Die 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin – Ein Festivalbericht

Das 70. Jubiläum der Berlinale stand unter einem ganz besonderen Stern. Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek lösten den bisherigen Leiter Dieter Kosslick ab, der der Berlinale in den letzten beinahe zwanzig Jahren seinen Stempel aufgedrückt hat. Unter ihm wurde sie zu einem Mammut-Festival, was nicht nur 22.000 Fachbesucher, sondern auch über 330.000 gewöhnliche Besucher mit oft über 400 Filme anzog. Genau diese Vielfalt wurde Kosslick zuletzt vorgeworfen, und der neuen Leitung wurde quasi das Motto mit auf den Weg gegeben: “Weniger kann auch mehr sein!”. Doch allzu offensichtliche Änderungen hat es gar nicht gegeben. Zwar wurden die Reihen “Indigenes Kino” und “Kulinarisches Kino” gestrichen, gleichzeitig aber mit “Encounters” eine neue etabliert.

My Salinger Year - 2020

My Salinger Year – 2020

Insgesamt erwartete man im Vorfeld bessere Filme und dafür weniger Glamour. Weniger Stars kamen in diesem Jahr tatsächlich an die Spree, doch mit dem Eröffnungsfilm gelang eine kleine Überraschung, erwies sich MY SALINGER YEAR des kanadischen Regisseurs Philippe Falardeau (MONSIEUR LAZHAR) doch als ausgesprochen gefälliges Wohlfühlkino, das auf dem roten Teppich mit den Hollywoodstars Sigourney Weaver und Margaret Qualley (ONCE UPON A TIME… IN HOLLYWOOD) für das Berlinale-typische Blitzlichtgewitter sorgte. Dass dieser durch und durch sympathische Film auf einer wahren Geschichte beruht, wurde spätestens auf der Pressekonferenz klar, als die US-Schriftstellerin Joanna Rakoff, deren autobiographischer Roman die Vorlage war, von ihren ersten Erfahrungen mit einer Filmproduktion und ihrer Begegnung mit den Stars erzählte. In ihm erzählt sie, wie die junge Joana in den 1980er Jahren nach New York kommt, um Schriftstellerin zu werden. Der erlauchte Zirkel der Literaturszene ist zwar noch recht klein, aber umso abgeschlossener. Sie erhält den Rat, bei einer Literaturagentur anzuheuern, um in der Szene Fuß zu fassen und gerät so an die Agentin Margaret (Sigourney Weaver), wird bald zu ihrer Assistentin und darf die Fanpost von Kultautor J.D. Salinger, dem Stolz der Agentur, beantworten. Falardeau inszeniert diese wie fürs Arthaus geschaffene Geschichte als Lehrjahr Joanas, in dem sie nicht nur mit dem noch etwas verträumten Literaturbetrieb jener Zeit in Berührung kommt, sondern auch zum Mitglied dieser Szene wird und am Ende sogar Salinger persönlich kennenlernt. Er unterstützt ihre schriftstellerischen Ambitionen und trägt ihr auf, täglich wenigstens 15 Minuten pro Tag zu schreiben.

Hidden Away - 2020

Hidden Away – 2020

Nach dieser ganz gelungenen Eröffnung begann der Wettbewerb mit dem italienischen Beitrag: Unter einer Decke lugt ein Auge hervor, das sich sogleich wieder verbirgt, nur um wenige Sekunden später wieder mit staunender Neugierde herauszuschauen. Diese Anfangseinstellung ist bezeichnend für Giorgio Dirittis biografisches Meisterwerk HIDDEN AWAY, das dem schweizerisch-italienischen Künstler Antonio Ligabue ein Denkmal setzt. Antonio – oder auch einfach „Toni“ – ist eine hochsensitive Natur. Ihm fällt es schwer, die vielseitigen Eindrücke seiner Umwelt zu filtern und zu verarbeiten. Sein absonderliches Benehmen wird schnell als „verhaltensgestört“ klassifiziert. Man kann sich also ausmalen, dass ihn die soziale Ablehnung, die ihm zuteil wird, schwer prägt und schon früh eine gebeutelte, stigmatisierte Figur aus ihm gemacht hat, die den Launen des oft grausam handelnden Sozialgefüges hilflos ausgeliefert ist. Mit einer Bildsprache, die die leuchtenden Farben der Natur und das Leben selbst förmlich aufzusaugen scheint, fühlt sich Giorgio Diritti in die Weltperzeption des Künstlers Ligabue ein, wechselt aber auch immer wieder in eine beiläufigere, neutralere Beobachterperspektive. Nach Julian Schnabels VAN GOGH ist dies ein weiteres impressionistisches Künstler-Epos, das sich mit dramaturgischer Kunstfertigkeit auf einen herausragenden Darsteller konzentriert. Elio Germano spielt den exzentrischen Maler der „art brut“, dessen Weltwahrnehmung Segen und Fluch zugleich ist, mit schmerzender Intensität. So faucht er die eigenen Bilder von Tigern oder anderen wilden Tiere, anstatt sie stillschweigend zu pinseln, beim schmierigen Malprozess an oder brüllt in das Maul des tönernen Löwenkopfes, den er gerade formt, hinein. HIDDEN AWAY  ist von einer selten genuinen Imposanz und Schönheit, was der frenetische Applaus nach der Premierenvorführung bestätigte. Hauptdarsteller Elio Germano, der auch mit BAD TALES im Wettbewerb vertreten war, wurde für seine verblüffende, ans Unheimliche grenzende Tour-de-Force-Inkorporation Ligabues von der Jury der Silberne Bär zuerkannt. Völlig zurecht!

Undine - 2020

Undine – 2020

Nicht vollkommen unberechtigt, aber angesichts der starken Konkurrenz doch überraschend, holte Paula Beer für ihre Darstellung einer Wassernixe in Christian Petzolds UNDINE den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Die Wasserfrau als Mythos beschäftigt die Literatur schon seit der Antike. Ihre Darstellung schwankt zwischen mörderischer Nixe und erlösungsbedürftiger Meerjungfer, bleibt jedoch immer auf den Mann bezogen. Inspiriert von Ingeborg Bachmanns feministischer Relektüre „Undine geht“ entfaltet Christian Petzold mit seinen beiden Hauptdarstellern aus TRANSIT erneut eine Liebesgeschichte, die das Gespenstische in ihren Mittelpunkt stellt, und danach fragt, ob es ein Entkommen aus der Geschichte gibt. Petzolds Undine (Paula Beer) lebt als promovierte Historikerin in Berlin in einem kleinen Apartment am Alexanderplatz und gibt in einem Museum Führungen durch die Stadtgeschichte. Der Mythos, der sich in ihrem Vornamen ankündigt, bleibt für die Zuschauer meist implizit. Wenn Undine ihrem Freund in ruhigem Ton droht, ihn töten zu müssen, wenn er sie verlässt, wird sie als Wasserfrau erkennbar. Doch diesmal ringt sie mit dem Wiederholungszwang, der ihrem Wesen scheinbar auferlegt ist. Sie möchte nicht in das Wasser zurückkehren, das nach ihr ruft, sondern Land gewinnen und selbstbestimmt leben. Auch die Metropole Berlin wurde einst auf einem trockengelegten Sumpf gebaut. Geschickt verwebt Petzold in seinem Film Stadtporträt und Mythos, Liebesgeschichte und Zeitkritik. Als Undine den Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) kennenlernt, wird sie nicht nur von Gefühlen überschwemmt, sondern auch von den dunklen Zwängen der eigenen Vergangenheit. Parallel dazu sieht man sie Vorträge über das Berliner Schloss halten, an dem sich heute das umstrittene Humboldt Forum befindet, das im September 2020 eröffnen wird. Wo sich einst die Königliche Residenz befand, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, stand in der Zeit der DDR dort der Palast der Republik. Als Kulturforum sollte es für emanzipatorische Politik stehen. Trotz seiner wegweisenden Architektur wurde das Gebäude nach der Wende abgerissen, auch aufgrund der restaurativen Wünsche, das alte Schloss wieder aufzubauen und dort das Humboldt Forum einzurichten. Kann es so etwas wie Emanzipation geben, oder gehen die Traumata der Geschichte dem Menschen immer schon soweit voraus, dass das eigene Leben von ihren Gespenstern überschatten wird? Christian Petzold findet in den Beziehungskonstellationen Undines zwischen Heimsuchung und Selbstbefreiung Zugang zu den Themen, die er in seinen Filmen immer wieder variiert.

Schwesterlein - 2020

Schwesterlein – 2020

Die beiden Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond präsentierten einen weiteren Berliner Stadtfilm im Wettbewerb, der trotz seiner prominenten Besetzung mit Nina Hoss und Lars Eidinger für gemischte Reaktionen sorgte. SCHWESTERLEIN ist ein im Theatermilieu der Berliner Schaubühne angesiedeltes Krebsdrama, das als Beziehungs- und Charakterstudie zweier ungleicher Geschwister viele Möglichkeiten verschenkt in die Tiefe zu gehen. Lisa (Nina Hoss) und ihr Zwillingsbruder Sven (Lars Eidinger) kommen aus einer Künstlerfamilie, haben jedoch unterschiedlich Lebenswege eingeschlagen. Während die vormalige Theaterautorin ihre Ambitionen schon länger für ein konservatives Familienleben aufgegeben hat, gehört ihr Bruder zu den gefeierten Schauspielstars der Berliner Schaubühne, bis eine Leukämieerkrankung ihn aus der Bahn wirft. Da die Mutter der beiden zu selbstbezogen ist, um ihren kranken Sohn zu pflegen, erklärt sich die verantwortungsvolle Lisa bereit, Sven zu sich zu nehmen. Seit Jahren lebt sie mit ihrem karrierebewussten Ehemann Martin und zwei Kindern in einem kleinen Dorf in der Schweiz, das Sitz eines internationalen Elite-Internats ist und von Martin geleitet wird. Die Dreieckskonstellation zwischen ihm und den beiden innig verbundenen Geschwistern hätte äußerst spannend sein können, stattdessen konzentrieren sich die beiden Regisseurinnen jedoch nur auf die Ehekrise Lisas und ihre verhinderte Selbstverwirklichung. Das nimmt gerade Lars Eidinger den Raum, seine Figur auf komplexere Art zu entfalten und reduziert ihn auf bekannte Formate. Die Hänsel und Gretel-Geschichte, die der Film am Ende erzählen will, verliert somit ihre Vielschichtigkeit und vermag wenig zu rühren, da gerade die Geschwisterbeziehung unterbeleuchtet bleibt.

Persischstunden - 2020

Persischstunden – 2020

Eine wesentlich stärkere Leistung zeigte Lars Eidinger in Vadim Perelmans PERSISCHSTUNDEN, der leider nur als Berlinale Special zu sehen war. In der deutsch-russischen Koproduktion erzählt der in der Ukraine geborene und in Amerika lebende Regisseur eine außergewöhnliche Geschichte des Überlebens. 1942 wird der belgische Jude Gilles von der SS verhaftet und in ein Konzentrationslager nach Deutschland gebracht. Hier erwartet ihn die Ermordung, doch Gilles entgeht der Exekution, in dem er immer wieder behauptet, nicht Jude, sondern Perser zu sein. Tatsächlich wird die Lagerküche von einem deutschen Offizier namens Koch geleitet, der nach dem Krieg seinem Bruder nach Teheran folgen will, um dort ein Restaurant zu eröffnen. Die Kriegszeit sieht er als Zeitverschwendung, die er nutzen will, um Farsi zu lernen, und genau das soll Gilles ihm in den kommenden Monaten beibringen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man kein Wort Farsi spricht, doch Gilles entwickelt ein raffiniertes System, um eine Sprache komplett zu erfinden. Dabei kämpft er stets gegen das Misstrauen der deutschen Offiziere an, die ihn gerne als Hochstapler überführen würden. Am Anfang ist Gilles recht unsicher, weiß er doch, dass ein Fehler sein Todesurteil bedeutet, doch mit der Zeit entwickelt er eine beeindruckende Routine, die ihn größere und kleiner Krisenmomente souverän bewältigen lassen. Perelman gelingt es nicht nur, ein schweres Thema mit großer Leichtigkeit zu inszenieren, er trotzt dem vorgegebenen Verhältnis seiner beiden Protagonisten sogar eine Entwicklung ab, das am Anfang von dem Überlebenswillen Gilles’ geprägt ist und am Ende von einem Selbstbewusstsein, das den Nazi-Offizier oft wie einen kleinen Jungen aussehen lässt. Lars Eidinger überragt in seinem Spiel zwischen Naivität und Gewalt und es gelingt ihm, sein Gegenüber Nahuel Perez Biscayart, den wir noch aus 120 BPM kennen, mit seiner Spielfreude anzustecken, wie es ihm im letzten Jahr auch in 25 KMH mit Bjarne Mädel gelang.

