zu laufen. Interessanter wäre es gewesen, die Schauplätze von vor zehn Jahren aufzusuchen und die Statistiken und Diagramme von damals weiter zu führen. Aber vielleicht wäre diese Botschaft dann viel zu deprimierend gewesen. So schürt der Film Hoffnung in einem Kampf, den man eigentlich, wie auch jede neue Klimakonferenz zeigt, schon verloren hat.

Eine bewegende Ehrung wurde auch André Techiné zuteil, der in diesem Jahr für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Nach der Vorführung eines Zusammenschnitts seiner schönsten Filmszenen bat Thierry Frémaux den Regisseur auf die Bühne, der dort nicht nur mit einem Preis, sondern auch mit dem tosenden Applaus des Publikums für sein langjähriges Schaffen belohnt wurde. Zahlreiche Schauspieler, die mit ihm gedreht hatten, waren gekommen, um dem Altmeister ihre Referenz zu erweisen: Lambert Wilson, Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Juliette Binoche, Sandrine Kiberlain, Eldodie Bouchez, Emmanuelle Béart, sprich das ‚Who is Who‘ des französischen Kinos hatte sich versammelt, und wohnte auch der anschließenden Vorführung seines neuesten Films GOLDEN YEARS bei. Der wiederum gehörte nicht zu seinen besten. Erzählt wird die wahre Geschichte des Franzosen Paul Grappe, einem Deserteur des 1. Weltkriegs, der den Krieg in einem Kellerversteck seines Hauses überlebte – dank seiner Frau, die ihn in Frauenkleider steckte und ihm so ermöglichte, der klaustrophobischen Enge seiner Behausung zu entkommen, ohne von der Militärpolizei entdeckt zu werden. Ähnlich wie Eddie Redmaynes Figur in THE DANISH GIRL findet Paul schnell Gefallen an diesem unfreiwilligen Gender-Tausch, dafür aber nach Kriegsende als Mann nur schwer ins Leben zurück.

Leider gerät Techinés Version allzu bieder und uninspiriert. Pierre Deladonchamps, der in DER FREMDE AM SEE noch brillierte, kann als Frau nicht überzeugen, zu lang ist wohl auch Redmaynes Schatten, den dessen geniale Verwandlung in sein weibliches Alter Ego wirft.

Etwas wagemutigere Pfade beschritt dagegen John Cameron Mitchell mit seinem HOW TO TALK TO GIRLS AT PARTIES. Bereits mit seinem expliziten Queer-Hit SHORTBUS hatte dieser vor Jahren Aufmerksamkeit erregt, für RABBIT HOLE besetzte er Nicole Kidman als trauernde Mutter, die dafür mit dem Oscar nominiert wurde. Hier spielt sie allerdings eine denkbar andere Rolle als Anführerin einer kannibalistischen Alien-Spezies, die im Jahre 1977 die Erde ansteuern und, im Großbritannien der Punk-Ära, gar nicht weiter auffallen. Der rebellische Teenager Enn verwechselt so eine Basis Station der Außerirdischen mit einer coolen House Party und lernt die schöne aber extrem gelangweilte Zan (Elle Fanning) kennen, die gerne etwas mehr von der Welt kennen lernen möchte, vor allem Punk Rock. Was nach einem großen Spaß klingt, funktioniert auch über weite Teile des Films ganz gut, verliert sich aber dann doch zu sehr in seinem Genre-Mix von Body-Horror, Coming-of-Age-Drama und anderen Versatzstücken.

Ebenfalls außer Konkurrenz lief Roman Polanskis erotischer Literaturthriller NACH EINER WAHREN GESCHICHTE (Studio Canal?), der erst am letzten Festivaltag gezeigt wurde und leider auch nicht die grimmige Präzision eines GHOSTWRITER erreichen konnte. Doch auch ein seichter Polanski ist immer noch ein genügend guter Film, in diesem Falle ähnlich seltsam anzusehen wie der seines französischer Kollegen François Ozon. Über weite Stecken erscheint der Plot derart überdreht und in seiner Intention vermeintlich offensichtlich, dass man ihn schwer ernst nehmen kann – und gerade in dieser Übertreibung zeichnet sich doch gegen Ende eine hintergründige Pointe ab, die, wie bei Ozon auch, den Zuschauer mit einem zufriedenstellenden Aha-Erlebnis aus dem Saal entlässt. Es macht zudem große Freude dem Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen, Polanskis Frau Emmanuelle Seigner und der gefährlich-sinnlichen Eva Green zuzusehen. Diese derart herausfordernd zu kontrastieren und damit auch die beginnende Krise des Alterns bei Seigner mit zu thematisieren, zeigt, dass das Ehepaar nicht nur künstlerisch großes Vertrauen in einander setzen muss.

