74. Internationalen Filmfestspiele von Venedig

Eine optimale Mischung von anspruchsvoller Filmkunst und bester Unterhaltung bot das Filmfestival in Venedig in diesem Jahr.

Eigentlich sollte ein Filmfestival einfach nur die derzeit besten Filme der Welt vorstellen. Da ist es schon überraschend, dass die Festivalleiter darüber hinaus noch nach einem roten Faden in ihrem Programm suchen, so als ob der Qualitätsaspekt allein nicht ausreichend wäre. Auf der anderen Seite könnte ein solcher roter Faden natürlich auch das globale Weltgeschehen spiegeln, sprich Themen ausfindig machen und konzentrieren, mit denen sich viele Filmschaffende zur Zeit beschäftigen. Meist werden solche Zusammenhänge auf oberflächliche Weise konstruiert und beschworen, wie etwa Familie, Liebe oder Sozialkritik, doch in diesem Jahr konnte man tatsächlich einen solchen Faden erkennen, der viele Filme miteinander verband und eine Art gesellschaftlichen Grundtenor andeutete. Die Begriffe Angst und Wut fielen jedenfalls erstaunlich häufig im Festival 2017, ganz egal, ob sie inhaltlich verhandelt wurden oder ob es der Antrieb für die verschiedenen Filmkünstler war.

Downsizing 2017

Downsizing © Venice International Filmfestival 2017

So war es schon beim Eröffnungsfilm DOWNSIZING, in dem Alexander Payne (SIDEWAYS, ABOUT SCHMIDT) einer ziemlich spektakulären Idee der Müllvermeidung und Ressourcenschonung nachgeht. Einem skandinavischen Wissenschaftler ist es gelungen, Menschen schrumpfen zu lassen. Fortan brauchen sie weniger Platz, Energie und Nahrung und erzeugen auch weniger Müll. Noch dazu sind ihre persönlichen Kosten deutlich geringer, was sie auch finanziell aufsteigen lässt. Matt Damon spielt hier wieder einmal den Normalbürger Amerikas, der sich von dieser Idee anstecken lässt und mit seiner Frau beschließt, diesen Weg – nicht zuletzt wegen der persönlichen Vorteile – gemeinsam zu gehen. Einziger Haken: Der Schrumpfungsprozess ist nicht reversibel, und so wacht unser Held alleine in Gullivers Zwergenland auf, seine Frau hat im letzten Moment kalte Füße bekommen und einen Rückzieher gemacht. So hat er sich sein neues Leben eigentlich nicht vorgestellt, und es verläuft ähnlich ereignislos wie sein altes, jedenfalls solange, bis er auf zwei Schwarzmarkthändler (Christoph Waltz und Udo Kier) und deren Putzfrau (großartig gespielt von Hong Chau aus BIG LITTLE LIES und INHERENT VICE) trifft, die nicht nur mächtig Dampf in sein Leben bringen, sondern auch dem Film eine ordentliche Dosis Adrenalin verpassen. Am Ende hat unser Held sogar etwas gelernt, denn wenn sich auch alles Organische schrumpfen lässt, die Probleme bleiben so groß wie zuvor und lösen kann man sie nur, wenn man seine Einstellung ändert.

 

Suburbicon 2017

Suburbicon © Venice International Filmfestival 2017

Matt Damon spielt auch die Hauptrolle in George Clooneys immerhin schon sechster Regiearbeit SUBURBICON. Der Stoff geht zurück auf ein Drehbuch der Coen-Brothers, das diese in den 1980er Jahren geschrieben haben, aber nicht finanzieren konnten. Später haben sie dann das Interesse an dem Stoff verloren und überließen Clooney ihre Idee von einer Mustersiedlung im Herzen Amerikas, in der alles vom Feinsten ist und einer Postkarten-Idylle der 1950er Jahre gleicht. Doch genau hier, wo die Welt nach außen hin noch in Ordnung scheint, wird ein abscheuliches Verbrechen geplant. Als wäre dieser Gegensatz noch nicht groß genug, hat Clooney die Geschichte um eine neue farbige Familie ergänzt, die in diese amerikanische Traumgemeinde zieht und damit tumultartige Zustände auslöst, der ideale Deckmantel für die hier vor sich gehenden kriminellen Machenschaften. Und wenn am Ende alles Böse ans Tageslicht kommt, können ja nur die Farbigen daran Schuld gewesen sein, denn vorher hat es so etwas ja nie gegeben.

 

Matt Damon und George Clooney

© Venice International Filmfestival 2017

Auf der Pressekonferenz gab sich Clooney ziemlich enttäuscht darüber, dass Amerika seinen Rassismus immer noch nicht überwunden hat und nach wie vor dazu neigt, Zäune zu bauen. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte, der nächste amerikanische Präsident zu werden, gab er sich amüsiert, bis ihm Matt Damon ins Wort fiel und konstatierte, dass es ihm völlig egal sei, wer der nächste amerikanische Präsident werde, solange es nur nicht der aktuelle wird.

