Die 74. Filmfestspiele in Cannes: Ein Festivalbericht

“Sorry, I messed it up!” waren die Worte des Jury-Präsidenten Spike Lee, als er bei der Preisverleihung auf Aufforderung der Moderatorin die erste auszuzeichnende Kategorie nennen sollte und sogleich den Gewinner der Goldenen Palme verriet. Damit war der Ablauf der Preisverleihung komplett auf den Kopf gestellt und ließ auch die Vergabe der weiteren Preise zu einem einem heillosen Chaos werden. Und doch passte diese verpatzte Abschlussveranstaltung zu einem Festival, dass arg mit Corona zu kämpfen hatte. Dabei hat es Venedig im letzten Sommer doch so eindrucksvoll vorgemacht, wie man unter Pandemie-Bedingungen Filmfestspiele sicher über die Bühne bringen kann. Maskenpflicht, Fiebermessen, Schachbrettmuster in den Kinos, kein Roter Teppich und ein cleveres Online-Ticket-System ließ hier alles wie am Schnürchen laufen und gab einem ein Gefühl von Sicherheit. Davon in Cannes keine Spur, überforderte Security-Kräfte versuchten Regeln durchzusetzen, die niemand verstand, die Kinos wurden bis auf den letzten Platz besetzt, um Fotos mit ausverkauften Premieren um die Welt schicken zu können und der Rote Teppich wurde zur überfüllten Begegnungsstätte der Stars, so als wäre Corona längst überwunden. Dabei hätte dieses Festival bei halber Teilnehmerzahl ein entspanntes Ereignis sein können, aber Festivalleiter Thierry Fremaux wollte es anders und beschwor den Geist vergangener Glamour-Tage herauf. Vollmundig hatte er ein einzigartiges Programm, für das er aus zwei Jahrgängen auswählen konnte, angekündigt, doch die meisten Filme blieben qualitativ hinter den schillernden Namen ihrer Macher zurück.

The French Dispatch - 2020

The French Dispatch – 2020

Dies trifft zum Beispiel auf Wes Andersons FRENCH DISPATCH (Walt Disney) zu, der schon fast zwei Jahre auf seinen Kinostart wartet und eigentlich schon im letzten Jahr hier gezeigt werden sollte. In punkto Ausstattung, Artwork und Design ähnlich perfekt wie THE GRAND BUDAPEST HOTEL wartet er mit einem beeindruckenden Cast auf: Timothée Chalamet, Benicio del Toro, Adrien Brody, Tilda Swinton, Frances McDormand, Saoirse Ronan und Bill Murray sind mit von der Partie, können aber der Geschichte um einen Verlegersohn aus Kansas, der sich in den Kopf gesetzt hat, die Beilage des elterlichen Provinzblattes in der französischen Metropole Ennui-sur-Blasé zu produzieren, keine Tiefe geben. Sein Magazin ‘The Great Dispatch’ erinnert an den von Wes Anderson verehrten ‘New Yorker’ und seine Autoren und ist eine liebevolle Hommage an den Journalismus und den Spaß am Schreiben. Das skurrile Personal – vom Rad fahrenden Poeten, der uns seine Stadt vorstellt, über eine extravagante Kunstkritikerin bis zur taffen Reporterin – gepaart mit traumschönen Bildern, sind ein Genuss fürs Auge.

Annette - 2021

Annette – 2021

Musikalisch ging es zur Eröffnung der Filmfestspiele zu. Schon vor einem Jahr sollte Leo Carax das Festival mit seinem Werk ANNETTE eröffnen. Doch die mit Spannung erwartete Premiere musste pandemiebedingt verschoben werden. Für die Musik verantwortlich zeichnen die Brüder Ron und Russell Mael von der Band Sparks, die auch das Drehbuch schrieben. Im Mittelpunkt steht das Promi-Paar Henry und Ann (Adam Driver und Marion Cotillard). Er ist ein für seine provokante Art berühmter Comedian, sie eine gefeierte Opernsängerin. Skurril wird es, als die beiden ein Kind bekommen – eine Gliederpuppe aus Holz, was jedoch keinen zu stören scheint. Bald gerät die Ehe ins Trudeln, eine Auseinandersetzung der Eheleute auf einem Kreuzfahrtschiff endet mit dem Tod der Opern-Diva, an dem Henry nicht ganz unschuldig ist. Fortan geistert Ann als Untote durchs Geschehen, während Henry die Karriere seiner mit einem überirdischen Gesangstalent gesegneten Tochter vorantreibt. Es bleibt nicht bei einer Leiche, Henry landet im Knast, doch Annette verwandelt sich in ein richtiges Kind, wird zur selbstbestimmten Person, die die Fäden in der eigenen Hand halten will. Das alles bleibt letztlich rätselhaft, teils verstörend, ist aber durchaus auch unterhaltend. Verhandelt werden große Gefühle wie Liebe, Tod und Eifersucht, versetzt mit „Me too“-Anspielungen und Mediensatire – ein seltsames Gemisch, das immerhin ein würdiger Festival-Auftakt war und von der Jury mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde.

Titane - 2021

Titane – 2021

Noch schräger ging es beim Gewinner der Goldenen Palme TITANE (Koch Film) zu, der schon früh von einigen als Palmen-Favorit gehandelt wurde. Von einer Frau inszeniert, radikal mit herkömmliche Geschlechterrollen brechend und sich klaren Genrezuweisungen entziehend – all dies sprach dafür, dass man ihn bei der Preisvergabe nicht übersehen konnte. Und so war es dann auch. Als erst zweite Frau nach Jane Campion erhielt Julia Ducournau die kostbare Trophäe und freute sich mit ihren beiden Hauptdarstellern über den Erfolg. Der Titel TITANE bezieht sich auf die Metallplatte im Kopf, die die Protagonistin Alexia (Agathe Rousselle) nach einem schweren Unfall als Kind verpasst bekommt. Fast scheint es, als befeuere dieses Implantat ihre Liebe zu Metallen, allen voran heiße Schlitten, auf denen sie in einem Stripclub tanzt und in deren Innerem sie auch zuweilen Bondage-Sex mit sich selbst hat. Weniger zärtlich geht sie mit Männern um – wer ihr gegen ihren Willen zu nahe kommt, ist bald tot, erstochen mit ihrer Haarnadel, die sie ihnen ins Ohr rammt. Der Film ist gewiss nichts für zart Besaitete und übt doch eine gewisse Faszination aus. Bald ist die Polizei Alexia auf den Fersen. Sie entkommt ihnen, indem sie sich für den lange vermissten Sohn des Feuerwehrchefs Vincent Legrand (Vincent Lindon) ausgibt. Dieser identifiziert sie tatsächlich wider aller Logik als sein Kind und fortan bilden die beiden eine Zweckgemeinschaft. Er will unbedingt seinen Sohn zurück, sie nicht als Mörderin verurteilt werden – zwei Menschen, die sich brauchen und sich auf seltsame Weise gut tun.

