Die 68. Filmfestspiele Berlin: Ein Festivalbericht

Auch in diesem Jahr waren wir wieder auf der BERLINALE fleißig in den Kinos unterwegs - hier unser ausführlicher Bericht. Insgesamt war der Wettbewerb durchwachsen - eine Mischung aus cineastischen Kunstwerken ohne Aussicht auf Publikum, populären Filme von zum Teil bescheidener Qualität bis hin zu einem deutschen Block, der sich insgesamt stark und publikumswirksam zeigte, aber leider von der Jury nicht gewürdigt wurde. Wir freuen uns schon auf den Kinostart unserer Favoriten und hoffen, dass die guten Filme, die bisher ohne Verleih sind, ebenfalls ihren Weg in unsere Kinos finden.

Wie schon im Vorfeld war auch während der Berlinale das in den Medien viel diskutierte Ende der Ära Dieter Kosslicks, dessen Vertrag als Festivaldirektor 2019 endet, ein Thema. Natürlich fragte die ausländische Presse auch bei den deutschen Kreativen nach, die eine Neuausrichtung des Festivals gefordert hatten, so zum Beispiel bei Christian Petzold auf seiner Pressekonferenz zu TRANSIT. „Es ging nie darum mit Dieter Kosslick abzurechnen“ erklärte Petzold auf Nachfrage, „wir wollten nur keine Findungskommission hinter verschlossenen Türen, sondern ein transparentes Verfahren, an dem alle Filmschaffenden mitwirken können.“ Außerdem forderte er eine breite Diskussion um eine künftige Ausrichtung der Berlinale. „Cannes ist Cannes, da will jeder seinen neuen Film unter dem Nachthimmel der Croisette starten.“ Und Venedig hat es vorgemacht, Alberto Barbera hat in den letzten fünf Jahren dem Festival einen neuen Ruf gegeben, es zu einer Pre-Show der kommenden Oscarverleihung umgebaut, auf die sich die Fotografen vor dem Hintergrund der Serenissima schon mal einschießen können. „Der Potsdamer Platz dagegen ist der Potsdamer Platz“, so Petzold weiter, „er hat all dies nicht, ist kalt, leblos, quasi ein Labor und vielleicht sollte man darüber nachdenken, hier mutigere Filme mit Ecken und Kanten zu zeigen.“

Das schien sein Kollege Tom Tykwer, der in diesem Jahr der Internationalen Jury vorstand, gehört zu haben. Sie zeichnete er TOUCH ME NOT, einen wahren Laborfilm, mit dem Goldenen Bären aus. Dass dieser die Leute in die Kinos locken wird, ist zu bezweifeln, in Berlin vertrieb er die Zuschauer erst einmal reihenweise aus den Sälen.

 

Adina Pentilie Goldener Bär Touch Me Not

Goldener Bär für Adina Pentilie für Touch me not,© Richard Hübner/Berlinale

TOUCH ME NOT ist ein Experimentalfilm, eine (fiktionale) Dokumentation über eine 50-jährige Frau, die sich aufmacht zu ergründen, warum sie sich von niemandem berühren lassen will, was sowohl wortwörtlich als auch emotional gemeint ist. Die Regisseurin verfolgt sie bei ihren Begegnungen mit verschiedenen Charakteren, wobei die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation stets fließend sind. Sie verzichtet auch auf erzählerische Strukturen, und wählt Protagonisten, die sonst nicht im Fokus stehen, schon gar nicht in einem Film über Sexualität. Da ist zum Beispiel der behinderte Christian, der ohne Arme und Beine auskommen muss. Ein weiterer hat keine Haare am Körper, auch ein Transsexueller und ein Sadomasochist gehören zum Personal. Alle werden von der 35-jährigen rumänischen Regisseurin Adina Pintilie über ihr Sexleben befragt, und sie erzählen davon ganz offen, und zwar dort, wo sie es ausleben. Die Regisseurin fängt dies in hyperrealistischen Bildern ein, die tatsächlich oft an die Schmerzgrenze gehen und den geschönten Hochglanzbildern à la FIFTY SHADES OF GREY diametral gegenüber stehen. Das ist zuweilen langweilig, zuweilen abstoßend, manchmal durchaus auch berührend – wenn wir uns auf die Figuren einlassen. Als Berlinale-Gewinner taugt er aber unserer Meinung nur wenig, eher als Provokation einer Festival-Jury, die die gängige Erwartungshaltung von Weltpresse und Öffentlichkeit kräftig gegen den Strich bürsten wollte.

Wenn man dann am Ende noch von der Jury erfahren durfte, dass die Zukunft des Kinos nicht mehr unbedingt mit einem nennenswert großen zahlenden Publikum rechnet, wurde klar, dass es viele verschiedene Meinungen zum Thema Zukunft der Berlinale gibt, die, je mehr man darüber diskutiert, nicht unbedingt einvernehmlicher werden. So sollte es einen nicht wundern, wenn die Findungskommission demnächst wieder die Rollläden herunter lässt und uns im Sommer einen neuen Leiter präsentiert.