 

First Reformed 2017

First Reformed © Venice International Filmfestival 2017

Aktuelle gesellschaftspolitische Befindlichkeiten untersuchte auch Paul Schrader in FIRST REFORMED, der, nach einigen Ausflügen in den Genre-Film (THE CANYONS), mit einem Alterswerk zurückkehrte, das an Erfolge wie TAXI DRIVER und BLUE COLLAR anknüpfen konnte. Sein Lieblingsmotiv des einsamen Wolfes, der desillusioniert aus der Gesellschaft fällt, um dann nach und nach in den Wahnsinn abzugleiten, findet hier mit Ethan Hawke eine hervorragende, intensiv gespielte Verkörperung. Als Ex-Militär, der seinen eigenen Sohn im Irak-Krieg verloren hat, versucht dieser nun als Pastor einer kleinen Gemeinde anderen Menschen Hoffnung zu geben. Seine eigenen Dämonen bekommt er dabei jedoch selbst mit Alkohol kaum unter Kontrolle und als ein von ihm betreuter Mann schließlich unter fragwürdigen Umständen Suizid begeht, überschwemmt ihn nach und nach die unterdrückte Gewalt. Schrader greift dabei verschiedene Themen gelungen auf – den ansteckenden Nihilismus von Selbstmordattentätern, Perspektivlosigkeit und Ohnmacht angesichts der allgegenwärtigen neoliberalen Machenschaften und die daraus resultierende Umweltzerstörung. Das Setting scheint dabei für Schrader selbst eine therapeutische Funktion einzunehmen, denn bekanntermaßen arbeitete er sich sein Leben lang am streng calvinistischen Elternhaus ab. Ästhetisch zeigt sich das an seiner Faszination von Regisseuren wie Carl Theodor Dreyer oder Robert Bresson, die hier in seinem Wettbewerbsbeitrag als modernen Version des TAGEBUCHS EINES LANDPFARRERS offensichtlich wird.

 

Mother! 2017

Mother! © Venice International Filmfestival 2017

Viel ist über Darren Aronowskys MOTHER! im Vorfeld spekuliert worden und Vermarktung wie Hype schürten konträre Erwartungen an den Film, der zwar leidenschaftlich verrissen und ausgebuht wurde, jedoch auch nicht uninteressant ist, wenn man sich auf die Suche nach Interpretationen begibt. Ganz offensichtlich handelt es sich bei der Geschichte um kein realistisches Setting, noch nicht einmal um ein Mind-Game-Movie, bei dem am Ende alles nur im Kopf des Protagonisten stattfindet, sondern um den Entwurf einer kulturellen Allegorie.

Jennifer Lawrence 2017

Jennifer Lawrence © Venice International Filmfestival 2017

Was Aronowsky da in abstrakte Konstellationen bringt, ist vor allem die Geschlechterdifferenz und ihr Gewaltzusammenhang in patriarchalen Gesellschaften. Da diese in unserer Kultur mit den großen monotheistischen Religionen zusammenhängt, in denen Gott als Vater (oder Sohn) als Maßstab aller handelnder Subjekte gilt, stellt sich die Frage nach Ort und Rolle der Frau. Mütterlich verstanden, ist sie der haltende und umhüllende Raum für den Mann, was für ihn nützlich wie auch recht gefährlich sein kann. So muss die schöpferische Kraft des Weiblichen kontrolliert, unterdrückt und herabgesetzt werden, damit sich das männliche Geschlecht als eigentlicher Schöpfer auf ihre Kosten hervorbringt. In Aronowskys Film wird dies am starren Javier Bardem exemplarisch, der, als sexuell und künstlerisch blockierter Schriftsteller, unfähig ist, zu seiner madonnenhaften Frau, intensiv verkörpert von Jennifer Lawrence, in lebendiger Beziehung zu stehen. Aronowsky erzählt aus der Perspektive des Weiblichen, das seines Ortes beraubt wird, obwohl es als Mutter der eigentliche Spender jeden Raumes ist und in der Ambivalenz zwischen bedrohlicher Verführerin und unbefleckter Heiligen gefangen bleibt.

 

Lean on Pete 2017

Lean on Pete © Venice International Filmfestival 2017

Hohe Erwartungen richteten sich auch an den neuen Film von Andrew Haigh, der sich mit seinem Drama 45 YEARS in die Spitze des Arthouse-Films katapultierte. LEAN ON PETE wechselt den Schauplatz vom nebligen Großbritannien in die erbarmungslose Sonne des mittleren Westens der USA. Hier erzählt Haigh die Leidensgeschichte eines Teenagers aus prekären Verhältnissen, der Hoffnung durch einen Job an der Pferderennbahn erhält. An ihr schlägt sich auch ein mürrischer Steve Buscemi mit seinen Tieren durch, die er aus Profitgier bis zur Verletzung verheizt. Der Junge spürt insgeheim, dass sein Leben genauso wenig wert ist, und entführt schließlich das zur Schlachtung freigegebene Pferd “Lean on Pete”, als sein Vater stirbt und die Fürsorge droht, ihn ins Heim zu stecken. Zu Fuß auf dem Weg in den Westen verschlägt es das seltsame Paar durch die Wüste und immer weiter hinaus aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang. Etwas zu lang und nicht ganz so kraftvoll, wie seine Vorgänger, erzählt der Film dennoch eine bewegende Außenseiter-Geschichte, die zeigt, wie leicht man im Land der unbegrenzten Möglichkeiten immer noch aus der Welt fallen kann. Charlie Plummer erhielt für seine schauspielerische Leistung als Bester Junger Darsteller den Marcello-Mastroianni-Award.