A Hero - 2021

A Hero – 2021

Zum eher klassischen Erzählkino gehören die Filme, denen Oliver Stone den Großen Preis der Jury ex aequo überreichen durfte. Ausgezeichnet wurde der Finne Juho Kuosmanen, der hier vor fünf Jahren mit DER GLÜCKLICHSTE TAG IM LEBEN DES OLLI MÄKI entdeckt wurde und sogleich den Hauptpreis der Un Certain Regard gewann und Asghar Farhadi, der nach dem Gewinn des Goldenen Bären mit NADER UND SIMIN, mit all seinen folgenden Filmen in den Wettbewerb in Cannes eingeladen wurde. Das iranische Kino mag derzeit das einzige sein, dass moralische Werte hochhält, wie wir es zuletzt beim Berlinale-Gewinner DOCH DAS BÖSE GIBT ES NICHT und auch auf der diesjährigen Berlinale in BALLAD OF A WHITE COW gesehen haben. Nach seinem westeuropäischen Ausflug mit EVERYBODY KNOWS kehrt auch Farhadi mit seinem neuen Film A HERO in den Iran zurück und erzählt eine Moritat, die einen Gefängnisinsassen auf seinem zweitägigen Hafturlaub begleitet. Irgendwie wird ihm eine Handtasche mit 17 Goldmünzen zugespielt, und als er bei einem Händler keinen adäquaten Preis erzielen kann, kommt er auf eine bessere Idee, seinen Fund Vorteil bringend einzusetzen. Er meldet sich als ehrlicher Finder. Die sozialen Medien greifen die Geschichte begierig auf, eine Charity-Organisation sammelt Geld für ihn, damit er die Schulden begleichen kann, deretwegen er in Haft ist und die Gefängnisleitung will ihm ein Fernsehinterview vermitteln, um zu zeigen dass sie aus den Inhaftierten moralisch integre Menschen machen. Allein der Fernsehredakteur und sein Gläubiger glauben nicht an die Wandlung vom Saulus zum Paulus, und als tatsächlich Zweifel an seiner Geschichte aufkommen, drohen alle ihr Gesicht zu verlieren. Farhadis Film dreht sich um Ehre und Ehrlichkeit, wobei diesmal neben Familienzwistigkeiten Social Media ein ordentliches Wort mitreden. Das macht es dann selbst im sonst so klaren iranischen Film schwierig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

Compartment No. 6 - 2021

Compartment No. 6 – 2021

Das Roadmovie COMPARTMENT NO.6 von Juho Kuosmanen nach dem Roman ‘Abteil Nr. 6’ von Rosa Liksom, begleitet die junge in Russland lebende Finnin Laura auf ihrer Reise per Zug quer durch Sibirien ins arktische Murmansk zu den als Petroglyphen bekannten uralten Felszeichnungen, wohin sie zu Studienzwecken aufgebrochen ist. Gerade erst verarbeitet sie die schmerzhafte Trennung von ihrer Freundin Irina und ist gar nicht begeistert, ihr Abteil mit einem jungen russischen Minenarbeiter teilen zu müssen, der so gar nicht in ihre Lebenswelt passt. Ljoha ist nicht nur ungebildet und ungehobelt, sondern bei der ersten Begegnung auch sturzbetrunken. Doch ihr Reisebegleiter erweist sich wider Erwarten als hartnäckiger Kommunikator, der immer wieder Kontakt mit ihr aufnimmt und sie in Gespräche verwickelt. Als der Zug eine Nacht auf einem Bahnhof stehen bleibt, lädt er sie ein zu einem Kurzbesuch bei seinen Verwandten. Nur zögernd stimmt sie zu, doch als sie mit liebevoll geschmierten Broten zurück ins Abteil kehren, hat sie mehr von der Lebenswirklichkeit Russlands kennen gelernt als in den Monaten zuvor in Moskau. “In meinem Film geht es um Kommunikation”, sagte der Regisseur bei der Preisverleihung. Und tatsächlich wird hier am Beispiel der beiden in Hinblick auf Nationalität und den soziokulturellen Hintergrund so gegensätzlicher Menschen sehr schön aufgezeigt, dass ein Miteinander trotz großer Gegensätze möglich ist.
Eine Weisheit, die nicht nur auf diesen Mikrokosmos anwendbar ist und sicher auch als Ermunterung gedacht ist, aufeinander zuzugehen und Gegensätze zu überwinden.

Memoria - 2021

Memoria – 2021

Der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakuls gewann 2010 für seinen hypnotischen Film UNCLE BOONMEE die Goldene Palme und kehrte mit seinem ersten englischsprachigen Film MEMORIA zurück. Tilda Swinton spielt hier eine britische Orchideenzüchterin aus Medellin, die ihre kranke Schwester in Bogota besucht. Immer wieder und ganz unvermittelt hört sie einen lauten Knall, den aber niemand anders hört. Ihr Schwager vermittelt sie an einen jungen Toningenieur, mit dem zusammen sie das Geräusch rekonstruiert, was sie aber nicht weiterbringt. Im Krankenhaus diagnostiziert man das ‘exploding head syndrome’, an dem der Regisseur auch einmal gelitten hat. Doch Weerasethakul geht es nicht um eine wissenschaftliche Erklärung, vielmehr sucht er nach einer Ursache für diese psychische Erkrankung. Er findet sie tief im Unterbewusstsein, wo er eine Sozialisationsstörung ausmacht, wenn objektive und subjektive Wirklichkeit nicht im Gleichgewicht stehen. Dies gilt für die britische Botanikerin, die in Kolumbien lebt, genauso wie für ihn selbst, der hier einen Film dreht, wo er doch aus Thailand kommt. MEMORIA zeigt in der ersten Hälfte das moderne Leben in Bogota, um es in der zweiten mit einer archäologischen Ausgrabung auf dem Lande zu kontrastieren. Letztendlich beschreibt Weerasethakul die Gegensätze von Tradition und Moderne, lotet aber auch aus, was diese in unserem Unterbewusstsein bewirken können. Er tut dies in diesem Film weniger poetisch als metaphorisch, wobei er wie immer keiner Narrativität folgt, was es dem Zuschauer nicht immer leicht macht. Entschädigt wird er aber durch eine wie immer brillante Tilda Swinton.

The Worst Person in the World - 2021

The Worst Person in the World – 2021

Mit THE WORST PERSON IN THE WORLD beendet Joachim Trier seine 2006 mit AUF ANFANG begonnene und 2011 mit OSLO, 31. AUGUST fortgesetzte Oslo-Trilogie. Das Drehbuch schrieb Eskil Vogt, der auch mit seinem ersten eigenen Film THE INNOCENTS in Cannes in der Reihe Un Certain Regard präsent war. Joachim Triers Werk ist ein Generationen-Porträt am Beispiel einer Endzwanzigerin, deren Sprunghaftigkeit und Launen wir über 12 Kapitel hinweg plus Pro- und Epilog folgen. Julie ist aber nicht wirklich so schlimm, wie der Titel suggeriert. Doch die Buchhändlerin mit schriftstellerischen Ambitionen weiß noch nicht so recht, in welche Richtung es gehen soll in ihrem Leben. Sie beginnt ein Medizinstudium, wechselt zur Psychologie, dann gilt der Fotografie ihre Leidenschaft. Zwar ist sie liiert mit einem 44-jährigen Zeichner von Underground-Comics, im Gegensatz zu ihm möchte sie aber keine Kinder und wehrt seine Avancen, mit ihr eine Familie zu gründen, ab. Als sie auf einer Party Eivind kennenlernt, der ebenso bindungsscheu ist wie sie, verlässt sie Aksel, um mit Elvind ein neues Leben zu beginnen. Ein Jahr später erfährt sie, dass Aksel schwer erkrankt ist und besucht ihn im Krankenhaus und bekommt Zweifel, ob die damalige Trennung richtig war. Es ist vor allem die Hauptdarstellerin Renate Reinsve, die diesen Film trägt und für ihre Darstellung mit der Silbernen Palme ausgezeichnet wurde. Überzeugend verkörpert sie eine Generation des gehobenen Bürgertums, der alle Möglichkeiten offen steht, die aber gerade daran scheitert, weil sie sich nicht entscheiden kann. „Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Leben aus vielen Kurzgeschichten besteht“, so Joachim Trier zur Wahl seiner Erzählstruktur. Sie ermöglicht es ihm, verschiedene Stile auszuprobieren, was zwar zuweilen etwas sprunghaft wirkt, aber viel Raum für Innovation lässt.