Auch Polanski mischte sich nochmal in die Netflix-Debatte ein und bekräftigte seine Überzeugung, dass sich Menschen immer im Kino treffen werden, um Filme zu schauen. Danach beendete Netflix-Chef Ted Sarandos selbst die Diskussion, in dem er äußerte, dass Cannes für seine Company uninteressant sei, wenn seine Filme nicht mehr im Wettbewerb liefen.

Doch kommen wir zurück zum Wettbewerb. Wie es Jacques Doillon mit RODIN (Wild Bunch), seinem Biopic über Auguste Rodin, in den Wettbewerb geschafft hat, war wohl selbst den Franzosen unklar. Zwar ist der Film bildgewaltig und mit Vincent Lindon, der Rodin als Bildhauer und Berserker überzeugend verkörpert, gut besetzt, ansonsten aber derart konservativ, dass ein französischer Kollege nach der Pressevorführung „Schulfernsehen“ in den Saal rief. Tatsächlich plätschert dieses Künstlerportrait vor sich hin und weiß nur zweimal Interesse zu wecken. Einmal in Rodins Kampf um seinen ersten Staatsauftrag ‚Balzacs Höllentor‘, der bei seinen Auftraggebern durchfiel, und in seiner Beziehung zu seiner begabtesten Schülerin Camille Claudel. Sie ist ihm künstlerisch ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen und hat schließlich auch den rettenden Einfall, Balzac nicht nackt, sondern mit Kleidern zu modellieren. Ihre Beziehung aber ist seinerzeit von dem französischen Kameramann Bruno Nuytten kongenial mit Isabelle Adjani verfilmt worden und hält diesem Vergleich nicht Stand. Da wäre die Geschichte zwischen Rodin und seiner Frau Rose Beuret interessanter gewesen, die von Séverine Caneele mit der Wuchtigkeit einer Königin und dem Stehvermögen eines Landmädchens angelegt wird und stets zwischen Geduld und Verzweiflung oszilliert. So wird man den Verdacht nicht los, dass sich hier das Rodin-Museum als Produktionspartner durchgesetzt hat, denn diese Biografie ist ebenso schön gefilmt wie altmodisch inszeniert – ohne jegliche Ecken und Kanten.

Ein echter Cannes-Liebling ist Naomi Kawase, die zuletzt mit KIRSCHBLÜTEN UND ROTE BOHNEN (2015) in der Un Certain Regard zu sehen war. In RADIANCE (Concorde) erzählt sie von Misako, einer Übersetzerin für Audiodeskriptionen, die ihr neuestes Werk bei einer Testvorführung mit Blinden bespricht. Dabei lernt sie Nakomori, einen Ex-Fotografen, der langsam sein Augenlicht verliert, kennen. Er wirft ihr vor, dass ihre Übersetzung zu detailliert sei, keinen Raum für eigene Vorstellungen und Emotionen lasse. Fortan kämpft Misako um die goldene Mitte zwischen einer zu elaborierten und einer zu knappen und damit profanen Übersetzung. Der mögliche Ausweg eröffnet sich ihr bei einer Begutachtung von Nakamoris Fotos, die ihr eine Tür öffnen. So nähern sich am Ende nicht nur Bild und Sprache an, sondern auch die beiden Protagonisten, was aufgrund des Altersunterschieds etwas aufgesetzt erscheint. Kawase ergeht sich dabei in Metaphern, die überfrachtet erscheinen und das Publikum nicht wirklich erreichen. Küsse vor dem schwindenden Licht des Sonnenuntergangs, wechseln ab mit poetischen Sätzen wie „Nichts ist schöner als das, was vor deinen Augen verschwindet.“ Kawase ist ein hochmetaphorischer Film gelungen, der nicht nur über Sprache und Bilder nachdenkt, sondern Film auch als ‚Einfangen von Licht‘ versteht. Dennoch gelingt es ihr nicht, dieses Konzept in eine schlüssige Ästhetik zu übersetzen.