Ein gelungener Publikumsfilm ist Paolo Virzis wunderbares Werk THE LEISURE SEEKER mit Helen Mirren und Donald Sutherland in den Hauptrollen. Darin machen sich die beiden als langjähriges Ehepaar Ella und John noch einmal auf zu einer Reise in ihrem Oldtimer-Wohnmobil entlang der amerikanischen Ostküste – von Boston bis nach Florida, um ein letztes großes gemeinsames Abenteuer zu erleben. Denn die Tage ihrer Unabhängigkeit sind gezählt.

John kämpft mit seinem Gedächtnisverlust, Ella mit einer Krebserkrankung, doch die beiden wollen sich nicht unterkriegen lassen und noch einmal unbeschwert wie früher schöne Tage “on the road” miteinander verleben, ein Unterfangen, das natürlich nicht ohne Komplikationen vonstatten geht. Virzi legt hier eine gelungene Mischung aus Road-Movie und romantischer Komödie vor, ein Film, der Spaß macht und sich auf seine beiden hervorragenden Protagonisten verlassen kann. Das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Michael Zadoorian aus dem Jahr 2009, der besonders in Italien ein Bestseller war und bereits in über 90 Länder verkauft worden ist.

 

La Melodie 2017

La Melodie © Venice International Filmfestival 2017

Ein ähnlicher Crowdpleaser ist auch dem französischen Regisseur Rachid Hami gleich mit seinem ersten Film LA MELODIE gelungen, den Prokino zu Weihnachten in unsere Kinos bringen wird. Kad Merad läuft hier geradezu zur Hochform auf, nicht etwa als tollpatschiger Briefträger, sondern als in sich gekehrter Musiker, der sich an einem Sozialprojekt des Schulministeriums beteiligt, das Schülern aus der Pariser Banlieue das Geigenspiel nahebringen will. Hier trifft er auf den Hass und Zorn einer Generation, die sich ausgegrenzt fühlt und in der Schule keinen Sinn sieht, weil sie ihr Schicksal in dieser Gesellschaft für vorbestimmt hält, wie auch auf unerwartete Talente, die mit Disziplin, Fleiß und Leidenschaft zu wahren Höchstleistungen fähig sind. Zwar bedient der Film das etwas didaktische Credo der französischen Regierung „Wir lassen keinen Jugendlichen zurück“, doch Kad Merads Performance ist so tiefgreifend und intensiv, dass sie auch intellektuelle Kritiker zu Tränen rührt. Sein Musiklehrer zerbricht fast an der Herausforderung, in dieser chaotischen Klasse Gehör zu finden und schafft es am Ende doch, über die Töne der Musik die Jugendlichen zu erreichen. Kad Merad ist selbst in der Banlieu aufgewachsen und zog auf der Pressekonferenz seinen Hut vor dem gerade verstorbenen Jerry Lewis: „Er war ein ebenso großer Komiker wie Charakterdarsteller und damit zeitlebens mein großes Vorbild.“

 

The Third Murder 2017

The Third Murder © Venice International Filmfestival 2017

Hirokazu Kore-eda gelingt es stets, durch seine sensible Erzählweise zu überzeugen, meist stehen dabei Familiengeschichten in seinem Fokus. Umso überraschender war es daher zu sehen, dass er sich in diesem Jahr am Genre des Gerichtsfilms erprobte, und dabei an den großen Klassiker RASHOMON anschloss. THE THIRD MURDER ist in ähnlicher Weise eine Meditation über die Frage der Perspektivierung von Wahrheit sowie die Unmöglichkeit absolute Objektivität zu finden. Ein junger Anwalt gerät darin in einen Mordfall, der beinahe selbsterklärend scheint. Doch der geständige Täter verwickelt die Justiz immer tiefer in Widersprüche und löst bei den Strafverfolgern eine Obsession aus, die sie an die Grenzen ihres Arbeitsverständnisses bringt. Indirekt verhandelt Kore-eda dabei dann doch das Verhältnis von Eltern und Kind, schafft es jedoch über die Länge von zwei Stunden auch den Zuschauer in Atem zu halten, wenn jede Schicht, die abgetragen wird, nur eine neue Bodenlosigkeit enthüllt. Justiz ist ein Betrieb mit klaren Spielregeln zur Erschaffung von verbindlichen Tatsachen, scheint er sagen zu wollen – Gerechtigkeit dagegen etwas gänzlich Anderes.

 

Eher kritisch wurde Ai Wei Weis Dokumentarfilm HUMAN FLOW aufgenommen, der zunächst ein ästhetisches Konzept vermissen ließ und in seiner gewaltigen Länge etwas redundant erschien. Doch nach und nach erweist sich das Disparate als eine Art Leitmotiv, das dem Thema von weltweiter Flucht und Vertreibung durchaus angemessen ist. In seiner markanten Körperlichkeit ist Ai Wei Wei immer wieder bei den Aufnahmen präsent, reist in das desolate Flüchtlingslager Idomeni ebenso wie ins Borderland Mexikos, das Trump durch seine Mauer abschotten will. Handyvideos wechseln sich mit Steady-Cam-Kompositionen ab, die teilweise sogar von Christopher Doyle aufgenommen wurden. Über diese werden immer wieder Schriftzüge eingeblendet, News-Ticker der großen Medienberichterstatter ebenso wie Zitate von syrischen Philosophen und Künstlern, um die Flut der Bilder in unterschiedlicher Weise zu kommentieren.