Bergman Island - 2021

Bergman Island – 2021

Etwas langweilig war der schwedische Wettbewerbsbeitrag BERGMAN ISLAND (Weltkino) der französischen Regisseurin Mia Hansen-Løve, die in ihrem siebten Spielfilm ein amerikanisches Filmemacher-Paar, Tony (Tim Roth) und Chris (Vicky Krieps), auf Pilgerreise zur Wohn- und Wirkungsstätte Ingmar Bergmans auf die Insel Fårö schickt. Hier mieten sie sich in dessen ehemaligem Ferienhaus ein, wo er auch SZENEN EINER EHE gedreht haben soll und schreiben ihre Drehbücher, auf dass ihnen der Geist des großen Regisseurs in die Feder fließt. Ihr Freizeitprogramm wirkt dagegen wie ein Tourismusfilm, der mit Themenpark, Bustour, Museum und Vorträgen inklusive Vereinnahmung durch die Bergmann-Stiftung etwas krampfhaft versucht, das Genie des Meisters wiederzubeleben. Doch das gelingt nicht wirklich und ist auch gar nicht zeitgemäß. Als Chris Tony aus ihrem Drehbuch vorliest, entsteht ein Film im Film, der von einer unglücklichen Beziehung handelt, die man auf die Filme Bergmans, ihn selber (immerhin hatte er neun Kinder mit fünf Ehefrauen), vielleicht aber auch auf das langjährige Verhältnis der Regisseurin mit Olivier Assayas beziehen kann. Wie auch immer, irgendwie bleibt das alles etwas schal und verstaubt und kann den Geist Bergmans kaum entfachen. Vielleicht sollte man, wenn man dem Maestro huldigen will, einfach seine Filme zeigen, denn die sind zum großen Teil zeitlos.

Tre Piani - 2021

Tre Piani – 2021

Auch Nanni Moretti enttäuschte mit TRE PIANI (Drei Etagen), der in einem römischen Wohnhaus spielt und von den Problemen seiner Bewohner erzählt. Zu Zeiten, in denen Angst und Ressentiments vorherrschen, gestaltet sich das Zusammenleben besonders schwierig. Die Männer scheinen gefangen in ihrer Sturheit, während die Frauen, jede auf ihre Weise, versuchen, die Splitter dieses zerbrochenen Lebens wieder zusammenzufügen. Moretti setzt auf ihm vertraute Schauspieler, neben Margherita Buy und Alba Rohrwacher ist auch Riccardo Scamarcio mit von der Partie, doch ein Lebensgefühl will nicht aufkommen. Da sehnt man sich zurück in die Zeiten von MEIN LIEBES TAGEBUCH, wo Moretti sich einfach auf seine Vespa setzte und leicht wie ein Vogel durch die menschenleeren Straßen eines sommerlichen Roms schwebte und im Handumdrehen das flüchtige Lebensgefühl einer Generation in der Ewigen Stadt einfing.

Petrov's Flu - 2020

Petrov’s Flu – 2020

Auch PETROV’S FLU, der neue Film von Kirill Serebrennikov, war heiß ersehnt. Vor drei Jahren hat er hier mit LETO begeistert. Damals saß er schon im Gefängnis, wegen Unterschlagung staatlicher Fördermittel für ein Theaterstück, das angeblich nie aufgeführt wurde. Serebrennikov bat alle Premierengäste, seine Unschuld zu bezeugen, trotzdem wurde er verurteilt und verbrachte noch 20 Monate im Hausarrest, dem wohl übergangslos die pandemie-bedingte Kontaktsperre folgte. Seiner Kreativität hat all das nicht geschadet, er inszenierte ein Theaterstück in Berlin, eine Oper in Wien und legte hier seinen zweiten Film vor. Ausreisen durfte er aber immer noch nicht. Kein Wunder, dass PETROV’S FLU nach einer Novelle von Alexey Salnikov etwas düster geraten ist. Allein schon, wenn der schwer erkältete Comic-Zeichner Petrov am Anfang des Films in einem überfüllten Bus niesen muss, packt einen das kalte Grauen. Dabei ist dies erst der Auftakt zu einem fieberhaft halluzinogenen Trip durch ein postsowjetisches Russland, in dem viele gewöhnliche Sachen sich als ausgesprochen ungewöhnlich herausstellen werden. Hier ist die Vergangenheit nie vergangen, was Serebrennikovs mit Bildern einfängt, die mal schroff und brutal, dann wieder lustig und psychedelisch sind. PETROV’S FLU ist eine fesselnde visuelle Erfahrung, die viele überfordern wird. Ukrainische Kollegen hatten hingegen ihren Spass, sie kannten das Buch und fühlten sich an viele Details aus ihrer Kindheit erinnert, die hier oft nur beiläufig zitiert werden. Für ein deutsches Publikum wird das wohl eher schwierig.

Die Geschichte meiner Frau - 2021

Die Geschichte meiner Frau – 2021

Leider gehört auch die ungarische Regisseurin Ildikó Enyedi zu den Regie-Talenten, die in Cannes nicht so recht überzeugen konnten. Mit ihrem Werk KÖRPER UND SEELE gewann sie 2017 den Goldenen Bären bei der Berlinale, dahinter bleibt THE STORY OF MY WIFE (Alamode) leider zurück. In der Verfilmung des gleichnamigen, lose an die Sage vom Fliegenden Holländer angelehnten Romans aus der Feder von Milan Fust wettet der Schiffskapitän Jakob Störr aus einer Laune heraus bei einem Treffen mit einem Geschäftspartner in einem Café: Er werde die erste Frau heiraten, die das Café betritt. Zu seinem Glück ist es die attraktive Lizzy, die zur Tür hereinschneit, und tatsächlich willigt sie ein, da sie ihren Begleiter eifersüchtig machen möchte. Doch das Glück ist nicht von Dauer. Störr wird zunehmend von seiner Eifersucht geplagt und die ist nicht ganz unberechtigt. Einer seiner Konkurrenten ist der wohlhabende Dedin, herrlich blasiert gespielt von Louis Garrel. Statt stürmische See plätschert das Werk mehr vor sich hin, eine Kürzung des rund dreistündigen in den 1920er Jahre spielenden Films hätte gut getan. Unglücklich ist auch, dass der Film in Englisch gedreht wurde, eine Erschwernis, die dem Ensemble sichtlich einiges abverlangte und die Dialoge zuweilen sehr hölzern geraten ließ. Lea Seydoux versucht ihrem nur wenig facettenreich gezeichneten Charakter so viel Tiefe wie möglich zu geben, Gijs Naber steht da mit seiner Rolle als Kapitän Störr auf noch verlorenem Posten. Schade um die schöne Ausstattung und die ansprechend in Szene gesetzte Speicherstadt, in der Teile des Films gedreht wurden.

Das Tagebuch der Anne Frank - 2021

Das Tagebuch der Anne Frank – 2021

Außer Konkurrenz lief der Zeichentrickfilm WHERE IS ANNE FRANK? des israelischen Regisseurs Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR). Das etwas pädagogische Werk richtet sich wohl eher an Schüler als an Erwachsene und wartet mit einem schönen Plot auf. Während der Zeit, in der sich Anne mit ihrer Familie in einem Haus in Amsterdam verstecken muss, bekommt sie von ihrem Vater ein Tagebuch geschenkt und fragt sich als erstes, in welcher Erzählform sie es schreiben will. Da sie es nicht in der Ich-Form schreiben möchte, erfindet sie eine fiktive Freundin namens Kitty, der sie ihre täglichen Gedanken und Gefühle erzählt. Die imaginäre Kitty wird quasi zur Hüterin des Tagebuchs, das im Amsterdamer Anne Frank-Museum in einer Vitrine ausgestellt ist. Bei einem nächtlichen, schweren Gewitter geht die Vitrine zu Bruch und Kitty wird samt Tagebuch freigesetzt. Im Museum ist sie noch unsichtbar, aber draußen wird sie lebendig und verliebt sich in einen Jungen, mit dem sie die neue Freiheit auslebt und sich für die Flüchtlinge engagiert, die hier lagern und abgeschoben werden sollen. Doch ihre Freiheit ist nicht von langer Dauer, denn bald schon wird das Tagebuch wieder zurück ins Museum gebracht und Kitty erlebt das gleiche Schicksal wie Anne Frank. Beide waren jung und neugierig auf ein Leben, dass sie nicht leben durften, Anne war gefangen in ihrem Versteck und Kitty in ihrem Tagebuch. Schön auch der Twist mit den Flüchtlingen, der den Bezug zur heutigen Zeit herstellt und den Zuschauern die zeitlose Aktualität dieses Tagebuches plausibel macht.