Berlin Alexanderplatz - 2020

Berlin Alexanderplatz – 2020

Doch zurück zum Wettbewerb, auch der dritte deutsche Beitrag BERLIN ALEXANDERPLATZ kann als Berlin-Film gesehen werden, auch wenn seine Vorlage, der Jahrhundertroman von Alfred Döblin, zur Weltliteratur zählt und gerne mal mit Joyces “Ulysses” verglichen wird. Ältere Jahrgänge erinnern sich bestimmt an die Fassbinder-Verfilmung von 1980, die in 13 Teilen plus Epilog ausgestrahlt wurde und zum Aufstand der deutschen Fernsehnation führte. War es damals der Protagonist Franz Biberkopf, der nach einem Gefängnisaufenthalt Ende der 1920er Jahre in ein Berlin entlassen wird, das er kaum wiedererkennt, so ist es jetzt in der Neuinterpretation von Burhan Qurbani der Flüchtling Francis, der beinah im Mittelmeer ertrinkt und dem sich nun in einem ihm völlig fremden Berlin eine zweite Lebenschance auftut. Genau wie Biberkopf ist er fest entschlossen diese zweite Chance zu ergreifen und ein guter Mensch zu werden. Doch genau das wird die Gesellschaft auch heute nicht zulassen, eigentlich wird Francis dort nie ankommen. Arbeitet er anfangs illegal für einen zwielichtigen Unternehmer im Berliner U-Bahn-Bau, trifft er später auf einen deutschen Drogendealer, mit dem ihm bald eine düstere Schicksalsgemeinschaft verbindet. Qurbani setzt in seinem Remake auf grandiose Bild- und Toneffekte, peppt den heute vielleicht etwas angestaubten Roman ordentlich auf, scheitert aber daran, ihn zu einem aktuellen Gesellschaftsporträt zu führen. Zu konzentriert ist er auf seinen Protagonisten, der von dem in Guinea geborenen Schauspieler Welket Bungué engagiert und dramatisch überzeugend gespielt wird. Bietet ihm Albrecht Schuch mit seiner schrägen Performance als eigenwilliger Drogendealer, der gelegentlich an Jonas Dassler in Fatih Akins DER GOLDENE HANDSCHUH erinnert, noch einen ansprechenden Counterpart, so bleiben weitere Rollen, etwa Joachim Krol als Gangsterboss wie auch alle Frauenrollen merkwürdig antiquiert und malen ein klischeehaftes Rotlicht-Milieu, wie man es aus eher vergangenen Filmzeiten kennt. BERLIN ALEXANDERPLATZ hat viele gute Ansätze, ist trotz seiner drei Stunden Länge nie langweilig, aber er ist durchaus anstrengend und nicht wirklich rund, was es ihm im Kino nicht leicht machen wird.

Das Salz der Tränen - 2020

Das Salz der Tränen – 2020

Zu Unrecht wurde dem 71-jährigen Philippe Garrel vorgeworfen, nichts weiter als die Klischees des “Altherrenkinos” zu bedienen. Vielmehr stellte er mit seinem Wettbewerbsbeitrag DAS SALZ DER TRÄNEN unter Beweis, wie unbequem und provokativ französische Charakterdramen immer noch sein können. Garrel präsentiert einen Protagonisten, der als verantwortungsloser Frauenheld und Taugenichts durchaus unsympathisch ist, doch gerade das erweist sich als Clou der Geschichte. Anstatt der optimistischen Dramaturgie von “Coming-of-Age”-Filmen zu folgen, blickt Garrel mit feiner Ironie auf die Unbelehrbarkeit des Menschen. Sein Protagonist Luc ist vom Lande nach Paris gekommen, um an einer Schule für Kunsthandwerk seine Tischler-Ausbildung zu absolvieren. Dabei folgt er eigentlich nur den unverwirklichten Wünschen seines Vaters, ohne dies so recht in Frage zu stellen. Da es ihm an eigenen Lebensperspektiven mangelt, fixiert sich Luc auf das Suchen und Finden der Liebe. Selbstbezogen und unreif wie er ist, hinterlässt er bei seinen Partnerinnen meist nur Tränen. Doch auch die Frauen scheitern daran, sich zu entfalten und suchen ihre Handlungsmacht nur in der eigenen Mutterschaft und der Gründung einer Familie. Luc begegnet schließlich einer Frau, die freier zu leben scheint als die meisten, dabei ist sie nur genauso bindungsunfähig wie er. In der offenen Beziehung, die er mit ihr eingeht, steht er bald selbst als der Gehörnte da. Am Ende wird Luc das erste Mal bittere Tränen vergießen, aber nicht über die romantische Liebe, sondern seine Unfähigkeit dem eigenen Leben Sinn zu geben. Garrel gelingt nach seinen pointierten Charakterstudien IM SCHATTEN DER FRAUEN und LIEBHABER FÜR EINEN TAG erneut ein lakonischer Blick auf die Unzulänglichkeit menschlichen Zusammenlebens.

El Prófugo - 2020

El Prófugo – 2020

Als erotischer Psychothriller kündigte sich EL PRÓFUGO (engl. THE INTRUDER) an und versprach gediegene Abwechslung im Wettbewerb. Es geht um die in Buenos Aires als Synchronsprecherin für japanische B-Filme arbeitende Inés, die nach einer traumatischen Erfahrung während einer Urlaubsreise von Schlafstörungen und lebhaften Albträumen heimgesucht wird. Parallel dazu nehmen die Studiomikrofone auf der Arbeit seltsame Geräusche auf, die von ihrem Körper auszugehen scheinen. Immer mehr hat Inés das Gefühl, dass sich ihre Träume und Traumgestalten in der Realität manifestieren. Doch wo fangen die Träume an und wo hört die sogenannte Realität auf? Der argentinische Thriller mit humoristischen Einsprengseln und Horrorelementen erinnert inhaltlich vage an Darren Arronofskys BLACK SWAN, in dem eine Ballerina schrittweise von psychotischen Halluzinationen eingeholt wird. Die einnehmende Hauptdarstellerin Érica Rivas spielt wacker gegen die disparaten Tonlagen des Films an, doch auch sie kann Natalia Metas halbgaren Thriller nicht vor dessen eigener stilistischen Unentschlossenheit retten. THE INTRUDER ist leider keine erotisch knisternde Offenbarung feministischen Horrorkinos, sondern sehr brav und ehrlicherweise auch ein kleines bisschen langweilig.

Favolacce - 2020

Favolacce – 2020

2018 stellten die italienischen Zwillingsbrüder Damiano und Fabio D’Innocenzo bereits ihre erste Regiearbeit LA TERRA DELL´ABBASTANZA in der Panorama-Sektion dem Berliner Festivalpublikum vor. 2020 kehrten sie mit ihrem nunmehr zweiten Spielfilm zurück, der nun im Hauptwettbewerb konkurrierte und für den die Geschwister mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurden. In FAVOLACCE (engl. BAD TALES) sezieren sie in trüb durchlichteten, hitzeflirrenden Bildern die soziokulturelle Stagnation marginalisierter Gesellschaftsschichten vor der Kulisse des vorstädtischen Roms. Im Zentrum der Handlung stehen einige Familien: Kinder an der Schwelle zur Pubertät und deren etwas teilnahmslos vor sich hin lebende Eltern. Eigentlich noch zu unreif, erproben die Kinder bereits erste sexuelle Handlungen aneinander, aufgestachelt von der koketten Nachbarin, die auch manchen Familienvätern mit ihren knappen Outfits den Kopf verdreht. Doch unter der Fassade sommerlicher Unbekümmertheit schlummert die Frustration, die sich nach einem unauffindbaren Ventil verzehrt. Die milieubedingte Ausweglosigkeit und vorpubertäre Tristesse erzeugt schließlich einen Hang zur Autoaggression, die in einem selbstmörderischen Schlussakkord kulminiert. Neben Elio Germano, der gleichzeitig mit dem Film HIDDEN AWAY im Wettbewerb um den Goldenen Bären vertreten war, casteten die Regisseure größtenteils frische, relativ unbekannte Gesichter. Insbesondere die Kinderdarsteller, die keinerlei vorherige Kameraerfahrung mitbrachten, beeindrucken durch ihre Natürlichkeit und Ungezwungenheit. Ihre im Grunde recht düstere Geschichte inszenieren die Gebrüder D´Innocenzo mit meisterlicher, bitterböser Ironie und der genüsslichen Leichtigkeit einer Sommerbrise. Ihr unzuverlässiger Erzähler, der sich bis zum Schluss nie vollständig offenbart, aber doch eine tiefe Kenntnis über die Abläufe auf der Leinwand zu haben scheint, rundet den Film mit einer zynischen Note stimmig ab. Man darf sehr gespannt sein, welche Projekte diese talentierten Regie-Newcomer als nächstes anvisieren.

Effacer L´Historique - 2020

Effacer L´Historique – 2020

Für viele Lacher sorgte das französische Regie-Duo Benoît Delépine und Gustave Kervern, die uns schon mit ihren Filmen LOUISE HIRES A CONTRACT KILLER,  MAMMUTH und zuletzt MONSIEUR PIERRE GEHT ONLINE prächtig amüsiert haben. Mit EFFACER L´HISTORIQUE (dt. „Verlauf löschen“) lieferten sie eine herrlich absurde Groteske über die Wirren und Tücken des digitalisierten Lebens mit der alltäglich gewordenen Technik rund um Handy, Internet & Co ab. Die überzeichneten Figuren – ein Trio vom Pech verfolgter Arbeitsloser, bestehend aus Marie, Bertrand und Christine – sind alles andere als echte Digital Natives. Mit viel Ach und Krach stolpern sie durch den Alltag und zeigen sich überfordert mit den kleinen Geräten, die ihr Leben nicht nur bestimmen, sondern sogar über ihren bescheidenen Einfluss hinaus fest im Griff haben. Marie ist geschieden und will unbedingt die Aufmerksamkeit ihres Sohnes erringen, der beim reichen Papa lebt und sich dort mit neustem Schnickschnack verwöhnen lässt. Bertrand hingegen versucht seine Tochter erfolglos vor Cybermobbing zu schützen, derweil Christine, die nun „clean“ von ihrer Seriensucht ist, mit einem Uber-Taxi durchstarten möchte, für das es allerdings nur miserable Kundenbewertungen hagelt. Als nun Intriganten oder auch einfach nur das eigene Ungeschick dafür sorgen, dass die übermächtige Daten-Cloud ihre Identitäten vollends verschluckt, machen sich die drei auf eine aberwitzige Odyssee, um sich ihre Freiheit zurückzuholen. So simpel die Ausgangsidee und die manchmal etwas naiv-großväterliche Perspektive auf den gegenwärtigen Technikumgang auch sein mag: im Kern von EFFACER L´HISTORIQUE steckt viel Wahrheit. Delépine und Kervern inszenieren den Kampf der drei charmanten Loser gegen das Internet mit großem Einfallsreichtum und erfinden skurril-satirische Bilder für Dinge, die dem Ottonormalverbraucher in der Realität sehr abstrakt erscheinen müssen: der vollends abgeschirmte Superhacker namens „Gott“ wohnt hier in einem Windrad und ist machtlos, erpresserische Sextapes finden sich auf einer entsprechend beschrifteten externen Festplatte im Silicon Valley und die freundliche, weibliche Verkäuferinnenstimme ist natürlich ein tonnenförmiger Roboter. Das Trio tritt beherzt den Kampf des David gegen Goliath an und will in die Rechenzentren der gigantomanischen Konzerne eindringen. Wir im Kinosessel dürfen uns vor Lachsalven schütteln, nur um am Ende etwas desillusioniert zu werden, denn eine wirkliche Alternative gegen all unsere technischen Abhängigkeiten übersteigt dann selbst die Kreativität der Regisseure. Mit welch böser Komik sie unserer Gesellschaft allerdings den Spiegel ob der gedankenlosen Nutzung digitaler Technik vorhalten, war der Festivaljury schließlich sogar einen exklusiven Sonderpreis zum 70. Jubiläum der Berlinale wert!