Beeindruckend sind dabei vor allem Drohnenaufnahmen von Camps weltweit, die deutlich machen, wie immens die globale Migration zugenommen hat, wie viele Menschen auf der Flucht vor Kriegen, wirtschaftlicher Not und Klimakatastrophen sind. Ai Wei Wei präsentiert sich vor allem als unermüdlicher Zeuge, der eine Fülle an dokumentarischem Material versammelt, das wir gerade beginnen als historisch zu verstehen – und dessen Unabschließbarkeit dabei auf die politische Zukunft verweist, die uns nicht nur in Europa bevorsteht.

 

Die iranische Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat war in Venedig nicht nur mit einer großen Ausstellung vertreten, sondern auch mit einem Beitrag in der Nebenreihe Giornate degli Autori. Nachdem sie mit WOMEN WITHOUT MEN vor einigen Jahren den Regiepreis im Wettbewerb gewonnen hatte, war die Erwartung an ihren neuen Spielfilm groß, zumal Martin Gschlacht wieder hinter der Kamera stand. Visuell ist LOOKING FOR OUM KULTHUM auch durchaus sehr ansprechend – dramaturgisch vermag er leider weniger zu überzeugen. Zu sehr verbleibt das Drehbuch an Gemeinplätzen und verpasst es so, das äußerst spannende Setting zu einem tieferen Zusammenhang zu verbinden. Denn gerade das Ringen der emanzipierten Dokumentarfilm-Regisseurin, die als Protagonistin zur Verdopplung von Neshats eigenem Ringen um eine weibliche Position fingiert, wäre eine hervorragende Metaebene gewesen, um die Geschichte der ägyptischen Revolution zu befragen. Aber man erfährt nicht viel über die Beweggründe der Künstlerinnen, was über den Zwiespalt des kommerziellen Erfolges hinaus ginge. Eine spannende Entdeckung bleibt jedoch das Sujet des ganzen Projekts: Die Sänger-Ikone Oum Kulthum als vereinigendes Element zwischen den inneren Gegensätzen der ägyptischen Gesellschaft, zwischen kolonialer Besetzung und islamischer Revolution. Diese starke Frauenfigur auch im Westen bekannter zu machen, bildete für Neshat das Hauptanliegen ihres Films.

 

Angels Wear White 2017

Angels Wear White © Venice International Filmfestival 2017

Einziger Wettbewerbsfilm aus China und zugleich auch einziger Beitrag einer weiblichen Regisseurin war in diesem Jahr ANGELS WEAR WHITE von Vivian Qu. Thema des  in einem malerischen Beach-Ressort an Chinas “Goldküste” spielenden Films ist der sexuelle Missbrauch zweier zwölfjähriger Mädchen in einem Motel durch einen hochrangigen Polizisten, der Patenonkel des einen Opfers. Einzige Zeugin ist Mia, die junge Aushilfsrezeptionistin des Motels. Da diese jedoch keine Papiere hat und dort illegal arbeitet, tut sie so, als habe sie nichts mitbekommen – aus Angst um ihren Job. Am Ende wird der Fall erfolgreich vertuscht. Qu, die schon als Produzentin des Berlinale-Gewinners “Black Coal, Thin Ice” auf sich aufmerksam machte, prangert (Macht)-Missbrauch und Korruption sowie die Stellung der Frau in der chinesischen Gesellschaft an. Dabei positioniert sie sich zwar klar auf der Seite der wehrlosen weiblichen Opfer, wahrt aber dennoch eine gewisse Distanz zu ihren Protagonistinnen, was sich ein wenig auch auf die Zuschauer überträgt. Dennoch ein mutiger und eindringlicher Film, der am Ende aber ohne Auszeichnung blieb.

 

La Villa 2017

La Villa © Venice International Filmfestival 2017

Ein schönes Stück Ensemble-Kino ist Robert Guédiguian (SCHNEE AM KILIMANDSCHARO) mit LA VILLA gelungen. In einem verträumten Küstenort nahe Marseille treffen sich drei Geschwister wieder, weil der Vater im Sterben liegt. Das Treffen wird ganz unvermittelt zur Bestandsaufnahme ihres bisherigen Lebens, denn alle stehen an einem Scheidepunkt und fragen sich, ob das Leben noch Überraschungen für sie bereithält. Doch die Angst vor Veränderungen lähmt sie, ein Stillstand, den auch das idyllische Feriendorf symbolisiert. Die Fischfänge sind marginal und Touristen hat man schon länger nicht mehr gesehen. Die einzigen, die noch regelmäßig kommen, sind Grenzpolizisten auf Patrouille, die nach Flüchtlingen suchen. Und so kommt tatsächlich eine neue Perspektive in das Leben der Geschwister, als sie drei Flüchtlingskinder finden und beschließen, sie bei sich aufzunehmen. Platz genug haben sie ja und Zeit auch. Stellt sich nur die Frage, ob es zu den Kindern auch Eltern gibt, doch die Polizei informieren wollen sie nicht, zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einem Waisenhaus landen oder gar abgeschoben werden. Guédiguian betrachtet die Flüchtlingsproblematik nicht politisch, sondern menschlich. In Südfrankreich ist sie alltäglich vorhanden und so wie seine Protagonisten hätten wohl die meisten gehandelt, aus Instinkt und nicht aus politischer Überzeugung. Dass sie dabei die Kinder erst einmal vor den Behörden schützen, zeigt das Misstrauen, das man staatlichen Lösungen inzwischen entgegenbringt, und umgekehrt sorgt die Ankunft der Kinder für eine ungemeine Belebung und Bereicherung.