Lingui - 2021

Lingui – 2021

Bei so vielen europäischen Filmen wirkte LINGUI – FESTE BANDE (déjà vu Filmverleih) wie ein dicker afrikanischer Farbklecks im Programm des Wettbewerbs. Doch auch hier handelt es sich um eine europäisch-afrikanische Koproduktion, bei der sogar die Film- und Medienstiftung NRW und die FFA unterstützend mitgewirkt haben. Immerhin spielt die Geschichte in N’Djamena, der Hauptstadt des Tschad, wo die alleinerziehende Amina mit ihrer 15-jährigen Tochter Maria in einem Vorort lebt. Von ihrer Familie und der Gesellschaft verstoßen, überlebt sie, in dem sie aus dem Draht, der LKW-Reifen verstärkt, grillartige Öfen bastelt. Ihre Tochter liebt sie abgöttisch, ist sie doch das Einzige, was ihr geblieben ist. Doch als die eines Tages schwanger wird, wird das Mutter-Tochter-Verhältnis auf eine harte Probe gestellt. Denn Maria will das Kind auf keinen Fall austragen, was ihr ein ähnliches Schicksal jenseits der Gesellschaft bescheiden würde, wie ihrer Mutter. Im Tschad sind Abtreibungen verboten und die Religion lässt diese schon gar nicht zu, doch Marias Entscheidung steht fest und der Film zeigt den schweren Entwicklungsprozess von Amina, bis sie entscheidet, zu ihrer Tochter zu stehen und ihr zu helfen. Dass die ungewollte Schwangerschaft auf eine Vergewaltigung zurückzuführen ist und dass die beiden Frauen den Missetäter am Ende bestrafen und gesellschaftliche Schranken hinter sich lassen, erscheint zwar ein wenig märchenhaft, gibt dem Film aber einen Hoffnungsschimmer, den er bitter nötig hat. So lässt er sich am Ende als ein Plädoyer für Frauenrechte lesen.

Everything went fine - 2021

Everything went fine – 2021

Französische Filme waren im Wettbewerb von Cannes immer schon zahlreich vertreten. Nach dem Eröffnungsfilm von Leos Carax legte sogleich François Ozon nach. Auch er war bereits im letzten Jahr mit SOMMER ‘85 nominiert, der ja zurzeit in unseren Kinos läuft. Dafür hatte er bereits seinen nächsten Film EVERYTHING WENT FINE parat. Darin spielt André Dussolier einen Rentner, der nach einem Schlaganfall nicht mehr leben will, und so fordert er von seinen Töchtern, die sich rührend um ihn kümmern, eine Möglichkeit der Sterbehilfe für ihn zu finden. Gar nicht so einfach, denn in Frankreich sind solche Einrichtungen verboten, in der Schweiz werden sie aber schließlich fündig. Doch der Vater erzählt den Plan überall herum und ruft damit die Polizei auf den Plan. Da aber alles über einen Rechtsanwalt abgesichert wurde, kann der Krankentransport in die Schweiz nicht verhindert werden. Als der Vater um Aufschub seines Sterbetermins bittet, weil er noch etwas Wichtiges erledigen muss, schöpft der Film kurz Hoffnung, doch alle Erwartungen, dass er es sich vielleicht anders überlegt hat, werden enttäuscht.
Ozon erzählt diese recht heikle Geschichte als amüsante Farce, mit vielen ironischen Anspielungen und bissigen Seitenhieben. Dabei zeigt er sich gewohnt stilsicher und mit einem Händchen für seine Schauspieler, die dafür sorgen, dass der Film nicht zu depressiv wird. Ganz im Gegenteil, weil sich der Vater in seinem Todeswunsch so sicher ist und die Töchter ihm nur einen letzten Gefallen tun, bekommt der Film eine gewisse Leichtigkeit, die vor allem dem grandiosen Ensemble geschuldet ist. André Dussolier in einer fulminanten Altersrolle, die fast schon sein Vermächtnis sein könnte, Hanna Schygulla und Charlotte Rampling mit gekonnten Cameo-Auftritten und schließlich Sophie Marceau und Géraldine Pailhas als pfiffiges Geschwisterpaar, sorgen dafür, dass man beinahe beschwingt das Kino verlässt, unglaublich bei diesem Thema.

France - 2020

France – 2020

Eine ähnlich starke, moderne Frau ist auch France de Meurs (Léa Seydoux) in dem Film FRANCE (MFA+) von Bruno Dumont. Sie ist der elegante und begehrte Mittelpunkt der Medienwelt von Paris. Als Moderatorin einer populären Nachrichtenshow ist sie immer adrett gekleidet und gut geschminkt, egal ob sie gerade einen Guerillaführer während eines Gefechts interviewt oder bei einer Pressekonferenz im Elysee-Palast den französischen Präsidenten (in einer Gastrolle: Emmanuel Macron) befragt. Ein kleiner Unfall löst bei ihr schließlich eine Krise aus. Sie zweifelt an ihrem Job, der längst nicht mehr informieren will, sondern nur noch nach Followern und Likes schielt. France erfindet sich in dieser Krise neu, kommt zurück wie Phoenix aus der Asche…
Doch Regisseur Bruno Dumont gönnt ihr kein Happy End. Er zeigt eine Medienwelt, in der das Elend der Welt immer im Kontrast zum Glamour der Nachrichtenwelt steht. Diese inszeniert er so schrill, bunt und laut, dass sie sich selbst ad absurdum führt und prangert die völlige Abstinenz von Werten an, sowohl von beruflichen wie von menschlichen.

Zumindest genauso laut geht es auch in einem Notfall-Krankenhaus zu, in das die lesbische Comiczeichnerin Raf eingeliefert wird, nach dem sie sich bei einem Sturz den Arm gebrochen hat. Dummerweise toben draußen auf den Straßen von Paris die Gelbwesten-Proteste und so ist das Krankenhaus restlos überfüllt, dafür aber personell unterbesetzt. Da muss man schon mal acht Stunden warten, bis man dran ist, und etwa diese Zeitspanne, eine Schicht, zeigt uns Catherine Corsini in ihrem Film LA FRACTURE. Für Raf ist das Warten gar nicht das Schlimmste, muss sich doch jetzt ihre Lebensgefährtin, die sich eigentlich von ihr trennen wollte, um sie kümmern, aber im Krankenhaus liegen bei allen die Nerven blank. Egal ob Patienten, Klinikpersonal oder Gäste, alle sind schlecht drauf und lassen ihrem Frust freien Lauf. Sie diskutieren, streiten und beschweren sich. Der Film wird immer lauter, hysterischer und chaotischer, bis er nur noch schwer zu ertragen ist. Doch Respekt vor der schauspielerischen Leistung von Valeria Bruni Tedeschi, die die lauten Töne genauso überzeugend rüberbringt wie die leisen. Letzten Endes ist dieser Horror-Trip auf einer Krankenstation das Spiegelbild einer gespaltenen französischen Gesellschaft, die sich zwischen den Polen Macron und Le Pen aufzureiben scheint.

Paris, 13th District - 2021

Paris, 13th District – 2021

Ein wahrer Cannes-Regular ist Jacques Audiard, der bereits sechs Filme hier vorgestellt hat und mit DHEEPAN 2015 die Golden Palme gewann. Für seinen neuen Film PARIS 13th DISTRICT (Neue Visionen) hat er mit Celine Sciamma zusammengearbeitet, die man für ihre leisen Töne aus PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN kennt. Doch die beiden können auch anders. In einem Schwarzweißfilm, der auf den Kurzgeschichtensammlungen und Graphic Novels des New Yorker Cartoonisten Adrian Tomine beruhen, erzählen sie in drei lose miteinander verbundenen Geschichten vom Leben und der Liebe junger Menschen, die in der Hochhaussiedlung Les Olympiades (so der Originaltitel) leben. Dieses ehemalige Arbeiterviertel gilt auch als „asiatisches Viertel“, wo die taiwan-stämmige Émilie mietfrei in der Wohnung ihrer an Demenz erkrankten Großmutter lebt. Sie arbeitet in einem Call-Center, fürchtet aber um ihre Entlassung, weshalb sie sich auf die Suche nach einem Mitbewohner macht. Sie entscheidet sich für Camille, einen schwarzen Gymnasiallehrer, mit dem sie noch am ersten Abend im Bett landet. Doch die Beziehung ist nicht von langer Dauer und so wird die Jurastudentin Nora zu ihrer neuen Mitbewohnerin. Von ihr handelt der zweite Teil: Sie kommt aus Bordeaux, um hier ihr Studium zu beenden, doch wegen ihrer allzu großen Ähnlichkeit mit einer bekannten Pornodarstellerin wird sie von ihren Kommilitonen gemobbt. Nora nimmt mit dem Model Kontakt auf und arbeitet fortan in einem Immobilienbüro, wo sie wieder auf Camille trifft, der ein Jahr Auszeit als Lehrer genommen hat und hier seinem Freund bei dem Aufbau der Agentur hilft.
Geschickt lässt Audiard sich die Kurzgeschichten immer wieder überschneiden, so dass bald daraus ein einzige lange Geschichte wird. Seine grobkörnigen Schwarzweiß-Bilder zeigen uns einen Stadtteil jenseits des touristischen Paris. Die Geschichten spielen fast ausschließlich in Hochhäusern und werden zum Porträt einer Generation von Thirtysomethings, die in der Banlieu geboren sein könnten und es bis hierhin geschafft haben.