Siberia - 2020

Siberia – 2020

Abel Ferrara wechselt immer mehr von einer narrativen zu einer assoziativen Bildsprache. War TOMMASO UND DER TANZ DER GEISTER noch komplett improvisiert, war das für seinen neuen Film SIBERIA, den dritten italienischen Wettbewerbsbeitrag,  kaum mehr möglich, weil die unterschiedlichen Drehorte extra Planungen voraussetzen, die die künstlerische Freiheit beschränkten. So ist Ferraras erneuter Ego-Trip, in dem er Willem Dafoe als sein zweites Ich auf eine spirituelle Suche nach seiner künstlerischen Existenz schickt, eine Reise durch seine Träume, Erinnerungen und Fantasien, die weniger geplant als das Ergebnis seiner Umstände ist. Dies bestätigte auch Ferraras Kameramann, der auf die Frage eines Journalisten, der hinter den durchaus beeindruckenden Bilder eine Filmsprache vermutete, antwortete, dass es sich eher um eine Aneinanderreihung von Zufällen handelt. Sie hatten keinen Plan, waren Wind und Wetter ausgesetzt und haben Tag für Tag versucht, das bestmögliche aus den oft widrigen Bedingungen herauszuholen. Willem Dafoe haben diese Arbeitsbedingungen wohl gefallen, hält er doch ohnehin nicht soviel davon eine Rolle einfach nur zu spielen, sondern entwickelt sie lieber, versetzt sich in sie und bewohnt sie quasi. Das hat ihm den Ruf eines Fachmanns für schwere Rollen eingebracht. Tatsächlich liebt er diese Parts, wie zuletzt in VAN GOGH und DER LEUCHTTURMWÄRTER, weil er mit ihnen noch etwas lernen und sich selbst weiterentwickeln kann.

Days - 2020

Days – 2020

Tsai Ming-Liang war schon in den 90ern ein Kritikerliebling auf Festivals und begeisterte das Publikum durch seine Wiederentdeckung der Langsamkeit. Für seinen Film VIVE L´AMOUR gewann er 1994 den Goldenen Löwen in Venedig und auch auf der Berlinale im Jahr 1997 reüssierte er mit seinem Spielfilm DER FLUSS, der ihm sogar den Silbernen Bären einbrachte. Mit seinem neuen Film DAYS statuiert der Regisseur erneut ein Exempel in puncto Entschleunigung. In nur wenigen kontemplativen Einstellungen, in denen wenig bis nichts passiert, observiert Tsai zwei Männer in einer Großstadt, die sich begegnen, Intimität beieinander finden und schließlich wieder auseinandergehen. Die teilweise zehnminütigen Einstellungen, in denen die Protagonisten schlicht beim Aus-dem-Fenster-Starren, Herumliegen, mit Akupunkturnadeln-gespickt-sein oder Salatwaschen gezeigt werden, sind sicherlich gewöhnungsbedürftig. Zur extrem zurückgenommenen Dramaturgie bemerkte ein Kritiker der Berliner Zeitung ironisch, das sei schon kein Minimalismus mehr, sondern „Minimalstismus“. Sicherlich ist DAYS ein (Kunst-)Werk, das die Aufnahmefähigkeiten seines Publikums herausfordert, vielleicht sogar überstrapaziert. Die Bilder sind extrem durchkomponiert, die darin stattfindenden Bewegungen aufs Spärlichste reduziert. In einer homoerotischen Massageszene findet der Film nach zwei Dritteln Laufzeit (und so manch gefühlter Ewigkeit) schließlich seinen Höhepunkt. Als Zuschauer darf man hingegen noch einige lange Einstellungen auf das eigene erlösende Happy Ending warten. Als Statement gegen aktuelle Sehgewohnheiten besitzt Tsais konsequenter Film, auf dessen einzigartige Poesie man sich einlassen können muss, sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal. Bei den diesjährigen Teddy-Awards für queeres Kino gab es für DAYS immerhin den Jurypreis.

The Woman who ran - 2020

The Woman who ran – 2020

Dass feministisches Kino nicht zwangsläufig kämpferisch bzw. aufrührerisch sein muss, sondern auch leise und durchaus behutsam sein kann, beweist der südkoreanische Regisseur Hong Sang-soo mit seinem neuen Film DOMANGCHIN YEOJA (dt. „Die Frau, die rannte“). In ihm trifft Gamhee nacheinander drei Freundinnen in den Vororten von Seoul. Es finden freundliche Unterhaltungen statt, doch zwischen den Zeilen wird noch so viel mehr gesagt. Zwischendurch klingelt es mal: vor der Tür stehen dann Männer mit diversen, abstrusen Anliegen an die Frauen. Dass Hong Sang-soo die Kunst der Suggestion meisterhaft beherrscht, zeigte er schon zuvor auf der Berlinale, wo er 2017 ON THE BEACH AT NIGHT ALONE vorstellte und seiner damaligen Hauptdarstellerin Kim Min-hee zum Silbernen Bären verhalf. Auch hier paart sich die formal einfache Bildsprache mit zurückgenommener Gestik und auf den Punkt geschriebenen Dialoge, die durch ihre Doppeldeutigkeit und subtilen, pointierten Humor in den Bann ziehen. Beim Informationsaustausch zwischen den Freundinnen erfährt man beispielsweise, dass Gamhee zum ersten Mal in ihrer fünfjährigen Ehe länger als einen Tag von ihrem Mann getrennt ist, der sich gerade auf Geschäftsreise befindet. Die nacheinander erfolgenden, sehr unterschiedlichen Reaktionen der Freundinnen, denen Gamhee das anvertraut, verraten viel über die Beziehungen untereinander. In der Konversation stellt sich peu à peu heraus, wie sehr Gamhee die längere Absenz ihres Mannes eigentlich genießt. Im Hintergrund der Treffen thront, meist aus dem Fenster oder von der Terrasse aus zu sehen, ein monolithischer Berg im Hintergrund. Die mit diversen Anliegen klingelnden Männer, die hier als regelrechte Störenfriede auftreten, werden von den nonchalanten Frauen an den Türen vertröstet und mit geschickter Kommunikation wieder hinauskomplementiert. Nachdem voriges Jahr schon mit BURNING und dem diesjährigen Oscargewinner PARASITE großartige und überaus unterschiedliche Filme aus Südkorea auf die hiesigen Leinwände kamen, folgt mit Hong Sang-soos tiefenentspannenden „Die Frau, die rennt“ ein weiteres Kleinod, für das er gerechterweise mit dem Regiepreis von der Berlinale-Jury honoriert wurde.

Irradiated - 2020

Irradiated – 2020

Der kambodschanische Regisseur Rithy Panh setzt sich in seinen essayistischen Dokumentarfilmen immer wieder mit den Folgen politischer Gewalt auseinander. Er selbst hat den Genozid überlebt, den die Roten Khmer während des Pol Pot-Regimes verübt haben und konnte als Jugendlicher nach Paris fliehen. Sein Wettbewerbsbeitrag IRRADIATED greift die Ästhetik von Filmemachern wie Alain Resnais und Chris Marker auf und fragt in einem poetischen Voice Over nach Erkenntnissen, die sich aus den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts für die Menschheit ergeben haben. Dabei reiht er in einer unablässigen Montage Filmbilder aneinander, die in ihrer Grausamkeit kaum zu ertragen sind. Es handelt sich dabei um Archivaufnahmen aus unterschiedlichen Quellen, die durchaus bekannt sind, aber immer wieder einem Prozess der Verdrängung unterliegen. Man sieht einen Bagger im deutschen Konzentrationslager Leichen aufstapeln und in eine Grube befördern. Oder auch die verbrannten und verstümmelten Körper der Überlebenden von Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe. Währenddessen spricht eine der Erzählerstimmen von der Notwendigkeit, das Schreckliche immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, damit sich die Geschichte nicht wiederhole. Das von der Gewalt erzeugte Trauma sei wie eine radioaktive Verstrahlung, so Rithy Panh. Es wirke unsichtbar in den Körpern der Überlebenden weiter und zerstöre sie von innen heraus. IRRADIATED ist ein Essayfilm, der diese Bilder in einen Erfahrungszusammenhang bringen möchte, um sie teilbar zu machen. Im Gegensatz zu seinem vielfach ausgezeichneten Film THE MISSING PICTURE setzt Panh diesmal auf eine extreme Sichtbarkeit der Gewalt, was leider den gegenteiligen Effekt hat. Die gezeigten Bilder führen zu einer Überforderung der Zuschauer und das zugrundeliegende ästhetische Konzept des Films geht nicht immer auf. Dennoch wurde der Film mit dem Preis für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet.

DAU. Natasha - 2020

DAU. Natasha – 2020

Ebenfalls kontrovers aufgenommen wurde ein Wettbewerbsbeitrag, der als erster in einer Reihe von Spielfilmen aus dem russischen Performance-Projekt DAU ausgekoppelt wurde. Zwischen 2009 und 2011 entstand in der Ukraine unter der Regie von Ilya Khrzhanovsky ein fiktives sowjetisches Forschungsinstitut, das sich zum größten europäischen Filmset aller Zeiten entwickelte. Ziel war dabei ein gigantisches Reenactment der Lebensumstände im totalitären System der Sowjetunion und ihre künstlerisch-wissenschaftliche Erforschung. DAU war vor allem eine Versuchsanordnung, die im Sinne der Performance-Kunst Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen wollte. Das Nachspiel eines Gewaltregimes kann dabei auch problematische Effekte haben, und so wurden während des Festivals anonym geäußerte Missbrauchsvorwürfe gegen die Produktion laut. Das hatte bei der Rezeption des Films leider den Effekt, dass kaum jemand über DAU. NATASHA als Wettbewerbsbeitrag sprechen wollte, obwohl dieser einiges über die psychologischen Folgen des Stalinismus zu sagen hatte. Im Mittelpunkt der kammerspielhaften Inszenierung steht die Kantinenchefin Natasha, eine Frau Mitte Vierzig, die gemeinsam mit ihrer jüngeren Angestellten Olga für die Verpflegung der Wissenschaftler am Forschungsinstitut sorgt. Von Beginn an nimmt der Film Dynamiken von Macht und Begehren in den Blick. Im Kontakt mit den Forschern erhoffen sich die beiden Frauen soziale Aufstiegschancen und gehen sexuelle Beziehungen mit ihnen ein. Immer wieder werden durch übermäßigen Alkoholkonsum Situationen von Entgrenzung und Enthemmung geschaffen, die einen Kontrast zu den rigiden Hierarchien des Stalinismus bilden, ohne diese jedoch grundsätzlich in Frage zu stellen. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Art Mutter-Tochter-Beziehung, die zunehmend von Hass, Konkurrenz und symbiotischer Nähe geprägt ist. DAU. NATASHA zeigt, wie die Verinnerlichung von systemischer Gewalt zu ihrem Ausagieren gegen Schwächere führt und wirft dabei auch einen erhellenden Blick auf die Rolle der Frau im Stalinismus. Jürgen Jürges, der als Kameramann schon für Wenders und Fassbinder gedreht hat, wurde von der Jury für seine Bildgestaltung mit dem Preis für eine herausragende künstlerische Leistung ausgezeichnet.