Mektoub, My Love 2017

Mektoub, My Love © Venice International Filmfestival 2017

Ebenfalls an der französischen Mittelmeerküste spielt Abdellatif Kechiches (Goldene Palme für BLAU IST EINE WARME FARBE) MEKTOUB, MY LOVE, allerdings im Jahre 1994. Drei Stunden lang (und auch noch als Dreiteiler angelegt) beobachtet der junge Amin, ein Drehbuchschreiber aus Paris, das muntere Partyleben der 1990er Jahre. Dabei fährt Kechiches Kamera gerne mal an den weiblichen Formen seiner Protagonisten entlang, bis in den Ausschnitt, um dann beim Melken einer Ziege zu landen. Sein Urlaubsfilm mutet dabei dennoch so unschuldig an, als sei er aus einer anderen Welt, auf die Dauer von drei Stunden ermüdet er das Publikum jedoch mit endlosen Dialogen, die nicht einmal auf der Figurenebene interessant sind. Was er mit seinem vorangestellten Koran-Zitat vermutlich als größeren Zusammenhang andeuten wollte, ist eine Kritik an der Sexualfeindlichkeit der religiös-radikalisierten Gesellschaft. Das goldene Licht, in das die Kamera Körper, Landschaften und mediterrane Lebensräume taucht, lässt sich als eine andere Gottesvorstellung verstehen, einer alles verbindenden Sinnlichkeit. Beinahe utopisch-entrückt wirken die Szenarien, in denen Männer und Frauen kulturübergreifend zusammen das Leben feiern, in der Ferne deutet sich bereits der Krieg im Nahen Osten an. So interessant das Konzept auch ist – in seiner Umsetzung funktioniert es leider nicht.

 

Racer and the Jailbird 2017

Racer and the Jailbird © Venice International Filmfestival 2017

In RACER AND THE JAILBIRD (Le Fidèle) gibt es endlich ein Wiedersehen mit Adèle Exarchopoulos  (BLAU IST EINE WARME FARBE), die die junge Rennfahrerin Benedicte spielt, die sich unsterblich in den zwielichtigen Gino (Matthias Schoenaerts) verliebt. Doch der ist keine Unbekannter in der Brüsseler Unterwelt, was ihre bedingungslosen Gefühle bald vor große Probleme stellt. Regisseur Michael R. Roskam (BULLHEAD) bezeichnet seinen Film als eine ‘amour noir’, eine Liebestragödie, die den zweiten Teil seiner Kriminalitäts-Trilogie darstellt und ähnlich wie BULLHEAD tief in die Brüsseler Unterwelt abtaucht. Doch nicht diese will er porträtieren, sondern die ausgesprochen leidenschaftliche Liebesbeziehung, welche nicht sein kann. Toll fotografiert und überzeugend gespielt, legt er eine Genre-Arbeit vor, die vielleicht ein wenig zu lang geraten ist.

 

Außerhalb der Konkurrenz machte vor allem David Battys Doku MY GENERATION großen Spaß, in der sich Sir Michael Caine höchstpersönlich wieder zurück ans Steuer seines Cabrios begibt, um uns in das Epizentrum der Swinging Sixties in London zu führen. Dort wartet eine Fülle an mitreißendem Archivmaterial der Beatles, Stones und The Who sowie jede Menge toller Interviewpartner auf den Zuschauer. Twiggy, legendäre Fotografen wie David Baily und Stil-Ikonen wie Vidal Sasson führen durch das stimmungsvolle und nostalgische Bild der ersten Jugendkultur, die Klassengrenzen aufhob und Pop salonfähig machte. Untermalt von einem dynamischen Soundtrack der großen Hits dürfte sich diese Doku für eine Kinoauswertung anbieten. Auf der Pressekonferenz gab sich Michael Caine ausgesprochen bescheiden und wollte nicht von seinem enormen Talent reden, vielmehr meint er, dass es da oben im Himmel jemanden geben muss, der es gut mit ihm meint und so eine phantastische Karriere bescherte.

 

Los Versos del Olvido 2017

Los Versos del Olvido © Venice International Filmfestival 2017

Ein weiterer Fund in der ebenfalls sehr starken Nebensektion Orizzonti war LOS VERSOS DEL OLVIDO vom iranischen Autor und Regisseur Alireza Khatami, der seine poetische Geschichte über die Folgen einer nicht näher benannten Militärdiktatur nach Lateinamerika verlegt. Dorthin überträgt er eigene Erfahrungen, die er mit magischem Realismus und großartiger Lakonie erzählt, ähnlich wie Pablo Larraìn. Ausgezeichnet wurde die kleine Filmperle mit dem Preis für das Beste Drehbuch.