Benedetta - 2021

Benedetta – 2021

Sexualität war immer schon ein wichtiges Thema im Werk von Paul Verhoeven. Angefangen mit TÜRKISCHE FRÜCHTE und DER VIERTE MANN, mit denen er gleich zu Anfang seiner Karriere Meilensteine setzte, über seinen Hollywood-Tiefpunkt SHOWGIRLS bis hin zu ELLE, mit dem er hier vor fünf Jahren positiv überraschen konnte. Nun stellte er BENEDETTA vor, auch schon für den Wettbewerb 2020 vorgesehen und inspiriert von den Recherchen der Historikerin Judith Cora Brown, die diese in ihrem Buch “Immodest Acts” 1986 veröffentlichte. Darin beschreibt sie den Fall einer Nonne, die im Italien der Renaissance wegen eines lesbischen Verhältnisses eingekerkert und verurteilt wurde. Verhoeven lädt diese historisch verbriefte Geschichte erotisch auf und inszeniert sie beinahe wie einen Softporno aus den 1970er Jahren. In Zeiten von #Metoo mag das zwar schon wieder revolutionär sein, insbesondere wenn man bedenkt, wie viel Ärger Abdellatif Kechiche für seinen Goldene Palme-Gewinner BLAU IST EINE WARME FARBE bekommen hat. Doch ein Skandal blieb aus, zu glatt ist Verhoevens inszenierung, die kaum an den Charakteren interessiert ist, sondern mehr an weiblichen Körperlandschaften, die nie zuvor eine Nonne im Kloster gesehen haben sollte. Zwar vermischt er hier virtuos Themen, wie sexuelles Erwachen mit der Liebe zu Christus, deckt Machtstrukturen in der katholischen Kirche auf, philosophiert über Glaube und Wahrheit, um am Ende mit dem Inquisitor aus Rom nicht die Gerechtigkeit, sondern die Pest in das kleine betuliche Dorf in der Toskana zu holen.

Flag Day - 2021

Flag Day – 2021

Amerikanische Filme waren in diesem Jahr dünn gesät in Cannes, konnten aber mit ihrer Qualität punkten. FLAG DAY nennt man den amerikanischen Unabhängigkeitstag und so heißt auch der neue Film von Sean Penn. Er erzählt eine vielleicht etwas zu amerikanische Vater-Tochter Geschichte, die auf dem Klischee beruht, dass der Vater für seine Kinder immer ein Held und umgekehrt seine Kinder für ihn immer etwas ganz Besonderes sein sollten. John Vogel versucht diesem Klischee gerecht zu werden, indem er sich auf allerlei dumme Dinge einlässt, Schulden macht, ständig auf der Flucht vor Gläubigern und selten zuhause ist. Seine Frau hat längst schon einen neuen Mann, als seine Tochter Patty vor dessen Belästigungen ausreißt und zu ihm zieht. Anfangs versucht sie mit ihrem Vater neu anzufangen, ihre Beziehung soll auf Ehrlichkeit und Respekt beruhen, doch schon bald fällt der zurück in alte Rollenmuster, was schließlich in einem Bankraub mündet. Trotz Verhaftung kann er ihr so zu ihrem Journalismus-Studium verhelfen und als er wieder aus dem Knast kommt, hat seine Tochter einen Job als investigative Journalistin. Doch das Happy End ist gebrochen, denn der ewige Loser John Vogel wird sich nie ändern. Die Geschichte beruht auf den Memoiren der US-Amerikanerin Jennifer Vogel, die darin ihr Leben als Kind eines kriminellen Vaters beschreibt. Sean Penn verfilmt es als eine Art Coming of Age-Geschichte mit sich selbst und seiner Tochter Dylan in der Hauptrolle. Während die Figur des John Vogel gelegentlich etwas klischeehaft anmutet, ist Dylan Penn eine Entdeckung dieses Festivals. Sie ist der ruhende Pol eines streckenweise fahrigen Films und ihr besonnenes und ruhiges Spiel bildet den Gegensatz zum Chaos und Tempo, das ihr Vater verbreitet. Letztendlich ist sie es, die den Film im Gleichgewicht hält und ihm die Ruhe und Fokussiertheit gibt, die er braucht, um überzeugend zu sein. Auch wenn ihr Schmollmund an Scarlet Johannsen erinnert, ihr Spiel ist unprätentiös und authentisch.

Red Rocket - 2021

Red Rocket – 2021

Heiß erwartet war Sean Bakers neuer Film RED ROCKET, der erst kurz vor dem Festival fertig wurde. Sein letzter Film THE FLORIDA PROJEKT startete noch in der Nebenreihe Quinzaine des Réalisateurs und brachte Willem Dafoe eine Oscar-Nominierung ein. Sein neuer Film glänzt mit einem Laiendarsteller oder besser – wie Baker es nennt – mit einem ‘first-time actor’ in der Hauptrolle. Simon Rex spielt mit bewundernswertem Selbstbewusstsein einen abgehalfterten Pornostar, der würde-, mittel- und arbeitslos den Heimweg in eine amerikanische Kleinstadt, zu seiner Frau und Schwiegermutter antritt. Die leben von Sozialhilfe, verbringen die Tage mit Junk Food vor dem TV und sind nur wenig begeistert von seinem überraschenden Auftauchen. Erst als er verspricht, zur Miete beizutragen, gewährt man ihm Einlass. Am nächsten Morgen führt er uns auf der Suche nach Arbeit durch ein Städtchen, das geprägt ist von übergroßen Raffinerien, doch einen Job gibt es hier nirgendwo. Als ehemaliger Filmstar gilt er manchem gar als überqualifiziert. So landet er schließlich bei der hiesigen Drogen-Mafia, einem Mutter-Tochter Betrieb, und immerhin ist die Miete gesichert. Als er ein junges Mädchen kennenlernt, die hier unbedingt raus will, setzt er ihr eine Karriere als Porno-Starlet in den Kopf und schmiedet Comeback-Pläne als Pornopruduzent. Doch die Zeit des Träumens im heutigen Amerika ist längst vorbei.
Hinter dieser amüsanten erzählten Geschichte zeichnet Baker mit beängstigender Genauigkeit eine Gesellschaft, die beraubt von ihren Werten und Träumen, weder Wünsche noch Ziele hat. Sie hängen Tag für Tag vor dem Fernseher, der ihnen ein vermeintliches Leben vorgaukelt, und werden mit Sozialhilfe, die gerade mal für etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf reicht, ruhig gestellt.