The Roads not taken - 2020

The Roads not taken – 2020

Brachte Sally Potter 2017 mit THE PARTY Licht und Leichtigkeit in den Berlinale-Wettbewerb, so ist ihr diesjähriger Beitrag THE ROADS NOT TAKEN eher schwermütig und düster. Sie zeigt einen Tag im Leben des ehemaligen Schriftstellers Leo (Javier Bardem), um den sich seine Tochter Molly (Elle Fanning) rührend kümmert. Welche Krankheit ihr Vater hat, bleibt nicht nur dem Zuschauer, sondern auch ihr und den Ärzten bis zum Ende unklar. Doch Molly weiß, dass ihr Vater Hilfe braucht. Zwar lebt er in einer kleinen Wohnung in New York und kommt mit Hilfe seiner Haushälterin einigermaßen zurecht, doch heute stehen Besuche bei Augen- und Zahnarzt an. Der Tag wird in einem Fiasko enden, der Kurztrip durch New York wird für Leo schnell zu einer kaum zu bewältigenden Odyssee. In Tagträumen hängt er grausigen Erinnerungen und verpassten Chancen nach und am Ende des Tages hat auch seine Tochter eine leise Ahnung von dem Enttäuschungen ihres Vaters, die ihr bislang unbekannt waren. Sally Potter porträtiert diesen gebrochenen Mann auf drei Zeitebenen, bei denen es sich allerdings nicht um Flashbacks, sondern Imaginationen alternativer Lebenswege handelt. So stellt sich Leo eine leidenschaftlichen Ehe mit seiner Jugendliebe Dolores (Salma Hayek) in Mexiko vor, oder ein Leben in Einsamkeit auf einer abgelegenen griechischen Insel, wo das zufällige Aufeinandertreffen mit zwei jungen Touristinnen schmerzliche, unbequeme Einsichten ans Licht bringt. Javier Bardem legt seine Rolle zwischen Depression und Demenz an und ist selten klar und verständlich. Seine Performance erinnert an die in Alejandro Amenábars DAS MEER IN MIR, der 2004 immerhin den Auslands-Oscar holte. So viel positive Resonanz wurde ihm in Berlin nicht zuteil.

First Cow - 2020

First Cow – 2020

Kelly Reichardt (WENDY & LUCY) hat sich immer schon für Frauengeschichten am Rande der Gesellschaft interessiert. Seit MEEK’S CUTOFF gilt sie als Spezialistin für Frauen-Western und diesem Genre ist sie auch mit FIRST COW treu geblieben. Allein Frauen kommen in diesem Western kaum vor, dafür schwingen die Cowboys nicht den Revolver, sondern hantieren mit Milchkanne und Kochlöffel. Es ist die Zeit der Pelzjäger im wilden Oregon des frühen 19. Jahrhunderts, wohin es einen wortkargen Koch verschlagen hat. Als der Anführer der kleinen Siedlergemeinde sich eine Kuh von der Ostküste bringen lässt, kommt er auf eine geniale Geschäftsidee, für die er sich mit einem chinesischen Einwanderer zusammentut, der sich als geschickter Unternehmer erweist. Während sie nachts heimlich die Kuh melken, verkaufen sie am Tage feinste Milchbrötchen, mit denen selbst der Chief vor politischen Gästen prahlt, um zu zeigen, dass auch in seiner Siedlung die Zivilisation längst Einzug gehalten hat. Jedenfalls laufen die Geschäfte für die beiden Männer immer besser, allein der Rohstoff-Nachschub macht Probleme. Kelly Reichardt erzählt diese kleine Geschichte recht episch und mit Sinn fürs Detail. Sie porträtiert die kleine Siedlergemeinschaft liebevoll und mit allerlei Anspielungen auf heutige Zeiten. Das beginnt mit einer aufkeimenden Ausländerfeindlichkeit und endet bei Wirtschaftsbetrachtungen, die nahelegen, dass dem Preisverfall der Pelze in New York und London durch die Erschließung neuer Märkte in China entgegengewirkt werden könne.

Never Rarely Sometimes Always - 2020

Never Rarely Sometimes Always – 2020

Bereits in Sundance machte dieses kleine Filmjuwel Furore, in Berlin wurde NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER, der dritte Spielfilm der amerikanischen Regisseurin Eliza Hittman (BEACH RATS), mit dem Großen Preis der Jury bedacht. Zu Recht, gehörte er doch zu den stärksten Beiträgen in diesem Jahr. Die Geschichte ist kurz erzählt: Autumn, eine  17-jährige Teenagerin aus dem ländlichen Pennsylvania, wird ungewollt schwanger und hat sich zur Abtreibung entschlossen. Ihre Eltern sollen davon nichts mitbekommen, und da ein solcher Eingriff in ihrem Bundesstaat ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten nicht möglich ist, macht sie sich – mit einem kleinen Koffer und einer gegoogelten Adresse einer Abtreibungsklinik im Gepäck –  mit dem Bus auf nach New York, um diese dort legal vornehmen zu lassen. Als Weggefährtin und moralische Stütze ist ihre etwa gleichaltrige Cousine Skylar dabei. Im Big Apple angekommen, stellt sich heraus, dass Autumns Schwangerschaft schon zu weit fortgeschritten ist, um den Eingriff an einem Tag erledigen zu können. Und da ihr mühsam zusammengekratztes Geld nur für die Abtreibungskosten und die Hinfahrt reicht, sind kreative Lösungen gefragt. Was zunächst wie eine kleine Coming-of-Age-Geschichte im halbdokumentarischen Stil daherkommt, entwickelt sich Stück für Stück zu einer ergreifenden Studie über eine junge Frau, die entschlossen im Rahmen der ihr eng gesetzten Grenzen die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper durchsetzt. Stück für Stück gewinnen wir Einblick in das Innenleben der beiden Protagonistinnen und je länger wir ihnen auf ihrer Odyssee folgen, desto mehr wachsen sie uns trotz des spröden und minimalistischen Erzählstils ans Herz. Gesprochen wird wenig, alle Emotionen spiegeln sich in den Gesichtern und kleinen Gesten der Schauspielerinnen. Mit dem gleichen Minimalismus arbeitet Regisseurin Eliza Hittman in ihrem dritten Spielfilm bei der Schilderung des gesellschaftlichen Umfelds. In kurzen Momentaufnahmen wirft sie dabei ein Schlaglicht auf eine gespaltene Gesellschaft, in der Gewalt und Übergriffigkeit gegen Frauen zum Alltag gehören und oft kaum noch bewusst als solche wahrgenommen werden, sei es am Arbeitsplatz, im Familienverbund oder in partnerschaftlichen Beziehungen. Dabei vermeidet sie eine allzu große Polarisierung in Gut und Böse, legt den Fokus vielmehr auf die Kraft, die (weibliche) Solidarität entfalten kann, sowohl im Zwischenmenschlichen als auch durch staatliche Einrichtungen, die Frauen in prekären Situationen die Hilfe zukommen lassen, die sie benötigen.

There is no Evil - 2020

There is no Evil – 2020

Fünf Jahre nach der Verleihung des Goldenen Bären an Jafar Panahi für seinen Film TAXI TEHERAN ging der Hauptpreis der Berlinale erneut an einen iranischen Film, dessen Regisseur ebenfalls unter Hausarrest steht und sogar eine Inhaftierung fürchten muss. THERE IS NO EVIL von Mohammad Rasoulof überzeugte nicht nur die Jury, sondern auch das Publikum und wurde zudem mit dem Preis der AG-Kino Gilde ausgezeichnet. Vier Episoden im Kurzfilmformat, die erzählerisch lose aufeinander bezogen sind, formulieren gemeinsam ein starkes Plädoyer gegen die Todesstrafe im Iran und für zivilen Ungehorsam. Denn aufgrund von erweiterten Wehrdienstbedingungen werden junge Männer dort nicht nur für mehrere Jahre ins Militär eingezogen, oft müssen sie dabei auch Hinrichtungen für das Regime vollstrecken. Wer sich weigert, muss selbst mit Haftstrafen oder schweren Einschränkungen der persönlichen Freiheit rechnen. Die erste Episode zeigt einen Familienvater, der seiner Frau beim Haarefärben assistiert, eine Nachbarskatze rettet und die kleine Tochter von der Schule abholt. Lange entfaltet sich ein scheinbar normales Alltagsgeschehen, das nur von kaum wahrnehmbaren Momenten des Schmerzes im Ausdruck des stillen Mannes unterbrochen wird. Als der Wecker um drei Uhr morgens klingelt und er im strömenden Regen wie gewohnt zu seiner Arbeit aufbrechen muss, wird langsam klar, warum er immer weiter versteinert. Als die Ampel an der menschenleeren Straße auf Grün schaltet, bleibt er einfach stehen. Es sind immer wieder Momente latenter oder manifester Widerständigkeit, die Rasoulof in den Blick nimmt. Männer, die in wagemutigen Aktionen den Befehl verweigern oder ganze Familien, die Dissidenten bei sich verstecken. Die Partisanen-Hymne “Bella Ciao” tönt einmal aus einem Autoradio und wird euphorisch mitgesungen. Viele Jahre später kehrt sie als extradiegetische Musik zurück in den Film, diesmal im melancholischen Tempo und ohne Gesang. Rasoulofs Film verschweigt auch nicht, welchen Preis der Widerstand in einem Unrechtsregime hat. Dennoch macht er auf kraftvolle Weise deutlich, dass es zur Freiheit und somit auch zur Verantwortung jedes einzelnen gehört, sich dem zu widersetzen, was niemals Recht sein kann. Auch wenn die dramatische Struktur der einzelnen Episoden oft etwas konstruiert wirkt und sich auf eine klassische Narration verlässt, gelingt Mohammad Rasoulof ein starker Beitrag, der sich für die ethische Eigenverantwortlichkeit ausspricht. Anstatt die Vollstrecker eines autoritären Regimes einfach nur als unmoralisch und böse zu dämonisieren, macht er sich dafür stark, die Hintergründe zu betrachten, die zu Mittäterschaft und moralischer Selbstaufgabe führen.

Goldener Bär 2020

Goldener Bär für „There is no Evil“

Damit endete der Wettbewerb ziemlich traditionell und nach Asghar Farhadi (NADER & SIMIN) und Jafar Panahi (TAXI TEHERAN) gewann zum dritten Male ein Iraner den Goldenen Bären und setzte damit die Tradition fort, die der Berlinale den Ruf eines politischen Festivals einbrachte. So gesehen eigentlich nicht viel Neues unter der neuen Führung, auch wenn anfangs einige Journalisten sich im langweiligsten Wettbewerb aller Zeiten wähnten oder Kosslick-Fans mit den Worten triumphieren ließen: “Ihr wolltet Filmkunst, jetzt habt Ihr Filmkunst!”

Eine wahre Neuerung war dagegen die Festivalsektion “Encounters”, mit der sich die „Berlinale“ eine experimentelle Sektion erschlossen hat, in der es um innovative Filmsprachen und erzählerische Wagnisse geht. Das Herzensprojekt von Carlo Chatrian überzeugte in seinem ersten Jahr durch ästhetischen Wagemut und die essayistische Durchdringung von erzählerischen und dokumentarischen Formaten. Er führte das Publikum in alle 15 ausgewählten Beiträge persönlich ein.

Für große Resonanz sorgte GUNDA von Victor Kossakovsky, der neue Perspektiven auf den Tierfilm ermöglichte. Wie schon in seinem dokumentarischen Essay AQUARELA verzichtet Kossakovsky auf jeglichen Off-Kommentar. Stattdessen entstehen durch die Arbeit mit außergewöhnlichen Kameraanordnungen neue Sichtbarkeiten. So baute Kossakovsky um die titelgebende Sau Gunda einen eigenen Stall, ausgestattet mit Aufnahmegeräten, die einen 360-Grad-Rundumblick auf das Muttertier erlauben, während sie gerade einen Wurf kleiner Ferkel zur Welt bringt. Die nahen Schwarz-weiß-Einstellungen haben einen verblüffenden Effekt. Durch das Zurücktreten der Farbe kommt das Gestische der Tiere stärker in den Blick, und damit auch die Einzigartigkeit ihrer Wesenszüge. Unter den neugeborenen Ferkeln bilden sich mit der Zeit immer mehr Charaktere heraus, Mutige und Schüchterne, Gewitzte wie Unbeholfene. Ohne je in eine gezielte Vermenschlichung zu kippen, enthüllt der Film Sensibilität und Eigensinn der Tiere. Auf dem ökologischen Bauernhof, der als Drehort diente, gelangen Kühe und Hühner aus Mast- und Käfighaltung mit der freien Natur in Berührung.            Die zaghafte Kralle eines Huhns, das erstmals auf Gras tritt, macht spürbar, welchem Leid die Tiere in Gefangenschaft ausgesetzt sind. In einer Sondervorführung für Kinder erwies sich diese Strategie als umwerfender Erfolg: Die langen kommentarlosen Einstellungen auf die Tierwelt bewirkten nicht nur unerwartete Faszination, sondern führten auch zu vielen Fragen an den russischen Regisseur, beispielsweise, wohin Gundas Ferkel am Ende des Films gebracht werden, nachdem sie in einen Käfig getrieben wurden und eine sichtlich trauernde Mutter zurücklassen. Kossakovsky gelingt es mit diesen Bildern, Verleugnungsprozesse offenzulegen, die beim Konsum von Fleisch immer noch die Alltagswahrnehmung dominieren. In der filmischen Begegnung mit Gunda und ihren Nachkommen entsteht eine außergewöhnliche Nähe, die Grenzen zwischen Mensch und Tier in Frage stellt. Als ausführender Produzent von GUNDA fungierte der Schauspieler Joaquin Phoenix, der sich für Veganismus und gegen Massentierhaltung engagiert.