 

Twarz

Twarz, © Bartosz Mronzowski

Völlig zu Recht ging dagegen der Große Preis der Jury an TWARZ (Gesicht) von Malgorzata Zumowska, die zum fünften Male einen Film auf der Berlinale vorstellte und zuletzt für BODY den Silbernen Bär gewann. Energiegeladen und bissig folgt sie einem jungen Heavy-Metal-Fan in die Tristesse des polnischen Landlebens. Alternative Lebensentwürfe kommen in dem Dorf, das gerade dabei ist, die größte Jesus Statue der Welt zu errichten, nicht besonders gut an. Der langhaarige Jacek arbeitet dort auf dem Bau mit, um für ein neues Leben ins London zu sparen und lässt sich die gute Laune nicht verderben, bis er eines Tages einen schweren Unfall hat. Völlig entstellt, wird er zum Präzedenzfall der Plastischen Chirurgie Polens und bekommt ein neues Gesicht, das zwar von den Medien gefeiert wird, in seiner Gemeinde jedoch auf Ablehnung stößt. Man erkennt das Vertraute nicht mehr, außerdem steht die Körperbehinderung des jungen Mannes ihm nun auch ins Gesicht geschrieben.

Zumowska zeigt hier die tiefe Fremdenfeindlichkeit ihres Landes auf, das Kirche, Nation und Familie als reaktionäres Dreigestirn über alles stellt und jeglicher Form des Andersartigen mit tödlicher Feindseligkeit begegnet. Mit sehr viel schwarzem Humor und einem messerscharfen Blick entlarvt sie die gesellschaftlichen Tendenzen in prägnanten Szenen und findet immer wieder starke Bilder, die uns mit dem eigensinnigen und liebenswerten Jacek mitfühlen lassen. Auch eine originelle Fokussetzung der Kamera gibt dem Film eine delirierende Qualität. Durch den Tunnel der Unschärfe, der sich oft um den Bildrand legt, werden wir in die Isolation des Protagonisten hineingezogen und hinterfragen noch stärker das Surreale seiner Umgebung.

 

Eine Strategie, die sich auch in zwei ähnlichen Filmen in den Sektionen FORUM und PANORAMA wiederfinden ließ: TOWER. A BRIGHT DAY von Jagoda Szelc und WHEN THE TREES FALL von Marysia Nikitiuk. Ersterer spielt auch in Polen und formuliert die Gesellschaftskritik im Stil eines Lars von Trier Films, beschwört ein apokalyptisches Szenario, das sich letztlich auch um den Einbruch des Fremden in das Eigene dreht, der lange verleugnet wurde, und bildet somit eine Allegorie auf Polens Umgang mit der Flüchtlingskrise.

Die Ukrainerin Nikitiuk schafft ebenfalls surreale Bilderwelten, die sie der unerträglichen Trostlosigkeit des ländlichen Osteuropas entgegensetzt. Ihre Protagonistinnen kämpfen gegen stumpfe Verrohung, Progrome gegen Siniti und Roma, die Aussicht auf Zwangsheirat und wirtschaftliche wie persönliche Perspektivlosigkeit. Es macht zumindest Hoffnung, dass all diese jungen Frauen mit so viel Originalität und Genauigkeit eine Ausdrucksform für die Missstände in der Gesellschaft gefunden haben. Vielleicht kann man hier schon von dem Beginn einer Neuen Welle sprechen.

 

Dovlatov

Dovlatov, ©SAGA Films

Ein weiterer Silberner Bär ging an Elena Okopnaya für das Beste Kostüm und Production Design in DOVLATOV von Alexey German Jr., der außerdem mit dem Leserpreis der Berliner Morgenpost ausgezeichnet wurde. Nachdem er für UNDER ELECTRIC CLOUDS im letzten Berlinale Wettbewerb bereits einen Preis für die Beste Kameraarbeit erhalten konnte, honorierte die Jury hier erneut die erstaunliche szenografische Arbeit des Teams um den jungen russischen Regisseur. Schnell hätte das Porträt um den Schriftsteller Sergei Dovlatov zu einem gewöhnlichen Biopic werden können, doch German vermeidet alle gängigen Erzählklischees. Keinerlei Künstlichkeit in der Rekonstruktion der späten Soviet-Ära, keine aufgesetzte Dramatisierung der Lebensgeschichte des lange ignorierten Künstlers. Stattdessen zieht die freischwebende Kamera den Zuschauer in unglaublich virtuose Plansequenzen, die den Alltag der Maler, Schriftsteller und Intellektuellen in Leningrad zeigen und seine oft absurde Qualität herausstellen. Denn Kunst um der Kunst willen ist im System nicht gefragt. Wer ein Gedicht schreibt, muss zeigen, dass seine Intention im Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft liegt. Doch was als emanzipatorisches Ideal einer Revolution anfing, ist längst das stumpfe Maß neuer Unterwerfungsstrukturen geworden. Das Perfide an der Alltäglichkeit der Diktatur ist ihr Angriff auf die Subjektivität der eigenständig Denkenden, Autoren werden zur Umschrift ihrer Texte angehalten oder so lange ignoriert, bis sie verhungert sind. Jeder weiß um die Lächerlichkeit der Paraden und Aufmärsche, aber man geht trotzdem mit. In der Bevölkerung hat sich ein neuer Geist von Anpassungsleistungen entwickelt, den Dovlatov einfach nicht teilen kann. Er will sich nicht umerziehen lassen und kann seinen Sarkasmus nicht unterdrücken. Gerade diese Kunst der Ironie ist jedoch gefährlich, weil sie einen inneren Freiraum schafft, der die bierernsten Parteigenossen mehr bedroht als manches andere. German greift in seinem Film den Schreibgestus Dovlatovs selbst auf: Kein Heldenepos, keine Dreiaktstruktur – sondern einfach ein stiller Beobachter dessen sein, was Leben in der Sowjetunion heißt.