Stillwater - 2021

Stillwater – 2021

Außer Konkurrenz war dann noch STILLWATER (UPI) von Tom McCarthy (SPOTLIGHT) zu sehen. Der Film wirkt sehr amerikanisch, was nicht nur an Matt Damons Performance liegt. Als breitbeinig laufender Cowboy kommt er nach Marseille, um seine Tochter aus dem Gefängnis zu boxen. Die hält aber nicht soviel von ihrem Vater, sieht in ihm eher einen Nichtsnutz. Trotzdem übergibt sie ihm ein Dokument für ihre Anwältin. Darin bittet sie um Wiederaufnahme ihres Verfahrens, wegen neuer Beweise. Sie soll ihre Lebensgefährtin umgebracht haben, kennt aber den wahren Mörder. Ein DNA-Abgleich könnte der Beweis sein. Doch ihre Anwältin lehnt ab, sie solle besser mit dem Urteil ihren Frieden machen. Ab hier übernimmt der Vater. Mit Hilfe einer französischen Freundin, um deren Tochter er sich rührend kümmert, macht er den wahren Mörder ausfindig. Der lebt in einem Viertel, das von den Arabern quasi selbst verwaltet wird. Polizei traut sich hier eher nicht hin. Genau der richtige Job für unseren Cowboy. Doch neben einigen Blessuren, kann auch er hier nichts ausrichten. Immerhin hat er den Täter kurz gesehen, und als er ihm bei einem Spiel von Olympique Marseille zufällig begegnet, kidnappt er ihn kurzerhand und gibt die DNA-Probe selbst in Auftrag. Als ihm die Polizei auf die Schliche kommt, hat er die DNA-Probe längst dem Richter zugespielt und tatsächlich, das Verfahren wird wieder eröffnet und bald kann er seine Tochter zurück nach Amerika bringen.
Was sich zunächst wie eine Kritik am europäischen Rechts- und Gesellschaftssystem liest, wird konterkariert in Amerika, wo die Weite der Landschaft wohl Beständigkeit und Stillstand symbolisieren soll. Marseille dagegen war verheißungsvoll, laut und lebendig, was beide nun vermissen, doch zurück können sie nicht. Das Leben ist nicht fair, immerhin darin sind sich Vater und Tochter einig.

The Velvet Underground - 2019

The Velvet Underground – 2019

Ein weiterer schillernder Name war Todd Haynes, der mit THE VELVET UNDERGROUND einen Dokumentarfilm außer Konkurrenz vorlegte. Sein Händchen für gute Musik- Filme hat er ja bereits mit seiner ungewöhnlichen Filmbiographie über Bob Dylan I’M NOT THERE und zuvor beim Glam-Rock-Musical VELVET GOLDMINE bewiesen. Auch sein neues Werk enttäuscht nicht. Es wartet mit exzellentem noch nie gesehenem Material auf, das aus dem von Laurie Anderson freigegebenen Lou-Reed-Archiv und dem Andy-Warhol-Archiv stammt. Warhol galt als einer der großen Förderer der Band, deren Mitglieder Lou Reed und John Cale noch heute als eine der kreativsten Köpfe der Avantgarde-Szene der sechziger Jahre gelten. Ähnlich avantgardistisch wie sein Sujet geht Haynes formal vor. Zwar kommen Mitstreiter und Zeitzeugen wie Jonas Mekas, Mary Woronov, Amy Taubin, Sterlin Morrisons Schwester oder Jonathan Richman zu Wort, doch Haynes ist kein großer Freund von Talking Heads. Vielmehr versucht er das Visuelle in der Musik der Band auf die Leinwand zu bannen. Zudem fängt er den Zeitgeist einer Ära ein, versetzt uns mit seinem üppigen Material in das pulsierende New York der sechziger Jahre. Wir begleiten die Band aber auch zu ihrer legendären Konzertreise 1968 nach Kalifornien, wo sie den dortigen Hippies voller Verständnislosigkeit begegnen.

Aline - 2020

Aline – 2020

Ein Biopic über Celine Dion, bei dem sie in keiner Form mitgewirkt hat und ihr Name durch Aline Dieu ersetzt wurde – das ist verwunderlich und der Tatsache geschuldet, dass die Regisseurin ohne den Segen des kanadischen Superstars an ihr Werk gegangen ist. Aber nicht nur der Name und die biografischen Daten wurden in ALINE, THE VOICE OF LOVE geändert, die Orte bleiben auch erstaunlich namen- und farblos. Ihre Songs werden von der Opernsängerin Victoria Sio intoniert, doch ihre Auftritte finden meist in Konzerthallen ohne Identität statt, selbst Las Vegas ist nur schwer wiederzuerkennen. Das nimmt dem Film viel Authentizität, zumal Dion ihre Songs meist nur gecovert hat. Doch konzentriert sich Regisseurin Valérie Lemercier ohnehin mehr auf die Aufstiegsgeschichte von einem Aschenputtel zur Goldmarie, sichtlich mit Euphorie und Zuneigung zu ihrem Sujet inszeniert. Lemercier macht quasi alles selbst: sie führt Regie, schrieb das Buch und spielt ihre Protagonistin in allen Altersstufen, ab ihrem fünften (!) Lebensjahr. Das hört sich nicht nur eine wenig grotesk an, es ist tatsächlich anfangs mehr als irritierend, doch insgesamt ist ALINE ein durchaus faszinierender Film, den es zu schauen lohnt. Er hält sich weitestgehend an Dions Karriereweg und legt einen Schwerpunkt auf die Beziehung der Sängerin zu ihrem Entdecker, Manager und späteren Ehemann, die sie sich auch wegen des großen Altersunterschiedes von fast 30 Jahren erst erkämpfen musste. In Cannes polarisierte das Werk, erhielt jedoch eine fünfminütige Standing Ovation nach seiner Uraufführung und nicht wenige der Premierengäste hatten Tränen in den Augen.

Große Freiheit - 2021

Große Freiheit – 2021

“Stell dir vor Liebe ist verboten und wird mit Gefängnis bestraft. Das hört sich an wie eine Distopie”, meint der österreichische Regisseur Sebastian Meise, “und dennoch war es in Deutschland für schwule Männer 122 Jahre lang Wirklichkeit. Erst 1994 wurde der §175 abgeschafft”, ergänzt Franz Rogowski, “doch die Geschichte wirkt in uns nach.” Rogowski spielt in GROSSE FREIHEIT (Piffl), dem einzigen deutschen Film in Cannes, den homosexuellen Hans, der den größten Teil seines Lebens hinter Gittern verbringt. 1945 wird er von den Amerikanern aus dem Konzentrationslager befreit und gleich wieder wegen Verstoßes gegen §175 eingesperrt. In der Haft trifft er auf Victor Bix (Georg Friedrich), einen verurteilten Mörder, der kein Hehl aus seinem Abscheu für ihn macht. Trotzdem soll er sein ständiger Lebensbegleiter werden. Denn immer wieder wird er verhaftet und 1957 soll er sogar eine Zelle mit ihm teilen. Bix revoltiert und dennoch sind die beiden die einzigen Konstanten in ihrem jeweiligen Leben. 1968 verliebt sich Franz in einen Lehrer. sie werden beide inhaftiert, doch dann behauptet er, ihn zum Sex gezwungen zu haben und kann so die Freilassung seines Geliebten erwirken. Als 1994 der §175 abgeschafft wird, kann er es nicht glauben. Plötzlich ist erlaubt, wofür er all die Jahre hinter Gitter saß. Die Justiz entlässt ihn als gebrochenen Mann, der mit dem Leben da draußen längst nichts mehr anfangen kann.
Sebastian Meise wechselt immer wieder geschickt die Zeitebenen, so dass schnell klar wird, dass hier kein Täter, sondern ein Opfer der gesellschaftlichen Umstände in Haft ist und Franz Rogowskis Spiel haut einen mal wieder um. Ihm gelingt es, in dunklen Gefängniszellen und schmuddeligen Straßenklos tiefe Emotionen, wie Respekt, Einsamkeit, Sex und wahre Liebe erfahrbar zu machen. Mit ungebrochenem Willen und egal was es kostet setzt er seine Gefühle durch und gewinnt so am Ende auch den Respekt von Viktor und vielleicht sogar etwas mehr. Der Film lief in der Nebenreihe Un Certain Regard, wo er den Jurypreis gewann.