The Trouble with being born - 2018

The Trouble with being born – 2018

Auch die Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz fordert die vermeintliche Sonderstellung des Menschen heraus. In ihrem Diplomfilm THE TROUBLE WITH BEING BORN gelingt der österreichischen Regisseurin Sandra Wollner eine provokative Perspektive auf den Umgang mit Androiden. In sanften und schwebenden Einstellungen nähert sie sich einer unheimlichen Beziehung zwischen einem Vater und seiner kleinen „Tochter“, deren puppenhafte Züge sie erst nach einer Weile als künstliches Wesen entlarven. Eine pointiert eingesetzte Voice-Over-Ebene sorgt für Einblick in die Gedankenwelt der KI, die philosophische wie psychologische Fragen aufwirft. Gehören die Erinnerungen dem ewig jungen Mädchen? Oder sind sie Reminiszenzen eines verstorbenen Kindes, für das der Androide ein Ersatz ist? Gibt es ein Containment im Computer? Als das künstliche Wesen seiner sexuellen Ausbeutung entkommt, gerät es in den Besitz einer älteren Dame, die es zum Ebenbild ihres ebenfalls in jungen Jahren verstorbenen Bruders ummodelliert. Doch obwohl Geschlecht und Gedächtnis des Androiden gelöscht wurden, tauchen immer wieder Fragmente des Missbrauchs auf. Ist Psyche ausgedehnt, wie Sigmund Freud schreibt, und damit nicht nur auf den einzelnen Menschen begrenzt? Kann eine künstliche Intelligenz, die über die Komplexität eines Bewusstseins verfügt, traumatisiert werden? Die unterkühlten Bilderwelten des Films ermöglichen Begegnungen mit dem Unmenschlichen, das als Folge von Ausbeutungsverhältnissen auftritt. Dafür wurde Sandra Wollner mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.

Shirley - 2020

Shirley – 2020

Die US-amerikanische Independent-Regisseurin Josephine Decker adaptiert in SHIRLEY den gleichnamigen Roman von Sarah Gubbins über weibliche Krisen. Elisabeth Moss verkörpert höchst eindringlich die Schriftstellerin Shirley Jackson bei einer tiefgreifenden Schreibblockade, die auch ihre Ehe belastet. Als ihr Gatte, ein Professor, einen neuen Mitarbeiter und dessen schwangere Frau vorübergehend in ihrem gemeinsamen Haus einquartiert, entspinnt sich ein Drama, das in seiner Intensität an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ erinnert. Über die Erforschung des Falls einer verschwundenen Studentin nähern sich die beiden ungleichen Frauen ihrer eigenen Destruktivität an und begegnen einander dabei neu. Inszenatorisch öffnet Decker dabei die Statik und Enge der kammerspielhaften Sequenzen zu Gunsten einer entfesselten Kamera, die Symbiose und Verstrickung der beiden Protagonistinnen in Szene setzt.

Zwischen der Gewaltsamkeit des Aufeinandertreffens und unerwarteten Momenten der Nähe spielt sich auch Melanie Waeldes vielgelobter Debütfilm NACKTE TIERE ab. Es zeigt den Alltag einer Gruppe perspektivloser Jugendlicher im Berliner Umland, ohne in die Klischee-Falle zu geraten und alles auszubuchstabieren. Stattdessen lässt der Film Raum für die Leerstellen, welche die oft von häuslicher Gewalt geprägten Biografien der Protagonisten prägen.

Malmkrog - 2020

Malmkrog – 2020

Schon zu Beginn des Festivals sorgte der rumänische Regisseur Cristi Puiu mit seiner außergewöhnlichen Literaturadaption MALMKROG für Aufsehen. Auf der Basis von Texten des Religionsphilosophen Wladimir Solowjow setzt Puiu einen Diskursfilm in Szene, dessen vermeintlich strikte Kontinuität von Zeit und Raum in seinem dreieinhalbstündigen Verlauf immer mehr Risse bekommt. Während ein Großteil der Handlung in den Innenräumen eines gehobenen russischen Landsitzes um 1900 spielt und fünf Figuren beim Debattieren über Krieg, Moral und Staatsräson folgt, scheint die äußere Welt sich aufzulösen, ja geradezu zu derealisieren. Das Dorf Malmkrog liegt eigentlich in Rumänien; ein Christbaum taucht darin eine Weile auf und verschwindet wieder, die Gewalt bricht ein, doch wenig später scheint es, als sei nichts geschehen. Die formale Strenge der Anordnung wird von etwas Gespenstischem heimgesucht, das sich schon in Diskussionen über den Antichristen abzeichnete. Für seinen ästhetischen Wagemut wurde Puiu mit dem Regie-Preis geehrt.

Einen beinahe umgekehrten Zugang sucht der poetische Dokumentarfilm DIE METAMORPHOSE DER VÖGEL der portugiesischen Regisseurin Catarina Vasconcelos. In ihrer künstlerischen Annäherung an die eigene Biografie erforscht sie nicht nur Momente persönlicher Trauer über den Tod von Mutter und Großmutter, sondern erzählt das Private durch die Traumata, die das Salazar-Regime in der portugiesischen Gesellschaft hinterlassen hat. Redeverbote und Verschwinden prägen die Lebensgeschichten der Menschen; das Schweigen setzt Vasconcelos über eine assoziative Bildsprache in Bewegung. In Einstellungen voller entrückter Schönheit lässt sie das Verlorene in verwandelter Form wiederkehren; dafür wurde sie mit dem FIPRESCI-Preis der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet.

Den Hauptpreis in der Sektion „Encounters“ gewann ein Film, in dessen Format die Begegnung bereits angelegt ist: die Ethnografie WERKE UND TAGE (DER TAYOKO SHIOJIRI IM SHIOTANIBECKEN). Acht Filmstunden mit drei planmäßig integrierten Pausen ermöglichen es dem Publikum, am Alltagsleben einer japanischen Bauernfamilie teilzuhaben und sich mit den eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten auseinanderzusetzen. Das Regie-Duo C.W. Winter und Anders Edström konfrontiert mit den Lebensbedingungen ländlicher Regionen, ohne sich in einer meditativen Exotik zu verlieren. Statt Entschleunigung gibt es viel zu sehen – und vor allem zu hören. Denn das Vergehen der Zeit wird durch die Arbeit mit einer atmosphärischen Tonspur auf eine Weise erlebbar, die sich den Wirkweisen der Klangkunst annähert und damit auch auditiv herkömmliche Formate überschreitet.

Minamata - 2020

Minamata – 2020

Die neue Festivalleitung hat im Wettbewerb die Kategorie „außer Konkurrenz” abgeschafft. Solche Filme wurden nunmehr als Berlinale Special präsentiert, was für mehr Transparenz sorgte. So lief hier die Weltpremiere von Andrew Levitas’ MINAMATA mit Johnny Depp in der Hauptrolle, dessen Auftritt vor allem von der Boulevardpresse heiß erwartet wurde, war er doch einer der rar gesäten Stars auf dem roten Teppich in diesem Jahr und immer gut für einen aufsehenerregenden Auftritt. Die Erwartungen in dieser Hinsicht hat er erfüllt, schon am Morgen vor seiner Pressekonferenz musste er von Assistenten beim Autogramm geben gestützt werden. Leider konnte sein Film, trotz des wichtigen Themas, nicht ganz überzeugen. Er spielt den renommierten Starfotografen W. Eugene Smith, als Kriegsberichterstatter im Zweiten Weltkrieg und später als freier Mitarbeiter für verschiedene Magazine wie Life, Harpers Bazaar oder die New York Times ein Star, Anfang der siebziger Jahre aber fast vergessen und dem Alkohol verfallen. Als der Herausgeber des Life-Magazins ihm einen Job in Japan anbietet, bei dem er den Ursachen einer mutmaßlichen Quecksilbervergiftung der Anwohner des Fischerdorfes Minamata nachgehen soll, nimmt er nach anfänglichem Zögern – bestärkt durch die engagierte Japanisch-Dolmetscherin Aileen – den Auftrag an. Und tatsächlich kann er, immer seine altbewährte Kamera von damals dabei, den Skandal aufdecken, mitsamt seiner Verflechtungen von Großindustrie, Regierung und Polizei. Im Gegensatz zu Todd Haynes‘ großartigem DARK WATERS, der sich einem ähnlichen Thema widmet, bleibt MINAMATA ein wenig flach und weist einige Längen auf. Eigentlich einer Sternstunde des Fotojournalismus gewidmet, stört auch die zuweilen zu dick aufgetragene amerikanische Inszenierungsweise, die dem zurückgezogen, aber auch exzessiv lebenden und leidenschaftlich seinem Berufsethos verpflichteten Fotografen allzu gewollt die Aura eines amerikanischen Helden verleihen will. Johnny Depp löst diesen Widerspruch mit der ihm eigenen vollkommenen Hingabe auf und zeigt, dass man, wie im wirklichen Leben, erst die eigenen Dämonen bezwingen muss, um größere Siege zu erzielen.

Charlatan - 2020

Charlatan – 2020

Agnieszka Holland ist ein gern gesehener Gast auf der Berlinale. Nachdem sie zuletzt mit ihrem Öko-Thriller DIE SPUR (2017) und mit dem biografischen Drama MR. JONES (2019) im Wettbewerb vertreten war, legt sie nun ihren neuen Film als Berlinale Special vor: Wie schon in MR. JONES erzählt sie auch in CHARLATAN eine Geschichte mit biografischem Ausgangsmaterial, diesmal diejenige des Wunderheilers Jan Mikolášek (1889-1973), der mit einem Blick durch Uringläschen präzise Diagnosen seiner Patienten erstellen kann. Als Heiler rettet er Abertausenden (laut Abspann gar Millionen) das Leben, doch als Privatmensch ist der aufopfernde Arzt etwas komplizierter. Sein rätselhaftes Talent zur Diagnostik wird später von den einfallenden Nazis erkannt und ausgenutzt, dem darauffolgenden kommunistischen Regime unter Stalin hingegen ist er, der durch seine Gabe Reichtum angehäuft hat und in einem großen Anwesen residiert, ein Dorn im Auge – er soll als Scharlatan gebrandmarkt und eliminiert werden. „Das größte Verbrechen ist es, eine Wahl zu haben“ äußert Jan Mikolášek, als er sich an eine prägende Erfahrung seines Kriegsdienstes im 1. Weltkrieg zurückerinnert. Ein Satz, der seine volle Bedeutung und Tragik erst zum Schluss des Films voll entfaltet. Auf Grundlage eines Drehbuches von Marek Epstein inszeniert Holland das packende Porträt eines unkonventionellen Mannes und zeigt, dass es oft die größten Wohltäter sind, die die Keule menschlicher Grausamkeit mit voller Wucht abbekommen. Sie konzentriert sich dabei auch stark auf den Aspekt von Mikolášeks (zwangsläufig) geheim gehaltener Homosexualität, vergisst daneben allerdings, die ein oder andere angeschnittene Ambivalenz seines Charakters näher auszuleuchten. Den positiven Gesamteindruck schmälert das aber nur unwesentlich: CHARLATAN stellt auf mitreißende Weise Fragen nach der persönlichen Verantwortung und Schuld im Angesicht zeitloser Schrecken.