 

Under the Tree 2017

Under the Tree © Venice International Filmfestival 2017

Ansprechend war auch der isländische Beitrag UNDER THE TREE von Hafsteinn Gunnar Sigurdsson, der uns in dem Original zu PRINCE AVALANCHE (und dessen Drehbuch-Adaption) schon mit seinem schwarzen Humor zu begeistern wusste. Kurzweilig und ziemlich böse lässt er hier einen Nachbarschaftskonflikt um einen zu fällenden Baum im Garten eskalieren – dabei kommen nach und nach verdrängte Familienkonflikte ans Licht.

 

Auch der israelische Film THE TESTAMENT überzeugte mit einer wendungsreichen Geschichte um einen grimmigen Rabbi, der in einer österreichischen Kleinstadt auf der Suche nach einem Massengrab ist, bei den Bewohnern jedoch auf verschlossene Türen stößt. Die Suche nach der Wahrheit lässt ihn schließlich auf ein geheimes Zeugnis seiner Mutter stoßen, das seine eigene Existenz grundlegend in Frage stellt. Amichai Greenberg gelingt ein fesselnder Krimi, den er zusammen mit einigen Holocaust-Überlebenden entwickelt hat, die dort in bewegenden Rollen zu sehen sind.

 

Marwin 2017

Marwin © Venice International Filmfestival 2017

Gleichwohl eine Coming-of-age wie eine Coming-out-Geschichte ist MARVIN von Anne Fontaine (“Coco before Chanel”), der in der Reihe “Orrizonti” lief. Prominente Unterstützung erhält der Film durch Isabelle Huppert, die auch eine kleine Rolle übernommen hat. Im Mittelpunkt steht Marvin Bijoux, den wir als Kind und als jungen Mann kennen lernen. Aus schwierigen Verhältnissen kommend – sein aus der Arbeiterklasse stammender Vater ist Alkoholiker und auch seine Mutter gibt ihm und seinen Geschwistern wenig Halt – hat er mit den Hänseleien seiner Schulkameraden zu kämpfen, die merken, dass er anders ist als sie. Er interessiert sich wenig für Dinge, die Jungs normalerweise tun und hält sich lieber im Abseits. Erst eine Lehrerin, die sein schauspielerisches Talent entdeckt, öffnet ihm eine neue Perspektive, als sie ihm ein Stipendium an einer Schauspielschule vermittelt. Als junger Mann bekommt er schließlich in Paris durch die Liaison mit einem wohlhabenden Schwulen Kontakt zu Isabelle Huppert (die sich hier selbst spielt), die ihn unterstützt und zu einer eigenen Show verhilft. Beide Zeitebenen werden nicht linear, sondern in Sprüngen aus der Perspektive des erwachsenen Marvin erzählt. Vor allem Jules Porier, der Marvin als Kind verkörpert, kann hier mit seinem sensiblen und anrührenden Spiel überzeugen. Leider kommt Anne Fontaine nicht ohne Klischees aus, was den insgesamt positiven Gesamteindruck ein wenig schmälert.

 

Espèces Menacées 2017

Espèces Menacées © Venice International Filmfestival 2017

Besonders hervorzuheben wäre auch der Orrizonti Beitrag von Gilles Bourdos (RENOIR), der mit seinem Ensemble-Drama ESPÈCES MENACÉES ein sensibles Porträt familiärer Strukturen zeichnet. Im Mittelpunkt steht die Beziehung des jungen Paares Joséphine und Tomasz, deren Überschwang zunächst nach großer Liebe aussieht – jedoch durch Eifersuchts-Szenarien immer mehr in häusliche Gewalt abdriftet. Dem verzweifelten Vater der jungen Frau fällt es schwer, ihre zunehmende Hörigkeit zu verstehen. Der Mittzwanziger Anthony dagegen ist Doktorand, schreibt jedoch seine Arbeit nicht. Stattdessen lässt er sich mehr und mehr in die Psychose seiner Mutter hineinziehen, die ihn in die Rolle des Partnerersatzes hineinmanipuliert. Auch die Studentin Melanie scheint kein glückliches Händchen für Beziehungen zu haben, denn sie erwartet ein Kind von ihrem Professor – doch vielleicht ist auch diese Liebe anders als sie für Außenstehende zunächst scheint. Bourdos lässt die Erzählstränge niemals zusammenfallen, auch wenn sie einander ständig berühren, dies verhindert jegliches Gefühl der Konstruiertheit. Es ist vor allem dem grandiosen Schauspieler-Ensemble zu verdanken, dass die zwischenmenschlichen Konflikte jederzeit glaubhaft und mitreißend wirken, darunter Suzanne Clément und Grégory Gadebois.