Jury-Präsidentin in dieser Sektion war Andrea Arnold, die ihren neuen Film COW mitbrachte und in einer Cannes-Premiere zeigte. Der Dokumentarfilm zeigt das Leben der Kuh Luna und das konsequent aus deren Sicht und in ihrer Augenhöhe. Diese neue Art Dokumentarfilm, die nicht mehr beschreiben oder erklären will, sondern das Leben der Kuh beinahe subjektiv aus deren Sicht beschreibt, hat vielleicht Victor Konchalovsky erfunden, dessen Film GUNDA bald in unsere Kinos kommt. Hier allerdings handelt es sich um ein Schwein, das vielleicht ein wenig fotogener ist als eine Kuh. Dafür verzichtet er auf Menschen und Sprache, was Andrea Arnold nicht tut. In ihrem Film kommen auch Menschen vor, die den Alltag der Kuh vom täglichen Melken über das Ausbrennen der Hörner bis zur Geburtshilfe bestimmen. Dabei will Arnold gar nicht provozieren, zeigt keine Massentierhaltung, keine skandalösen Verhältnisse, sondern eher einen gut geführten Biobauernhof. Es ist ein nüchterner und ernüchternder Blick auf ein monotones Leben.

Lamb - 2021

Lamb – 2021

Einen ganz anderen, ausgesprochen skurrilen Blick auf die Tierwelt leistet sich der isländische Regisseur Valdimar Jóhannsson in LAMB, für den er Noomi Rapace überreden konnte, mal wieder einen Film in Island zu drehen. Sie spielt die Ehefrau eines Farmers, der irgendwo im Norden eine Schafzucht betreibt. Sie haben gerade ihr Kind verloren und leiden sehr unter der Kinderlosigkeit. Eines Tages fühlt sich die Frau bei der Geburt eines Schafes dem Neugeborenen so nahe, dass sie es kurzerhand adoptiert und unter Protest der leiblichen Mutter mit ins Haus nimmt. Sie nennen das Lamm Ada und behandeln es fortan wie ihr eigenes Kind, und tatsächlich lernt es bald aufrecht gehen, mit Messer und Gabel zu essen und ihm wächst sogar eine menschliche Hand. Eigentlich wäre das Familienglück perfekt, wenn nicht das Mutterschaf immer wieder blökend vorm Wohnhaus stehen würde. Und so kommt es zum Eifersuchtsdrama, bei dem die Farmerin das Schaf erschießt, um endlich Ruhe zu haben. Doch die ist ihr noch nicht vergönnt, denn völlig überraschend kommt ihr Schwager zu Besuch und kann nicht fassen, was er da sieht. Auch wenn er mit der Zeit zu dem ‘Kind’ eine freundliche Beziehung aufnimmt, kann er sich nicht mit diesem seltsamen Familienglück anfreunden. Er fragt seine Schwägerin, ob Ada weiss, dass sie ihre Mutter erschossen hat. Genau das ist der Punkt, wo er die Farm verlassen muss. Doch das unnatürliche Treiben nimmt trotzdem ein Ende, als der Leithammel die Dinge in die Hand nimmt…
Der Film bewegt sich zwischen den Polen von François Ozons RICKIE und PLANET DER AFFEN, ist aber weder Familien- noch Science Fiction-Film, sondern kann eher als Metapher gelesen werden. Schon in der Bibel steht, dass der Mensch sich die Welt untertan machen soll und so nimmt er sich ohne jede Rücksicht aus der Natur, was ihm beliebt und beschwört damit sein eigenes Schicksal herauf.

The Innocents - 2021

The Innocents – 2021

Neben dem Drehbuch zu THE WORST PERSON IN THE WORLD legte Eskil Vogt auch mit THE INNOCENTS in Cannes sein Regiedebüt in der Reihe Un Certain Regard vor. Zunächst scheint es so, als würde er dort in eine unschuldige Kinderwelt eintauchen, doch die scheinbare heile Idylle birgt ihre Tücken. Die kleine Ida ist mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester Anna in eine Stadtrandsiedlung gezogen, umgeben von viel Natur und einem kleinen Wäldchen. Anna leidet unter Autismus und so muss Ida beim Spielen auch immer ein Auge auf ihre Schwester werfen. Auf der Suche nach neuen Freunden lernen die beiden Mädchen Aisha und Ben kennen, der mit seiner alleinerziehenden Mutter zusammenlebt. Aisha hat die außergewöhnliche Fähigkeit, die Gedanken anderer lesen zu können und findet auf geheimnisvolle Weise Zugang zu Annas für alle anderen verschlossene Welt. Und auch Ben ist kein gewöhnlicher Junge. Er ist telekinetisch begabt und kann Dinge allein mit Hilfe seiner Gedanken in Bewegung versetzen. Dass er dies unter anderem daran ausprobiert, seine Mutter mit einem einen Kessel heißes Wasser zu verbrühen, lässt nichts Gutes ahnen. THE INNOCENTS entwickelt seinen Schrecken subtil und schleichend, die Kinderdarsteller beeindrucken mit ihrem nuancenreichen Spiel und ganz nebenbei erhalten wir einen Einblick in die sozialen Verhältnisse der norwegischen Gesellschaft. Subtiler Grusel für ein Arthaus-Publikum, wie wir es zum Beispiel aus MIDSOMMAR kennen. Eskil Vogt erwies sich in Cannes nicht nur als begabter Drehbuchautor, sondern auch als vielversprechendes Regietalent.

Prayers for the Stolen - 2021

Prayers for the Stolen – 2021

PRAYERS FOR THE STOLEN (Noche De Fuego) ist der erste Spielfilm der Dokumentarfilm-Regisseurin und Drehbuchautorin Tatiana Huezo, eine deutsche Koproduktion, die mit Unterstützung der Filmstiftung NRW entstand. Er spielt in einer Bergstadt in Mexiko, deren Bewohner im Steinbruch oder auf den Mohnfeldern arbeiten. Sie leben in permanenter Angst davor, vom Militär oder den Schergen des Patrons umgebracht zu werden. Einige hat es schon erwischt, andere sind geflüchtet. Der Film erzählt von drei jungen Mädchen, die sich als Jungs verkleiden, um sich einigermaßen frei bewegen zu können. Sie spielen in den verlassenen Wohnungen, mit den zurückgelassenen Haustieren und versuchen das Grauen zu begreifen, vor dem sie von ihren Eltern nur sehr kryptisch gewarnt werden. Mit zum Teil surrealen Bildern schafft die Regisseurin eine beklemmende Stimmung. Die Gefahr scheint immer präsent, wird aber nie ausgesprochen, ebenso die Gewalt, die immer Raum steht, aber nie zu sehen ist. Damit reiht sich der Film in eine Reihe düsterer Porträts der mexikanischen Gesellschaft ein, wie etwa NEW ORDER oder WAS GESCHAH MIT BUS 670, die demnächst in unseren Kinos zu sehen sind, kommt aber ohne jede Gewaltdarstellung aus.

The Crusade - 2021

The Crusade – 2021

Die 74. Ausgabe des Festival de Cannes stand ganz im Zeichen der Klimakatastrophe. So hat das Festival seinen CO²-Abdruck bestimmt und von allen Beteiligten einen entsprechenden Obolus eingefordert, der an Klimaschutzprogramme gespendet wurde. Es gab aber auch eine neue Sektion namens ‘Cinema for the Climate’ für die Filme ausgewählt wurden, die dem Klima und der Umwelt gewidmet waren. Dass dies nicht zwingend Dokumentar- und Katastrophen-Filme sein müssen, sondern auch als amüsante Komödie daherkommen können, zeigte Louis Garrel mit seinem neuen Film THE CRUSADE. Zusammen mit Laetitia Casta spielt er hier die Eltern des heranwachsenden Joseph, der sich einer Gruppe angeschlossen hat, die Sachen ihrer Eltern im Internet verkaufen, um mit dem Erlös ein Bewässerungsprojekt in der Sahara zu finanzieren. Dumm nur, dass Joseph seine Eltern nicht eingeweiht hat. So sucht seine Mutter gleich zu Beginn des Films nach einem alten Kleid von Dior und bald vermisst auch der Vater seine teuren Manschettenknöpfe. Zögerlich gesteht Joseph, die Sachen im Internet verkauft zu haben und so beginnt eine köstliche Schnitzeljagd durchs Eigenheim, auf der Suche nach Dingen, die zwar niemand mehr brauchen aber dennoch einen Wert haben. Und tatsächlich, Joseph hat ganze Arbeit geleistet und neben Schuhen und Kleidern, die seine Mutter eh nicht mehr trägt, auch einige Erbstücke, antike Möbel und die ganz alten Flaschen Wein, die keiner mehr trinkt, zu Geld gemacht. Die aufgebrachten Vorwürfe seiner Eltern pariert er geschickt, verurteilt ihr Leben im Überfluss, ihre Verantwortungslosigkeit gegenüber der Welt und verweist im übrigen darauf, dass sie seiner Generation schon genug genommen haben und es Zeit sei, mal was zurückzugeben. Im weiteren Verlauf des nur gut einstündigen Films müssen sie sich also mit den Zielen von jugendlichen Graswurzelbewegungen beschäftigen und werden dabei ständig mit ihrem eigenen schlechten Gewissen konfrontiert. Neben einem vergnügt aufspielenden Cast kommt dem Film auch das pointierte Drehbuch, an dem noch der im letzten Jahre verstorbene Jean-Claude Carrière mitgearbeitet hat, zu Gute.