Pinocchio - 2020

Pinocchio – 2020

Gäbe es einen Preis für die größte filmische Enttäuschung, wäre er dieses Jahr wohl an Matteo Garrones PINOCCHIO gegangen. Italiens exaltierter Nationalstar Roberto Benigni, der im Film den Geppetto mimt, konnte auf dem roten Teppich bei der Premiere noch mit seinem berüchtigten Kasperletheater, clownesken Getue sowie gebrochenem Englisch die Zuschauersympathien und viele Lacher erringen. Doch die gute Laune hielt nicht lange an und ließ viele Zuschauer bereits nach kurzer Filmlaufzeit den Kinosessel wieder verlassen. Garrone, der schon für die Adaption dreier Geschichten aus Giambattista Basiles Märchensammlung „Pentamerone“ in DAS MÄRCHEN DER MÄRCHEN eine reizvoll märchenuntypische Ästhetik erfand, treibt diese in seiner Interpretation der zeitlosen Erziehungsfabel über die berühmte Holzpuppe, die ein echter Junge werden will, etwas zu sehr auf die Spitze. Mag der gemeine Ansatz, in Zeiten der CGI-Überflutung noch auf handgemachte Effekte und echtes Make-up zu setzen, durchaus begrüßenswert sein, krankt Garrones PINOCCHIO sehr schnell am eigenen vorsätzlichen Realismus. Kein märchenhaftes Flair will in dieser entzaubert aussehenden Welt, die Garrone uns da vorsetzt, aufkommen. Der Look bleibt dröge und die Erziehungsstationen des frechen Protagonisten werden in unterkühlter Distanz abgespult, was insgesamt sehr lustlos anmutet. Selbst der skurrile Benigni weckt nur hie und da ein müdes Schmunzeln. Ja, dieser PINOCCHIO ist völlig hölzern und bleibt es leider bis zum Schluss.

High Ground - 2020

High Ground – 2020

Wie viele andere Festivalbeiträge ist auch Stephen Maxwell Johnsons neuer Film HIGH GROUND, den er selbst als australischen Western einordnet, politisch engagiert. Inhaltlich um 1931 im Norden Australiens angesiedelt, thematisiert er die an den Aborigines begangenen Verbrechen: Travis, einstiger Scharfschütze im ersten Weltkrieg, verdingt sich als Ordnungshüter im Outback. Bei einem Einsatz in der Wildnis verliert er die Kontrolle über seine Truppe: er wird zum Zeugen und Mittäter am Massaker einer indigenen Stammesfamilie. Die Vorgesetzten wollen die Wahrheit vertuschen, Travis quittiert daraufhin den Dienst. Zwölf Jahre später wird er zurückbeordert, um den Aboriginal-Krieger Baywara zur Strecke bringen. Dafür wird ihm der von Missionaren großgezogene Fährtenleser Gutjuk zur Seite gestellt. Doch Gutjuk ist der mittlerweile erwachsene Überlebende des Gemetzels, das Travis und seine Männer einst anrichteten, und seine Loyalität den weißen Unterdrückern gegenüber daher höchst wankelmütig. Besonders in der Eröffnungssequenz gelingt es Johnson mit eindrücklicher Härte die Brutalität und Willkür einzufangen, mit der die weißen Besatzer gegen die sogenannten „Wilden“ vorgehen. Frauen und Kinder plantschen friedlich in einem azurblauen See, als plötzlich – aufgrund einer Fehlreaktion – das Feuer eröffnet wird und Chaos ausbricht. Im Blutrausch massakrieren die Weißen alle und unterscheiden beim Abschlachten nicht zwischen Kindern und Erwachsenen. Johnson gibt damit auch den Ton für den Rest des Films an, dem es an Schießereien und Gemetzeln wahrlich nicht mangelt. Daneben verliert er die Figurenzeichnung leider etwas aus dem Visier, was zu einigen Holprigkeiten im Erzählfluss führt. Doch die Message des Films, in dem malerische Naturaufnahmen das häufig sehr blutige Leinwandgeschehen kontrastieren, ist eindeutig: im Krieg beflecken sich alle Seiten mit Schuld, doch gerade in Zuständen, in denen sich Kategorien wie Richtig oder Falsch aufzulösen scheinen, muss es starke, integre und freie Geister geben, die die Menschen angesichts bereits begangener und noch zu begehender Gräuel an universell gültige Werte erinnern, um den Teufelskreis der Gewalt endlich zu durchbrechen.

Bis an die Grenze - 2020

Bis an die Grenze – 2020

Anne Fontaines BIS AN DIE GRENZE reiht sich ein in die vielen französischen Filme, die in letzter Zeit die tägliche Polizeiarbeit in Paris auf besonders realistische Weise vorführten. Zeigte Maiwenn 2011 in ihrem Film POLIEZEI, dass es auf einer Pariser Dienststelle mindestens so falsch läuft, wie die Schreibweise des Titels, so beschreibt Ladj Ly in DIE WÜTENDEN die Arbeit einer Polizeieinheit auf Streife in den Banlieus und brachte es immerhin zu einer Oscar-Nominierung. Auch Anne Fontaine konzentriert sich auf drei Beamte, die sie zunächst einzeln ausführlich vorstellt, um sie in der zweiten Hälfte des Film als Freiwillige für einen ungeliebten Job zusammenzuführen. Sie sollen einen Flüchtling, der abgeschoben werden soll zum Flughafen bringen, doch aus dem einfachen Transfer wird eine wahre Odyssee, die die Polizisten am Sinn ihrer Aufgabe zweifeln lassen. Bald schon steht das eigene Gewissen diametral dem dienstlichen Befehl gegenüber und um ihm Folge leisten zu können muss sich die bunt zusammengewürfelte Truppe erst einmal untereinander einigen. Während die Ängste und Nöte der Polizisten immer mehr in den Vordergrund treten, sitzt im Polizeiwagen ein völlig eingeschüchterten Flüchtling, der alle Fluchtmöglichkeiten, die ihm die Polizisten einräumen, ausschlägt und das Innere des Fahrzeugs nicht verlässt. Dass die Geschichte am Ende dennoch gut ausgeht ist einem cleveren Drehbuch zu verdanken und die Spiellaune der Darsteller um Omar Sy herum verleiht dem Film eine Leichtigkeit, die ihn beim Zuschauer punkten lässt.

Curveball - 2020

Curveball – 2020

Ein ähnlich vielversprechender Film ist Johannes Naber mit CURVEBALL gelungen, der schon in ZEIT DER KANNIBALEN gezeigt hat, dass er insbesondere Dialoge schreiben kann. Doch der Satire setzte eine amerikanische Filmfirma noch ein Sahnehäubchen auf, indem sie die Rechte für den Titel beanspruchte, weil sie den Stoff nun selbst verfilmen will. Der Film musste also auf der Berlinale ohne Titelvorspann gezeigt werden und der deutsche Verleih darf sich für den Kinostart im Herbst einen neuen einfallen lassen. Das ist weniger tragisch als lustig, denn um deutsch-amerikanische Eitelkeiten geht es auch im Film. Mit viel Ironie und seinem Lieblingsschauspieler Sebastian Blomberg, macht sich Naber über den Bundesnachrichtendienst lustig und spürt seiner Rolle im Irakkrieg nach. Wie wir aus Filmen wie OFFICIAL SECRETS wissen, haben die Amerikaner damals alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Massenvernichtungswaffen, die sie im Irak nicht finden konnten, geheimdienstlich nachzuweisen. Und dabei hatten sie offensichtlich wertvolle Hilfe vom BND. Dessen Theorie war jedoch so abenteuerlich, dass er sie am Ende selbst zurücknahm, was die Amerikaner aber nicht daran hindert, diese Idee aufzugreifen, etwas grafisch aufzupeppen und als ausreichendem Kriegsgrund der Öffentlichkeit zu präsentieren. Damit stand der BND gleich doppelt gehörnt da, was Naber für eine absurde Geheimdienst-Farce nutzt, die an deutscher Piefigkeit kaum zu überbieten ist. Wie schon in ZEIT DER KANNIBALEN inszeniert er das Weltgeschehen lieber in Diensträumen und setzt eher auf Dialoge als auf Action. Dennoch amüsiert man sich aufs Köstlichste.

One in a Thousand - 2020

One in a Thousand – 2020

Mit einem starken Beitrag eröffnete in diesem Jahr die Panorama-Sektion. Clarisa Navas´ ONE IN A THOUSAND (Las Mil y Una) illustriert in dokumentarisch anmutender Fotografie das Leben in einer argentinischen Sozialwohnungssiedlung. Protagonistin ist die etwas knabenhafte Iris. Sie ist 17, trägt vorzugsweise weite Sportklamotten und interessiert sich – ganz im Gegensatz zu ihren zwei Cousins und den anderen jugendlichen Bewohnern des Viertels – laut eigener Aussage nicht für Liebe, Sex und den ganzen Kram. Mehr Freude macht es ihr, in ihrer Freizeit Basketball dribbelnd durch das Viertel zu laufen. Ihre Präferenzen ändern sich schlagartig, als die taffe Renata in der Siedlung auftaucht. Iris ist fasziniert von Renatas Kühnheit und gleichermaßen abgeschreckt, da die mysteriöse Neue viele dubiose Gerüchte umschwirren. Trotzdem überwindet Iris ihre Schüchternheit und merkt schnell, dass auch Renata nicht abgeneigt ist. Während ihre Cousins erste schwule Erfahrungen mit anderen Jungs sammeln, entfaltet sich zwischen Iris und Renata schrittweise eine Zuneigung, die über die rein sexuelle Neugierde und Experimentierfreude hinausgeht. Derweil brodelt die Gerüchteküche immer lauter. Clarisa Navas entwickelt für ihre queere Erzählung über den Übergang von jugendlicher Unschuld zur bitter ernüchternden Erwachsenenwelt eine authentische Ästhetik, meist neutral beobachtend, doch in den entscheidenden Momenten schon beinahe komplizenhaft ihren Protagonistinnen folgend. Sofía Cabrera als Iris gibt eine sensationelle Durchbruchsperformance!

Mit einem unerwartet leichtfüßigen Sommerferienfilm sorgte der französische Regisseur Guillaume Brac für eine unterhaltsame Unterbrechung des überwiegend ernsten Programms der Panorama Sektion. À L’ABORDAGE (dt. ATTACKE) bewegt sich auf den Spuren Éric Rohmers und folgt dem verliebten Félix, der nach einem One-Night-Stand in einer Pariser Sommernacht kurzerhand der Angebeteten Alma in den Süden des Landes hinterher fährt. Mit seinem besten Freund Chérif nimmt er eine Mitfahrgelegenheit bei dem übervorsichtigen Edouard in Anspruch, aber die Reise verläuft problematischer als gedacht und Alma freut sich kein bisschen über den unerwarteten Besuch in ihrem Heimatdorf. Brac wurde eingeladen, ein Drehbuch für die Abschlussklasse einer Schauspielschule zu schreiben, das ihnen genug Raum für Selbstausdruck und Improvisation gibt. Das Zusammenspiel der Absolventen macht Spaß, auch wenn die Dialoge meist recht seicht geraten. Was Brac allerdings erstaunlich gut gelingt, ist der Umgang mit sozialen Differenzen. Félix und Chérif sind als Schwarze gerade zu Beginn des Films häufig mit Rassismus und Vorurteilen konfrontiert, aber je mehr die Protagonisten sich kennenlernen, desto stärker tritt die Berührungsangst komplett in den Hintergrund. Das Ferienlager wird ein wenig zu einem utopischen Ort des Miteinander Leben Lernens.