 

Nico 1988

Nico © Venice International Filmfestival 2017

Als Gesamtsieger ausgezeichnet wurde in der Sektion dann jedoch das Bio-Pic NICO, 1988 – hervorragend gespielt und gesungen von der Thomas Vinterberg Darstellerin Tryne Dyrholm, die den Mut aufbrachte, sich in die letzten Jahre der einstigen Schönheitsikone hineinzuversetzen. Zu Unrecht auf ihre Zeit mit “The Velvet Underground” reduziert, leidet Nico an der fehlenden Anerkennung ihrer zu avantgardistischen Musik, die bereits Punk und New Wave einläutete. Ebenso krankt sie an ihrer Drogensucht und einer psychisch-desolaten Verfassung, die bis zur Bombardierung von Berlin in ihrer Kindheit zurückreicht. Konventionell, aber solide inszeniert, funktioniert der Film für das Publikum und thematisiert auch die umstrittene Geschichte um ihre Liebschaft mit Alain Delon, der den aus ihr entstandenen Sohn bis heute nicht anerkennt – obwohl Delons Mutter ihn sogar gegen seinen Willen adoptiert hat.

 

Foxtrott 2017

Foxtrott © Venice International Filmfestival 2017

Die zweitwichtigste Auszeichnung im Wettbewerb, der Große Preis der Jury, ging an FOXTROT von Samuel Maoz, dessen surreale Komposition einen starken Eindruck hinterließ: In drei komplex erzählten Episoden entwirft er ein Bild der traumatischen Strukturen, welche die anhaltende Besatzungspolitik in die israelische Gesellschaft einschreibt. Jeder Schritt nach vorne zieht wie beim Foxtrott ein Rückwärtspendeln nach sich, so dass der dynamische Tanz sich im Grunde auf der Stelle bewegt. Die Spirale jenes vor und zurück übersetzt Maoz so gelungen in Bilder und Geschichten, wie er seinen Film LEBANON komplett durch den Sucher eines Panzerfernrohrs inszenierte und damit 2009 den Goldenen Löwen holte. Ähnlich originell findet er in FOXTROT Perspektiven, die Generation der Shoah mit ihren Kindern und Enkeln zu verschränken – eben durch das Nicht-Erzählbare, das trotzdem in den Menschen arbeitet und wirkt, sich fortsetzt und wiederholt. Die offenen und provokanten Szenen, welche Maoz zur Adressierung dieses Unfassbaren erfindet, verdichten die Erfahrung von Krieg, Schuld und Verlust zu ausdrucksstarken Momenten, die verstören wie berühren.

 

The Insult 2017

L’Insulte – The Insult © Venice International Filmfestival 2017

Nach Beirut hingegen führt uns Ziad Doueiri, dessen Film L’INSULTE mit einem unbedeutenden Nachbarschaftsstreit beginnt. Toni ist Christ und lebt in einem Arbeiterviertel Beiruts, wo er auch eine kleine Autowerkstatt betreibt. Er hat sich ein kleines Appartement gekauft, wo er es sich mit seiner hübschen und schwangeren Frau gemütlich machen will. Als er eines Tages die Pflanzen auf seinem Balkon wässert, läuft das Wasser durch eine defekte Abwasserleitung auf die Straße und spritzt den Palästinenser Yasser nass, der gerade mit einem Bautrupp Schäden an öffentlichen Gebäuden und Straßen beseitigt. Er beschwert sich vehement, vergreift sich im Ton und beleidigt Toni aufs Schärfste. Dennoch repariert er auf Geheiß seines Chefs den Abfluss, sein Werk jedoch wird von Toni mit dem Vorschlaghammer wieder zerstört. Er fühlt sich in seiner Ehre gekränkt und verlangt eine Entschuldigung, bevor er Reparaturen an seinem Eigentum zulässt. Als Yasser dies auf Druck seines Vorgesetzten tun will, wird er von Toni derart provoziert, dass er ihm zwei Rippen bricht. Der Fall landet vor Gericht. Eigentlich eine Bagatelle, wird daraus bald eine politische Kontroverse, die von den Medien breit getreten und den verschiedenen Volksgruppen immer wieder neu befeuert wird. Doch Regisseur Doueiri, will uns nicht nur zeigen wie schnell im Libanon aus einer Mücke ein Elefant wird, in der zweiten Hälfte entwickelt sich der Film zu einem Gerichtsdrama, in dem die Anwälte überraschend deutlich klar machen, warum sich die Protagonisten nicht entschuldigen können. Ihr gegenseitiger Hass ist tief in ihrer Vergangenheit verwurzelt, beide Parteien sehen sich als Opfer und im Recht, was ein Schuldeingeständnis unmöglich macht. So erklärt uns der Film im Kleinen überraschend plausibel den großen Nahost-Konflikt, doch dass dafür Kamel El Basha in der Rolle des palästinensischen Vorarbeiters mit der Coppa Volpi als Bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, ist schwer nachvollziehbar, wenn schon, dann hätten beide Protagonisten den Preis ex aequo verdient.