Between two Worlds - 2020

Between two Worlds – 2020

Die Quinzaine des Réalisateur wurde von Emmanuel Carrère mit BETWEEN TWO WORLDS eröffnet. In der Hauptrolle spielt Juliette Binoche die erfolgreiche Schriftstellerin Marianne Winckler, die sich vorgenommen hat, hinter die Kulissen der prekären Arbeitswelt zu blicken. Der Stoff basiert auf einer wahren Geschichte. Für ihr 2010 erschienenes Buch ließ sich die Autorin Florence Aubenas vom Arbeitsamt vermitteln. Sie gab sich als von ihrem Mann nach 20 Ehejahren verlassene Nur-Hausfrau aus, die noch einmal beruflich ganz von vorn anfangen müsse. Die darauf basierenden Erlebnisse dienten als Vorlage für ihren Bestseller „Le Quai de Ouistreham“ (in Deutsch unter dem wenig charmanten Titel “Putze – mein Leben im Dreck” erschienen). Das Dock von Ouistreham war Aubenas‘ Arbeitsplatz und auch ihr Alter Ego Marianne landet dort. Es ist Abfahrtsort für die Fähre von Frankreich nach England und gemeinsam mit den anderen Frauen einer Putzkolonne hat sie frühmorgens die Aufgabe, die Kabinen in kürzester Zeit zu reinigen, bevor die Fähre zu ihrer nächsten Fahrt aufbricht. Bei ihrer Arbeit knüpft sie Kontakte mit ihren Kolleginnen und lernt nicht nur deren schwierige Arbeits-, sondern auch ihre prekären Lebensbedingungen kennen. So zum Beispiel die alleinerziehende junge Mutter Christèle, die ihre drei Kinder mit ihrem Hungerlohn durchbringen muss. Irgendwann kommt jedoch der Moment, an dem Marianne Farbe bekennen und ihre wahre Identität offenlegen muss. Während ein Teil ihres Teams Verständnis zeigt und sogar Stolz ist, dass ihr Leben auf diese Weise Beachtung findet, fühlen sich einige von Marianne getäuscht. Ein interessantes sozialpolitisches Thema, an den Carrère zwar nicht so pointiert herangeht wie es wohl ein Ken Loach getan hätte, dennoch ein sehenswerter und vielversprechender Auftakt der Quinzaine.

FEATHERS - 2021 -Regisseur Omar El Zohairy

FEATHERS – 2021 -Regisseur Omar El Zohairy

In der Reihe Semaine de la Critique wurde FEATHERS des ägyptischen Regisseurs Omar El Zohairy mit dem Nespresso Grand Prix ausgezeichnet. Hier wird ein patriarchalisch über seine Familie herrschender Vater auf der Geburtstagsfeier seiner Tochter von einem Zauberer in ein Huhn verwandelt. Leider lässt sich, wie sich herausstellt, das Ganze nicht rückgängig machen, was die Mutter des Familienclans in arge Bedrängnis bringt. Schließlich muss die Miete bezahlt und der Lebensunterhalt sichergestellt werden. Nicht vom Prinzip, aber von den Lebensbedingungen her ein schwieriges Unterfangen für eine Frau in Ägypten. So muss sie erst durchsetzen, dass auch Frauen in der nahe gelegenen Fabrik arbeiten dürfen und auch sonst ist es um die Frauenrechte nicht sehr gut bestellt. Doch mit den vertauschten Rollen, sie ist jetzt das Familienoberhaupt und er darauf angewiesen, dass seine Frau ihn füttert, beginnt sie sich zu verändern. Zunehmend verliert sie ihre Scheu, wird aktiver, und verwandelt sich in eine starke unabhängige Frau. Die Drehbuchentwicklung wurde gefördert durch den in Erinnerung an den Filmproduzenten und Verleiher Karl „Baumi“ Baumgartner vergebenen und mit 20.000 Euro dotierten Baumi Skript Development Award der Film- und Medienstiftung NRW. Herausgekommen ist ein ungewöhnliches, mit Absurditäten gespicktes Werk, das neugierig macht auf weitere Werke des ägyptischen Regie-Newcomers.

 

Robuste - Regisseurin Constance Meyer

Robuste – 2021 – Regisseurin Constance Meyer

Eröffnet wurde diese Reihe mit einem der stärksten Filme des Festivals. In ROBUSTE von Constance Meyer geht es um deformierte Menschen. Gérard Depardieu spielt sich hier im wesentlichen selbst, einen übergewichtigen, berühmten Schauspieler, der nicht nur mit seinen Herzbeschwerden und einigen beruflichen Streitigkeiten, sondern auch mit seiner Einsamkeit zu kämpfen hat. Aïssa (beeindruckend: Déborah Lukumuena) ist seine Security-Kraft, die auf ihn aufpassen soll. Jung, schwarz und von ähnlichem körperlichen Ausmaß ist sie als Ringerin erfolgreich, hat einen Freund, doch der liebt sie nicht, sondern steht nur auf ihren massiven Körper. Einmal zeigt ihr Depardieu sein Aquarium in einem dunklen Kellerraum. Es beherbergt seltene Tiefseefische, die noch nie einen Lichtstrahl gesehen haben und deswegen ihr eigenes Licht mit einer Art Rüssel, wie eine Laterne vor sich her tragen. Ein starkes Kinobild, das haften bleibt. “Etwas deformiert”, meint Aïssa und Depardieu antwortet: “Deformiert, aber wunderschön.” und fasst damit das Thema des Films präzise zusammen.
Depardieu, der schon länger nicht mehr in der offiziellen Auswahl zu sehen war, dafür aber jedes Jahr in einer dieser dem Nachwuchskino vorbehaltenen Nebensektionen dabei ist, entschuldigte seine Abwesenheit in einem kleinen Clip, der vor der Aufführung gezeigt wurde. Darin freute er sich, nicht am üblichen Rummel in Cannes teilnehmen zu müssen und bedauerte gleichzeitig, die Premiere dieses kleinen Juwels nicht gemeinsam mit dem Team und dem Publikum feiern zu können. Er hat in den vergangenen Jahren schon öfter sein Engagement für junge Nachwuchstalente, gerne auch mit Migrationshintergrund bewiesen. Er hat den Glamour gründlich satt, arbeitet lieber mit jungen Menschen, die noch frische Ideen haben.

Wenn sich ein roter Faden durch das diesjährige Programm zog, dann war es eine große Unsicherheit, die Corona hinterlassen hat. Viele Filme handeln über den Verlust gesellschaftlicher Werte, entlarven das Internet als Holzweg und beschreiben eine Jugend, der Vorbilder und Ziele abhanden gekommen ist. Diese Unsicherheit drückt sich auch in den Filmen selbst aus, die nach neuen Wegen in Form und Inhalt suchen und dabei selten rund waren. Es kam uns so vor, als müsste unser gesellschaftliches Leben jenseits der Pandemie erst noch definiert werden. In Cannes hat man einige diesbezügliche Versuche gesehen, und wenn sie auch meist nicht überzeugend waren, waren sie dennoch ein Beitrag, um sich einem Problem zu nähern, dass uns sicher noch einige Jahre begleiten wird.