Suk Suk - 2019

Suk Suk – 2019

Immer noch viel zu selten finden Romanzen ihren Weg ins Kino, die von der großen Liebe im fortgeschrittenen Alter erzählen. Andreas Dresen brach damals mit WOLKE 9 eine Art unausgesprochenes Tabu und im queeren Sektor wäre LOVE IS STRANGE mit Alfred Molina und John Lithgow zu nennen. SUK SUK ist ein neuer Beitrag, der diese große Lücke etwas weiter füllt. Mit außerordentlicher Zärtlichkeit und hervorragenden Darstellern inszeniert Ray Yeung von der aufkeimenden Liebe zwischen zwei Großvätern in Hongkong: Pak hat sein Leben lang als Taxifahrer für die Familie malocht. Die Kinder sind inzwischen erwachsen, ausgezogen und unter der Haube oder kurz davor. Erst seit Kurzem hat er also mehr Gelegenheit, seinen eigentlichen sexuellen Neigungen im eher unromantischen Ambiente öffentlicher Toiletten nachzugehen. Seine Frau ahnt davon erst einmal nichts bis er bei einem seiner Spaziergänge den etwa gleichalten Hoi kennenlernt, der ebenso wie er sein Leben der Familie geopfert hat. Hoi ist allerdings geschieden und kann seine Liebe zu Männern daher etwas unverhohlener ausleben. Er führt Pak in die schwule Community ein und endlich kann Pak in seinem Leben einmal einen Hauch davon fühlen, was Ungezwungenheit und Freiheit eigentlich bedeuten. Doch der familiäre Zwang ist groß und belastet die geheim gehaltene Beziehung der beiden immer mehr, zumal auch Paks Frau allmählich eine dunkle Ahnung bekommt. Dass das Projekt anfangs unter keinem guten Stern stand, erklärte Yeung nach dem Filmscreening gleich persönlich. Viele Darsteller, die für ihn für die Hauptrollen in Frage kamen, lehnten gleich ab, als ihnen die Prämisse des Films erklärt wurde. Tai Bo, der Pak spielt, sagte schließlich zu, musste aber vorher das Einverständnis seiner Ehefrau einholen. Diese und ähnliche Geschichten zu den komplizierten Produktionsanläufen zeigen, dass es sich bei schwulen bzw. queeren Themenfeldern im chinesischen Sprachraum noch immer um schwieriges Terrain handelt, das unbedingt der kulturellen Aufarbeitung bedarf. Für die ebenfalls anwesenden Produzenten handelte es sich bei der Unterstützung um eine Ehrenfrage. Mit SUK SUK ist Ray Yeung jedenfalls nicht nur ein mit viel Sensibilität erzählter Film gelungen, der auf berührende Weise zeigt, wie zwei ältere Männer nach einem Leben der Selbstaufopferung doch noch ein Quäntchen Romantik und emotionale Erfüllung beieinander finden. Er ist quasi auch ein Pionierprojekt, dem hoffentlich noch viele weitere nachfolgen werden.

Dry Wind - 2020

Dry Wind – 2020

Einen sehenswerten Queerbeitrag lieferte auch der brasilianische Regisseur Daniel Nolasco mit VENTO SECO (engl. „Dry Wind”). Wie auch schon Clarisa Navas in ONE IN A THOUSAND entwirft er eine Art Paralleluniversum, in dem die Queerness wie selbstverständlich in die Dramaturgie des gewöhnlichen Alltags mitverankert ist. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass der gewöhnliche Alltag des bärigen Protagonisten Sandro sich hier mit dessen neongetünchten, pornösen Tagträumereien abwechselt, in denen er dem neuen Arbeitskollegen Maicon hinterher hechelt. Dieser wiederum sieht aus, als wäre er leibhaftig einem ‘Tom of Finland’-Comic entsprungen, was natürlich reichlich Material für freizügige Fantasien in Lederoutfits bietet. Als prüderer Mensch sollte man um Nolascos Film eher einen weiten Bogen schlagen, denn trocken bläst der Wind hier keineswegs. Im Gegenteil: hier werden explizit reichlich Körperflüssigkeiten ausgetauscht. Zwischendurch werden dann mit Anbruch jeden neuen Tages die tatsächlichen Wetterbedingungen eingeblendet, während Sandro im Schwimmbad oder Eukalyptuswald seinen Begierden freien Lauf lässt. Doch an den burschikosen Maicon kommt er letztendlich nicht ran. Der treibt es lieber mit dem auch nicht unattraktiven Ricardo, der ausgerechnet Sandros verschmähter Ex-Lover ist. Komplexe Inhalte und intellektuelle Stimulation sollte man nicht erwarten, doch als Einsicht in Männerduschkabinen und farbensatte Bebilderung eines unerfüllten Begehrens, das einen bis in die tiefsten sexualisierten Träume hineinverfolgt, ist Daniel Nolascos vor allem ästhetisch reizvoller Film très chic.

Die Adern der Welt - 2020

Die Adern der Welt – 2020

Zwei deutsch-mongolische Koproduktionen waren zu entdecken, beide von Frauen gedreht. In den Generations lief DIE ADERN DER WELT von Byambasuren Davaa, an deren GESCHICHTE VOM WEINENDEN KAMEL wir uns noch gerne erinnern und im Panorama überzeugte SCHWARZE MILCH als starker semibiografischer  Frauenfilm um Emanzipation und sexuelle Selbstbestimmung. Die Regisseurin Uisenma Borchu spielt hier auch gleich die Hauptrolle, eine von zwei Schwestern, die in Berlin aufgewachsen ist, während die andere in der Mongolei blieb und ein Nomadenleben führte. Als jungen Frau zieht es sie zurück zu ihren Wurzel und sie entscheidet, Berlin zu verlassen, um zu ihrer Schwester in die in die Wüste Gobi zurückzukehren. Hier haben sie die ersten Jahre ihrer Kindheit gemeinsam verbracht, doch ihr Wiedersehen als erwachsene Frauen verläuft nicht so reibungslos wie erwartet. Westliche Zivilisiertheit steht hier Jahrhunderte alten Traditionen gegenüber. Eine Begegnung, die die beiden Schwestern genauso herbeisehnen wie fürchten, und so ist auch ihre Beziehung ein Wechselbad der Gefühle zwischen Zuneigung und Ablehnung. Im Widerspruch dieser Gegensätze finden die Frauen eine eigene weibliche Lösung, um die Gräben, die sich zwischen ihnen auftun, zu überwinden. Dabei überrascht die ausgesprochen selbstbewusste Lebensart der beiden Frauen, die beide einen Weg gefunden haben, sich selbst zu verwirklichen. In SCHWARZE MILCH reflektiert Uisenma Borchu nicht nur die Rolle der Frau, sondern auch den Umgang des Menschen mit der Natur. Sie stellt westlich und östliche Konventionen gegenüber und appelliert mit phantastischen Bildern und einer starken künstlerischen Handschrift an unser aller Selbstvertrauen.

Exil - 2020

Exil – 2020

Auch die albanisch-deutsche Ko-Produktion EXIL fragt nach dem sozialen Zusammenhang und wie das Gift der Fremdenfeindlichkeit die Verlässlichkeit von Beziehungen und die eigene Selbstverortung zerstört. Dabei orientiert sich der KHM-Absolvent Visar Morina ästhetisch an Filmen von David Lynch und verkompliziert auf spannende Weise Täter-Opfer-Gegenüberstellungen. Der erfolgreiche Pharmakologe Xhafer (Mišel Matičević) arbeitet bei einer deutschen Firma und lebt mit seiner Frau (Sandra Hüller) und drei Kindern in einem Vorstadthaus mit Vorgarten. Diese “Idylle” ist für sich genommen schon unheimlich, doch eines Tages findet Xhafer an seinem Gartenzaun eine aufgehängte tote Ratte. Da er auf seinem Arbeitsplatz zunehmend Mobbing ausgesetzt ist, das häufig einen ausländerfeindlichen Ton anschlägt, vermutet er eine größer angelegte Schikane. Immer mehr kleine Details fallen ihm unangenehm auf und erregen seinen Verdacht. Auch seine Frau scheint sich von ihm zu entfernen und Geheimnisse zu haben. Xhafer driftet immer stärker ab in einen Kosmos der Angst, wo die eigene Paranoia nicht mehr von äußeren Bedrohungen zu trennen ist. Visar Morinas Film durfte bereits beim Sundance Film Festival Premiere feiern und wurde allein für die Vorlage mit dem Deutschen Drehbuchpreis 2018 ausgezeichnet. Und auch die Umsetzung gelingt hochspannend und kontrovers, beinahe wie ein Psychothriller.

Futur Drei - 2020

Futur Drei – 2020

Für einen großen Hype sorgte der Debütfilm FUTUR DREI von Faraz Shariat, der nicht nur mit dem Teddy Award ausgezeichnet wurde, sondern auch den zweiten Platz beim Panorama Publikumspreis belegte. Semibiographisch erzählt Shariat vom konfliktreichen Aufwachsen als Sohn iranischer Einwanderer, der Entdeckung der eigenen Queerness und dem Kampf gegen vielfältige Formen von Rassismus und Diskriminierung. In Szene gesetzt wird all das jedoch nicht mit dem bierernsten Sozialdrama-Gestus, den die deutsche Filmlandschaft bei solchen Themen gerne sieht, sondern endlich mal mit Sinn für Ästhetik, Ironie und Mut zur Popkultur. Xavier Dolan lässt grüßen – dennoch findet Shariat ganz klar seine eigene Stimme und ermöglicht einen frischen Blick auf die Erfahrungen einer postmigrantischen Generation. Im Film trifft diese, vermittelt durch die Hauptfigur Parvis, auf junge Geflüchtete, die gerade erst in Deutschland angekommen sind und um Perspektiven ringen. Als der hippe junge Mann wegen eines kleinen Delikts zu Sozialstunden in einer Flüchtlingsunterkunft verurteilt wird, trifft ihn das zuerst nicht besonders. Doch in der Auseinandersetzung mit den Bewohnern beginnt er seine eigene Situiertheit in Deutschland zu hinterfragen. Einerseits geht es ihm verhältnismäßig gut, da seine Eltern es mit den Jahren zu bürgerlichem Wohlstand gebracht haben. Andererseits hat die harte Arbeit, die damit verbunden war, dazu geführt, dass Parvis sich von den Eltern entfremdet hat, die selten zuhause waren. Die nehmen sein Schwulsein zwar so hin, ein offenes Gespräch steht jedoch aus. Als er in der Wohneinrichtung die Geschwister Banafshe und Amon kennenlernt, entsteht eine zaghafte Liebesgeschichte, die um ihr Outing ringt. Shariats Film trifft den queerfeministischen Zeitgeist und setzt intersektionale Fragen mit viel Sinn für grellbunten Pop um. Dabei kreist er an vielen Stellen jedoch zu sehr um den Protagonisten und dessen Lust an der Selbstdarstellung, was dem Film etwas von seiner Sprengkraft nimmt.

Schlingensief - 2020

Schlingensief – 2020

Bettina Böhler ist die deutsche Cutterin, die für alle erdenklichen Regisseuren über 60 Filme geschnitten hat. Eigentlich naheliegend, dass sie nun ihren ersten eigenen Film SCHLINGENSIEF – IN DAS SCHWEIGEN HINEINSCHREIEN gedreht hat. Gedreht ist da etwas übertrieben, denn im wesentlichen hat sie Archivmaterial zusammengetragen und wirklich clever zu einer Biographie zusammengeschnitten, bei der man meint, dass Schlingensief selber über sein Leben und Wirken erzählt. Zwei Jahrzehnte hat er den politischen Diskurs künstlerisch begleitet und dabei stets die Grenzen des kulturell Erlaubten ausgetestet. Dass er sich dabei selbst gar nicht so sehr als Provokateur sieht, sondern eher als jemand der eine Sache konsequent zu Ende denkt, macht vielleicht DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER am deutlichsten: Eine westdeutsche Metzgerfamilie tötet in den Westen kommende DDR-Bürger, um sie zu Wurst zu verarbeiten. Stempelt man das Werk nicht als Splatterfilm ab, sondern liest es als Metapher, ist es ganz erstaunlich, wie genau Schlingensief die ersten Jahre der Wiedervereinigung beschreibt. Sein analytisches Denken und seine streitbare Art fehlen heute angesicht eines um sich greifenden rechten Populismus, meinte auch die Regisseurin vor der Premiere: “Es muss mal wieder jemand die Dinge beim Namen nennen, sie laut aussprechen, notfalls auch mal laut werden und sie hinausschreien!”