Hoch umstritten war auch LE REDOUTABLE von Michel Hazanavicius, in dem Louis Garrel den jungen Jean-Luc Godard spielt. Dies gelingt ihm auf beeindruckende Weise, kann er doch alle seine Facetten – vom galanten Liebhaber über den brillanten Denker bis hin zum intellektuellen Arschloch – überzeugend interpretieren. Dabei folgt der Film ganz der Biographie und Perspektive seiner zweiten Ehefrau Anne Wiazemsky, beschreibt sein Genie vor dem Hintergrund der Mai-Unruhen 1968 in Paris, aber auch wie er sich an Themen und Mitstreitern abarbeitet und dabei immer unzugänglicher wird, bis er am Ende sowohl Jean-Luc als auch Godard getötet hat, um einen neuen Godard entstehen zu lassen. Der ist für die meisten Filmfreunde reichlich sperrig, was man von diesem Film überhaupt nicht sagen kann. Mit großer Inbrunst und Ironie dekonstruiert Hazanavicius den Mythos Godard, zeigt sein Denken, verneigt sich vor seiner Bedeutung für den Film, um anschließend seine Unzulänglichkeiten aufs Korn zu nehmen. In Frankreich wurde der Film von den Godard-Hassern frenetisch gefeiert, während er von den Puristen als eine Art Gotteslästerung zutiefst abgelehnt wurde. Zu schade, dass Godard hierzulande schon derart vergessen sein dürfte, dass dieser amüsante Disput sich in deutschen Kinosälen wohl kaum fortsetzen wird.

Große Erwartungen setzte man wie immer in Michael Haneke, über dessen neuen Film lange nur bekannt war, dass er sich mit der Flüchtlingskrise auseinandersetzen wolle. Doch sein HAPPY END (X-Verleih), dessen Titel natürlich ironisch zu verstehen ist, ließ die Schockwirkung ausbleiben und stellte die politische Dimension hinter eine ausgiebige Kritik der bürgerlichen Familie zurück. Stilistisch wandte er sich damit eher seinen frühen Erfolgen zu, wie BENNYS VIDEO und deren Medienreflexionen als Sezierungen sozialer Gewalt. Der Prolog des Films zeigt sich so komplett über die Kamera eines Smartphones, mit der ein zunächst nicht näher bestimmtes Kind recht gnadenlos den tristen Alltag mit einer allein erziehenden Mutter kommentiert. Nachdem es diese vergiftet hat, übernimmt der Vater und seine bourgeoise Großfamilie die Sorge um den psychisch labilen Sprössling. Diese verfügen über ein Bauimperium, das kurz vor der Übernahme steht und über dessen marode Charaktere Haneke wohl eine Art Kritik am alten Europa zu formulieren versucht. Mit einem äußerst beeindruckenden Cast – von Jean-Louis Trintignant und Isabelle Huppert über Toby Jones und Mathieu Kassovitz zu Franz Rogowski aus LOVE STEAKS – gelingt Haneke es diesmal nur bedingt, die messerscharfe Intensität von Filmen wie CACHÉ zu erreichen, in denen die langen Einstellungen nach einer Weile in die Vielschichtigkeit eines unterschwelligen Grauens kippten, und dabei auch die Gewaltgeschichte einer ganzen Nation mitthematisieren konnten. In HAPPY END verdichtet sich der Gegenstand der Kritik nicht genug, man meint ihn aus vielen anderen französischen Filmen ausreichend zu kennen und die Übertragung vom Familiären zum Gesamtgesellschaftlichen vermag nicht zu gelingen, hier ist der russische Beitrag von Zvyagintsev um Längen komplexer gelungen. So ging der Film auch bei der Palmenvergabe leer aus, wird jedoch durch seine Namen sicherlich sein Publikum finden.