 

Damit zeichnete die Berlinale also drei Frauen im Wettbewerb mit einem Bären aus – drei Frauen aus dem ehemaligen Ostblock, die ein radikales Kino vertreten, das Grenzen sprengt und die Freiheit des Denkens fordert, was in Tagen des anti-europäischen Populismus und der Rückkehr der starken Männer ein nicht zu unterschätzendes Gut und eine Art künstlerischer Widerstand gegen das neue Erstarken verkrusteter Strukturen darstellt, die vielleicht zeigen, dass die Vergangenheit der sowjetischen Diktatur noch lange nicht ausreichend aufgearbeitet ist.

 

Las Heredas

Las Heredas, © lababosacine

Preisgekrönt mit dem Alfred Bauer-Preis, dem Silbernen Bären für Ana Brun als beste Darstellerin und dem Teddy Award wurde der erste Wettbewerbsbeitrag in der Geschichte der Berlinale aus Paraguay LAS HEREDERAS (Die Erbinnen). Außer Regisseur Marcelo Martinessi sind fast alle Beteiligten am Film Frauen. Auf der Pressekonferenz strahlte das Team so viel Power und Fröhlichkeit aus, dass es schnell alle Herzen für sich gewinnen konnte. Im Gegensatz zu diesem lebhaften Auftritt steht der behutsame Inszenierungsstil des Films, der konsequent aus der Perspektive der Frauen in ruhigen Bildern einen langsamen Emanzipationsprozess beschreibt.

Im Mittelpunkt stehen die stille Chela und die quirlige Chiquita, ein lesbisches Paar im Seniorenalter aus der Oberschicht der paraguayischen Hauptstadt Asunción. Grundlage ihres Wohlstandes ist ihr Erbe, vor allem Chelas noch aus der Kolonialzeit stammendes Haus, in dem sie seit ihrer Kindheit zurückgezogen lebt und das sie nun mit ihrer quirligen Freundin teilt. Doch der soziale Abstieg droht, denn die beiden leben aus dem Bestand einer vergangenen Epoche, der sich allmählich dem Ende zuneigt. Einen Beruf haben sie nie gelernt. Als das Tafelsilber und fast alle Möbel verkauft sind und Schulden Chiquita eine mehrwöchige Untersuchungshaft einbringen, spitzt sich die Situation zu. Die verträumte Chela muss plötzlich ohne ihre selbstbewusste und in der Beziehung dominantere Freundin auskommen. Das wenige, das ihr geblieben ist, ist ihr alter Mercedes. Doch in der Krise liegt auch eine Chance. Die nutzt Chela, als ihre zunächst als Nachbarschaftshilfe gedachten Chauffeurdienste immer populärer werden und ihr eine neue Einnahmequelle und Selbständigkeit verschaffen. Auch macht ihr der Kontakt mit anderen Menschen zunehmend Freude und sie wird sich ihres zuvor so isolierten Lebens bewusst. Aber auch Chiquita erhält im Knast einen völlig neuen Einblick in die Realität des gesellschaftlichen Lebens jenseits der Oberschicht.

In dieser sehr privaten Geschichte spiegelt sich das Bild einer in Arm und Reich gespaltenen lateinamerikanische Gesellschaft wider, einer Männerwelt, in der auch nach dem Ende der Diktatur unter Alfredo Striessners (1954 – 1989) Korruption und Unterdrückung zum Alltag gehören und Frauen nur als Schmuckobjekt ihrer Ehemänner gesehen werden. Doch unter der Oberfläche brodeln nicht nur die sozialen Spannungen, sondern auch jede Menge Frauenpower, die heraus in die Öffentlichkeit drängt und Veränderungen bewirken will. Ein leiser und sehr schöner Film, der aber Zeit braucht, um einen mitzunehmen und sich erst gegen Ende Stück für Stück erschließt. Mit dem Rückenwind der drei Berlinale-Preise sollte er aber für eine Kinoauswertung – vor allem in Hinblick auf ein weibliches Arthouse-Publikum und die LGBT-Community – interessant sein.