One of these Days - 2020

One of these Days – 2020

In einer texanischer Kleinstadt gibt es jedes Jahr einen ganz besonderen Wettbewerb, bei dem der Gewinner einen nagelneuen Pick-Up Truck gewinnen kann. Die Bewerber müssen sich um das Auto herum aufstellen und dürfen die Hand nicht von dem Fahrzeug nehmen. Wer am längsten durchhält, bekommt den begehrten Preis. Der deutsche Regisseur Bastian Günther (HOUSTON), der mittlerweile selbst in Texas lebt, hat sich diese Geschichte nicht ausgedacht. Die Absurdität und Tragikomik eines solchen Spektakels, das viel über die US-amerikanische Mentalität erzählt, hat er selbst vor Ort beobachtet und mit ONE OF THESE DAYS daraus ein ruhiges Sozialdrama entwickelt. Auf dem Gelände eines örtlichen Autoverkäufers tummeln sich lokale Fernsehreporter und viele Schaulustige, die gespannt darauf warten, wer als erster zusammenbrechen wird. Tag und Nacht stehen die Kandidaten mit der Hand auf dem Wagen im Kreis und dürfen nur ab und zu für ein paar Minuten zur Toilette gehen. Bastian Günther entwickelt ein Psychogramm der Mitbewerber und Konkurrenten, dabei zeichnet sich ein heterogenes Bild der US-amerikanischen Gesellschaft ab. Was alle von ihnen verbindet, ist ihre prekäre Existenz und ein falsch verstandenes Bild des “American Dream”, das am Ende in gewaltsame Verzweiflung eskalieren wird. Mitunter etwas zu lang geraten, gelingt es dem Film jedoch, ein Gefühl für die zunehmenden sozialen Spannungen in den USA zu vermitteln. Joseph (Ben Whishaw) ist ein unauffälliger junger Mann, dessen Existenz sich in klinischer Ordnung zwischen seinem Apartment und der Arbeit als Sicherheitsbeamter am Londoner Flughafen abspielt. Völlig affektlos zieht das Leben an ihm vorüber. Als er an seinem Geburtstag die Eltern besucht, eskaliert die unterkühlte Stimmung plötzlich. Überwältigt von negativen Gefühlen beißt Joseph in ein Glas und flüchtet blutüberströmt aus dem Haus. Ab da ist nichts mehr wie zuvor. Aneil Karia nimmt die Zuschauer in seinem Langfilmdebüt SURGE mit auf eine Tour-de-Force, die zunächst aussieht wie ein mentaler Zusammenbruch oder eine Psychose. Zugleich scheint dessen Protagonist in seinem zerstörerischen Streifzug durch die Stadt immer mehr zu sich selbst zu finden. Joseph wird zu einem unkalkulierbaren Störenfried in den Rädchen des Systems und erinnert ein wenig an Michael Douglas in FALLING DOWN. Auch hier führt endlos aufgestaute Frustration zu einer Art Befreiungsschlag. Ben Whishaw geht mit seinem Spiel an die Grenze, dabei verzichtet der Film zunehmend auf rahmende Erklärungen oder Dialoge. Statt dessen setzt Aneil Karia auf eine hypernervöse Atmosphäre, die durch eine entfesselte Handkamera entsteht. Das ist nicht immer angenehm für die Zuschauer und auch die etwas schwache Auflösung des Films lässt dann doch eher ratlos zurück.

Ein kleines Highlight war dagegen ein poetischer Debütfilm aus Italien, der eigentlich hervorragend zur “Fridays for Future”-Bewegung passen würde. Im Zentrum von SEMINA IL VENTO (engl. “Sow the Wind”) steht die junge Agrarwissenschaftsstudentin Nica, die in ihr kleines Heimatdorf an der süditalienischen Küste zurückkehrt. Dort zeichnet sich gerade ein Richtungswechsel ab. Obwohl ihre Eltern lange von der Olivenernte gelebt haben, sollen die uralten Haine jetzt gefällt werden, da sie aufgrund eines rätselhaften Schädlingsbefalls keine Früchte mehr tragen. Mit Entsetzen versucht Nica für den Erhalt der Bäume zu kämpfen, wie einst schon ihre geliebte Großmutter. Als sie die Krankheit in den Rinden unter dem Mikroskop erforscht, stellt sie fest, dass sie durch ein ökologisches Ungleichgewicht entstanden ist. Doch niemand hat Interesse daran sie anzuhören, da der ökonomische Wert des Grundstücks das einzige zu sein scheint, was die Elterngeneration noch im Sinn hat. In seinem magischen Realismus erinnert SOW THE WIND ein wenig an die Filme von Alice Rohrwacher (GLÜCKLICH WIE LAZARRO). Wer Wind sät, wird Sturm ernten, heißt es im Alten Testament. Auch wenn Danielo Caputos malerisches Drama der patriarchalen Gewalt der Kirche genauso kritisch gegenübersteht wie den scheinbar aufgeklärten Ökonomen, so verweist dieses Zitat dennoch auf die achtlosen Umweltzerstörungen, deren drastische Konsequenzen bereits abzusehen sind.

Der Panorama Publikumspreis ging überraschend an den serbischen Film OTAC, der vom Opfergang eines Familienvaters erzählt, nachdem ihm das Sorgerecht für seine Kinder entzogen wurde. Zuvor hatte sich seine Ehefrau vor den Arbeitgebern mit Benzin übergossen und sich aus Protest gegen die lange ausstehenden Löhne selbst in Brand gesetzt. Da sie auch die Kinder in den Tod reißen wollte, wird sie in die Psychiatrie eingewiesen und die Behörden kommen zu dem Schluss, dass ihr Vater Nikola aufgrund der schlechten Lebensbedingungen nicht für sie sorgen kann. Doch der Mann setzt den teilnahmslosen Beamten einen unermüdlichen Kampf entgegen, in dessen Verlauf er zu Fuß in die 300 Kilometer entfernte Hauptstadt Belgrad läuft, um persönlich Beschwerde bei einem Minister einzulegen. Dabei übt der Film deutliche Kritik an der korrupten Bürokratie des Landes und klagt die schlechten Lebensbedingungen an, für die sich niemand verantwortlich fühlen möchte. Im Gegensatz zu sozialrealistischen Dramen wie solchen von Ken Loach steht bei OTAC jedoch nicht ein bestimmtes Milieu oder eine Familie im Vordergrund, sondern ausschließlich ein Mann, der gebeutelte Vater, der schließlich zum Volkshelden wird. Solche Narrative laden natürlich zur emotionalen Identifikation mit einer leidenden Heldenfigur ein, gerade deswegen sollte man sie aber auch kritisch betrachten.

Hope - 2020

Hope – 2020

Das skandinavische Kino versteht sich einfach darauf, aus den Spannungen zwischenmenschlicher Beziehungen Geschichten herauszuarbeiten, die tief berühren und dabei universelle Fragen aufwerfen. HOPE von Maria Sødahl gehörte zu den bewegendsten Filmen der Sektion Panorama und wurde mit dem Europa Cinemas Label ausgezeichnet. Die Krebserkrankung der dreifachen Mutter Anja (Andrea Bræin Hovig) steht nur scheinbar im Zentrum, eigentlich ist HOPE vor allem ein Film über das Zulassen von Nähe und Abhängigkeit in partnerschaftlichen Beziehungen. Und es ist auch die Geschichte der Regisseurin Maria Sødahl, die einen für unheilbar erklärten Tumor im Gehirn überlebt und darüber einen neuen Blick auf das Leben gewonnen hat, den sie mit den Zuschauern teilen möchte. Zunächst sieht es im Film nicht so aus, als gäbe es Anlass zur Hoffnung, denn die Ehe zwischen Anja und Tomas (Stellan Skarsgard) war immer schon von unterdrückter Aggression und Ausweichmanövern geprägt. Als kurz vor Weihnachten die Diagnose eintrifft, verschweigt sie den Kindern zunächst ihre Krankheit. Doch die schweren Nebenwirkungen der Medikamente fordern einen sichtbaren Tribut. Anja bittet Tomas darum, sie auf diesem möglicherweise letzten Weg zu unterstützen, auch wenn er nichts mehr für sie empfindet. Die Vorstellung, ihre Kinder mit dem Bild von zwei völlig selbstbezogenen Eltern zurückzulassen, kann sie nicht ertragen. Und zu ihrer Überraschung stellt sie fest, dass die Beziehung zu Tomas nicht so desolat ist, wie sie immer glaubte. Ohne falsche Sentimentalität zeigt Sødahl wie die Erfahrung der Zerbrechlichkeit des Lebens zwei Menschen unverhofft zueinander finden lässt. Ihre Verbundenheit zeigt sich nicht in den sozialen Ritualen von Weihnachtsfesten und Hochzeitsfeiern oder der romantischen Liebe, sondern in der bedingungslosen Unterstützung, die beide einander im Moment größter Verletzlichkeit zuteil werden lassen.

Kokon - 2020

Kokon – 2020

In den Generations haben wir KOKON den zweiten Spielfilm von Leonie Krippendorf entdeckt. 2018: Der heißeste Berliner Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen avanciert zur Kulisse jugendlicher Selbstfindung, sexuellem Erwachen und der flatterhaften ersten Liebe. Die vierzehnjährige Nora streift mit ihrer etwas älteren Schwester und deren bester Freundin tagsüber durch die Straßen der Hauptstadt, chillt auf den Dächern und probiert Joints. Im etwas prolligen Ambiente, in dem die draufgängerische Schwester verkehrt, wirkt die sehr introvertierte Nora aber eher deplatziert. Mit dem ruppigen Ton, in dem die anderen Teens miteinander kommunizieren, kann sie nicht ganz umgehen und ist das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen. „Mach mir bloß keine Schande“, mahnt die große Schwester sie, als Nora wegen eines eingegipsten Arms nicht auf Klassenfahrt gehen kann und kurzerhand in deren Oberstufen-Klasse platziert wird. Als ihr nach plötzlicher (erster) Menstruationsblutung – ausgerechnet im Sportunterricht – die kesse, etwas polarisierende „Neue“ namens Romy hilft, spürt Nora erstmals auch so etwas wie sexuelle Anziehungskraft. Fortan sucht sie in den nicht immer ganz zufälligen Begegnungen mit Romy nach Anzeichen einer Seelenverwandtschaft. Und siehe da: auch Romy ist angetan von der schüchternen Nora. Sie lädt sie des Nachts zum Schwimmbadeinbruch ein und nimmt sie auf Spaziertouren mit, wo sich die beiden endlich näherkommen. KOKON atmet in jedem Bild Sommerluft: ob unter Wasser im Schwimmbad, im Schilfdickicht oder auch schlicht über den Dächern Berlins – Leonie Krippendorf gelingt feinste, pulsierende Großstadtpoesie, kombiniert mit den empathisch nachgezeichneten Irrungen, Wirrungen der ersten Liebe, in denen sich jede Sekunde intensiv, jeder Tag ewig anfühlt und jeder noch so kleine Moment mit Verheißung aufgeladen scheint. Herz des vor Lebenslust sprühenden Films ist die sensationelle Lena Urzendowsky, in deren Blicken sich die scheue Aufgeschlossenheit und Sehnsucht nach Zugehörigkeit einer sensiblen Heranwachsenden spiegeln, die mit jedem Schritt mehr Mut und Selbstbewusstsein erringt. Ihr dabei zuzusehen, ist eine Freude!

Für Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek war es keine leichte erste Berlinale. Die anfänglichen Vorschusslorbeeren der Presse wandelten sich bald in allzu kritische Berichterstattung. Dabei standen sie für Krisen gerade, die sie gar nicht zu verantworten hatten. Neben der Diskussion um die Nazi-Vergangenheit des ersten Festivalleiters Alfred Bauer, legten auch die Morde von Hanau einen dunklen Schleier über die Eröffnung. Die Berlinale selbst aber zeigte kaum Veränderungen. Neben einem gewohnt schwachen Wettbewerb, wusste sie wie immer mit einer Vielfalt zu punkten, die weltweit einzigartig ist. Wer nur schlechte Filme gesehen hat, hat sich wohl die falschen ausgesucht.