Einen völlig anderen Zugang zum Thema aktueller europäischer Krisen wählte dagegen der ungarische Wettbewerbsbeitrag. Kaum ein Genre arbeitet sich so sehr an den Grenzen des Vorstellbaren ab, wie der Science-Fiction-Film, bezieht in Bedrohungsszenarien das kulturell Fremde immer wieder neu auf gesellschaftliche Schieflagen, die sich von ihm herausgefordert fühlen. Insofern ist es eigentlich nur konsequent von Kornél Mundruczó, die Flüchtlingskrise durch ein Narrativ des Fantastischen zu adressieren, und mit JUPITER’S MOON ausgerechnet das kommerziellste unter ihnen, den Superhelden-Film zu wählen. Die extreme Gespaltenheit, welche diese Verbindung beim Publikum auslöste, beweist nur, wie gelungen der junge ungarische Regisseur das politische Moment freizusetzen wusste, welches den meisten Graphic Novels von Marvel, DC und ähnlichen im Kern innewohnt. Doch darüber hinaus verwendete Mundruczó noch viele andere Elemente, zeigt die Flüchtlingslager in Ungarn mit einem dokumentarischen Blick, der sich auf eindringliche Weise in den Fluss der fiktionalen Geschichte fügt. Der junge syrische Protagonist, dem die Kamera bei seiner gefährlichen Reise folgt, löst sich jedoch bald aus den gängigen Erwartungsmustern der Zuschauer – denn er wird von einem Grenzpolizisten erschossen und stirbt nicht. Doch was ihm widerfährt, ist mehr als bloßes Überleben. Seine Wunden wie auch sein Körper bleiben in der Schwebe. Hier findet Mundruczó Anschluss an christliche Ikonographien, die an die Herkunft Jesu aus dem Morgenland erinnern und legt sich doch nie auf eine bestimmte religiöse Richtung fest. Die große Kunstfertigkeit des Films liegt in seiner unaufdringlichen Adressierung des Spirituellen, die er gekonnt mit Spannungselementen des Action-Thrillers zu verbinden weiß, ohne jemals geschmacklos zu werden. Ganz gleich wie man zur Herangehensweise an das Thema stehen mag: JUPITER’S MOON ist in jeder Minute ein Film, der im Kino funktioniert und dabei utopische Territorien erschließt – hier der des namensgebenden Mondes von Jupiter: Europa. Und dies derart eingängig, dass er sogar dem Amerikaner Will Smith von allen Filmen am besten gefiel.

Der Lieblingsfilm von Almodóvar war unterdessen auch nicht schwer zu erraten: Das epische und durchweg hervorragende Aids-Drama 120 BEATS PER MINUTE verschränkt das Politische mit dem Erotischen und überzeugt in der Zeichnung seiner Charaktere und ihrem Ringen um Anerkennung, Liebe und die Zeit, die noch bleibt. Der gebürtige Marokkaner Robin Campillo machte vor allem durch seine Autorschaft für Laurent Cantet auf sich aufmerksam, verhalf ihm so auch für DIE KLASSE durch sein Ausnahme-Drehbuch zur Goldenen Palme. Viele dieser Stilelemente finden sich auch in seiner Regie-Arbeit wieder, eine Mischung aus langen dokumentarisch anmutenden Beobachtungen von Gesprächen und intimen Szenen, die einen tieferen Blick auf die Charaktere ermöglichen. Ende der Achtziger Jahre geht ein Gespenst um, im Frankreich Mitterands – und das Gespenst heißt HIV, denn die Zahlen der Infizierten steigen, doch niemand spricht darüber. Assoziiert wird die Krankheit immer noch mit den verachteten Randgruppen, den Homosexuellen, Prostituierten, Kriminellen und Drogensüchtigen. Die Politik sieht keinen Aufklärungsbedarf, dabei ist Aids schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nach dem Vorbild von Aktivistengruppen aus New York gründet sich auch der französische Zweig von „Act Up“ in Paris als durchaus militantes Bündnis sehr unterschiedlicher Betroffener, die sich gegen die mediale Ausgrenzung und elitäre Pharma-Konzerne zur Wehr setzen, engagiert, kreativ und manchmal auch mit der nötigen Gewalt eines legitimen Protests. Campillo, der sich nach seinem Filmstudium ebenfalls intensiv in solchen Gruppen engagiert hat, zeigt die langen internen Debatten um die Richtung des politischen Vorgehens, innere Zerwürfnisse und Allianzen von Menschen mit außergewöhnlichen Schicksalen, deren Loyalität und Liebe zueinander dennoch eine Unbedingtheit erreicht, im Wissen, dass das eigene Leben schon bald abrupt zu Ende sein kann. Dabei fokussiert sich der Film schließlich auf die Beziehung zweier Mitglieder, von denen nur einer HIV-positiv ist – und der von seinem Freund dennoch auf dem Weg ins Ungewisse begleitet wird. Dabei erreicht Campillo mit seiner Inszenierung der schwulen Liebesbeziehung stellenweise die Nähe und affektive Kraft von LA VIE D’ADÈLE.