 

Hannah 2017

Hannah © Venice International Filmfestival 2017

Auch der Coppa Volpi für Charlotte Rampling als Beste Schauspielerin sorgte für Erstaunen angesichts der herausragenden Leistungen von Frances McDormand und Sally Hawkins, die sich berechtigt Hoffnungen aus diesen Preis machen konnten. Doch das Reglement in Venedig schreibt vor, dass jeder Film in nur einer Kategorie ausgezeichnet werden darf, und so vergab die Jury den Preis an die französische Schauspielerin für ihre Rolle in HANNAH, wo sie die Titelfigur an der Seite von André Wilms spielt. Zwar trägt Rampling den Film quasi alleine, und natürlich steht ihr der Preis allein schon wegen ihrer Lebensleistung zu, doch Andrea Pallaoros Porträt einer Frau, deren Mann gerade ins Gefängnis gesperrt wurde, bleibt seltsam verrätselt und ausgesprochen blass. Der elliptische Erzählstil erschwert die Empathie mit der Protagonistin, die aufgrund der nur angedeuteten Tat ihres Mannes von ihrer Umwelt gemieden und immer mehr in die Isolation getrieben wird. Selbst ihr Hund zieht sich vor ihr zurück und verweigert das Essen, ihr Sohn weist sie kühl ab, als sie mit einem selbst gebackenen und liebevoll dekorierten Kuchen auf der Geburtstagsfeier ihres Enkels erscheint. Hier in dieser Szene gelingt es Pallaoro allerdings, den Zuschauer emotional zu packen und Rampling läuft zur wahren Höchstleistung auf.

The Shape of Water

The Shape of Water © Venice International Filmfestival 2017

Auch wenn Sally Hawkins also leer ausging, so durfte sie wenigstens in Guillermo Del Toros Genrefilm THE SHAPE OF WATER mitspielen, der den Goldenen Löwen gewann. Wie immer wunderbar ergreifend, ja geradezu bezaubernd, spielt sie die stumme und vereinsamte Elisa, die als  Putzfrau in einem Hochsicherheits-Labor der Regierung arbeitet und dort auf ein Amphibien-Wesen trifft, das hier gefangen gehalten und gefoltert wird. Was auch immer der Geheimagent, großartig gespielt von Michael Shannon, aus dem geheimnisvollen Wesen herauspressen will, kommunizieren tut es jedenfalls nur mit Elisa, die schnell ihre Seelenverwandtschaft erkennt. Del Toro entwickelt daraus eine erotische Version der “Kleinen Meerjungfrau” vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und erzählt in atmosphärischen Einstellungen von der Unterdrückung des Fremden und der Angst vor dem Andersartigen.“

 

Sally Hawkins und Guillermo del Torro PK Venedig 2017

Hatten Spaß: Sally Hawkins und Guillermo del Toro auf der Pressekonferenz

In der Filmgeschichte ist das ‘Beauty and the Beast’-Motiv bisher entweder unter einem phantastischen oder perversen Aspekt verfilmt worden”, so del Toro. Beide Aspekte hätten ihn aber nicht interessiert, bei ihm stehe das Menschliche im Vordergrund. Sein Film sei so ähnlich wie Pasolinis THEOREMA, nur mit einem Fisch, flachste er auf der Pressekonferenz. Als er am Ende den Goldenen Löwen überreicht bekam, war der redselige Dreizentner-Mann nicht nur sichtlich ergriffen, sondern erstmals auch sprachlos.

 

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri 2017

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri © Venice International Filmfestival 2017

Unser uneingeschränkter Hit des Festivals war aber Martin McDonaghs (BRÜGGE SEHEN… UND STERBEN) THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING, MISSOURI. Wahrscheinlich liegt es an Frances McDormand, dass man sich in diesem Film gleich zuhause fühlt. Man kommt sich vor wie in einem Werk der Coen-Brüder und muss natürlich an FARGO denken, auch wenn McDormand diesmal keine Polizistin spielt, sondern es mit einem ganzen Police-Department aufnimmt. Weil sie meint, dass die Polizei den Mord an ihrer Tochter nicht nachhaltig aufklärt, mietet sie drei Plakatwände am Ortseingang von Ebbing an, auf denen sie die schleppenden Ermittlungen anprangert und Policeofficer William Willoughby namentlich angreift. Das ist natürlich starker Tobak für die Kleinstadt, die McDonagh im folgenden für uns geradezu filetiert.

Woody Harrelson PK zu Three Billboards Outside Ebbing, Missouri

Läuft neben Frances McDormand zu Hochform auf: Woody Harrelson © Venice International Filmfestival 2017

Dabei zeichnet er ein wütendes Land, dessen Einwohner wohl den Frust von Jahrzehnten in sich aufgenommen haben, und das an jeder Ecke kurz davor steht zu eskalieren. McDonagh glänzt mit seinen Dialogen, die die Stimmung immer auf den Punkt bringen und den Schauspielern, wie sie selbst bekundeten, längst nicht soviel abverlangten wie man meinen könnte. “Wir mussten nur spielen, was im Drehbuch stand”, stapelte Woody Harrelson tief und Frances McDormand wollte ihre Rolle so anlegen wie John Wayne, sie sei sogar breitbeinig gegangen, das wäre nur alles herausgeschnitten worden.

 

Guillermo del Torro mit Palme

Der stolze Preisträger Guillermo del Torro mit seiner Auszeichnung © Venice International Filmfestival 2017

Gute Filme gab es in diesem Jahr zuhauf und die mutige Festivalpolitik, durchaus auch populäre Filme in den Wettbewerb zu laden, ist wohl aufgegangen, was nicht zuletzt die Preisvergabe beweist. Für uns war es eine optimale Mischung von anspruchsvoller Filmkunst und bester Unterhaltung.