Dass die Jury unserem diesjährigen Cannes-Highlight tatsächlich die Goldene Palme zusprach, war ein Novum, dass einen am Ende mit vielen durchschnittlichen Filmen versöhnte. Der Gewinner des Festivals ist THE SQUARE (Alamode) von Ruben Östlund, der mit seinem letzten Film HÖHERE GEWALT in der Certain Regard den Jury Preis gewonnen hatte. Damals interessierte er sich für einen Familienvater, der im Skiurlaub seine Familie bei einem Beinah-Lawinenunglück alleine lässt, nun geht es um Christian (Nomen est Omen), einen gut aussehenden, erfolgreichen und eloquenten Museumsdirektor, der bei der Vermarktung seiner neuen Ausstellung, aber auch privat – nachdem ihm sein Handy gestohlen wird – mit der von ihm verlangten „political correctness“ in Konflikt gerät. Das titelgebende Quadrat ist Teil einer von ihm konzipierten Ausstellung mit Bezug auf die „Relational Aesthetics“, einer Kunstrichtung, die vom französischen Kurator Nicolas Bourriaud mitgeprägt und durch den Wunsch angetrieben wurde, das Museum zu einem echten Ort des sozialen Austauschs werden zu lassen. Dieser schöne Gedanke erscheint in Östlunds bissiger Satire nicht zu unrecht als weltfremde Utopie einer intellektuellen Elite, die sich schon längt in den Elfenbeinturm ihrer poststrukturalistisch-verschlüsselten Katalogtexte zurückgezogen hat. Denn der angestrebte Austausch ist auch schon lange unterwandert von neoliberalen Interessen und aggressiven Vermarktungsstrategien, die zu dem intellektuellen auch noch einige andere Machtgefälle ins Spiel bringen.

Östlund ist ein Film gelungen, über den man viel diskutieren wird – in den Feuilletons der Zeitungen wie in den Kino Foyers, und vielleicht auch in einigen Chef-Etagen von zeitgenössischen Museen. Die Goldene Palme ist hochverdient, da es ihm gelingt, eine Schieflage des gesamten Kulturbetriebs zu adressieren, die letztlich auch politische Konsequenzen nach sich trägt – wenn die Kunst dem Populismus nichts mehr entgegen zu setzen hat, um sich selbst kreist, die Menschen mit ihrer intellektuellen Unzulänglichkeit konfrontiert, anstatt sie auf intelligente Art anzusprechen und mitzunehmen. Wenn Inklusion auf diese Weise nur noch als Marketing Instrument erscheint, lässt sich das als Bankrotterklärung auch einer engagierten Linken verstehen. Dabei gelingt es Östlund mit sehr viel schwarzem Humor stets einen Widererkennungsfaktor zu schaffen, der wohl jeden im Kultur- und Medienbereich Arbeitenden irgendwo trifft. Wenn man auch ein Stück über sich selbst lachen kann, bietet THE SQUARE daher großes unterhaltsames wie selbstreflexives Potential – wenn nicht, sollte man vielleicht darüber nachdenken, wie weit man selbst schon in diese neue Form der Kulturindustrie verstrickt ist.