70. Filmfestspiele in Cannes

In die Reihe der starken Filme von Frauen über Frauen reiht sich auch JEUNE FEMME, der Gewinner der Camera d’Or, dem Preis für den besten Erstlingsfilm, ein. Regisseurin und Drehbuchautorin Léonor Serraille inszeniert hier mit einem starken weiblichen Team – auch die Kamera, die Musik sowie das Sound- und Set- Design lagen in Frauenhand – einen Wendepunkt im Leben der 31-jährigen Paula (Laetitia Dosch). Die fliegt nach zehnjähriger Beziehung bei ihrem wohlhabenden Freund, einem erfolgreichen Fotografen, aus der gemeinsamen Wohnung. Nun versucht sie, in Paris neu Fuß zu fassen. Zunächst macht sie es dem Zuschauer nicht leicht, denn Paula ist ein impulsiver, schnell aufbrausender Charakter, der sich auch nicht davor scheut, ihre Mitmenschen zu bestehlen oder zu belügen, was sie mittlerweile auch die meisten ihrer Freundschaften gekostet hat. Selbst ihre Mutter will nichts mehr von ihr wissen. Doch ihre starke Präsenz und ihr robuster Charme lässt sie uns allmählich immer mehr ins Herz schließen. Mit der gekidnappten Katze ihres Ex unterm Arm und ohne Dach überm Kopf lässt sie sich durch die französische Hauptstadt treiben und begegnet dabei einer Reihe von Menschen. Gerade diese Begegnungen sind es, die sie allmählich zurück in ein selbstbestimmtes Leben führen. So wird das Wiedersehen mit ihrem Ex schließlich zu einer Begegnung auf Augenhöhe. Léonor Serrailles dynamische Verfilmung machte nicht nur Laetitia Dosch in Cannes zum Star, sondern wirft auch einen präzisen und ganz und gar unromantischen Blick auf die sozialen Realitäten in Frankreichs Metropole. Und macht Hoffnung, indem er dazu auffordert, sich auch in ausweglosen Situationen niemals unterkriegen zu lassen und Neues zu erproben.

Mit dem Jury-Preis wurde in der Certain Regard der neue Film von Michel Franco ausgezeichnet, der mit AFTER LUCIA bereits einmal die Sektion gewonnen hatte und vor zwei Jahren im Wettbewerb für das Beste Drehbuch von CHRONIC ausgezeichnet wurde. APRIL’S DAUGHTERS ist ein faszinierendes Familiendrama, in dem Franco erneut seine Sensibilität unter Beweis stellt, extreme Geschichten auf sehr authentische Weise in ein naturalistisch gefilmtes Setting einzubinden. Clara und Valeria sind Schwestern und leben in einem beschaulichen Strandhaus in Mexico, doch bereits in der ersten Szene wird die emotionale Schieflage zwischen beiden deutlich. Während die schöne 17jährige Valeria schamlos und hochschwanger in der Gegenwart der korpulenten Clara mit ihrem Surfer-Freund schläft, was diese sichtlich demütigt, verlagern sich die Zuschauersympathien zunächst eindeutig auf die Ältere. Doch Clara schlägt auf ihre Weise zurück, indem sie die gemeinsame Mutter einlädt, die beide aus zunächst unklaren Gründen dort zurückgelassen hat. Abril ist eine attraktive und charismatische Frau um die Vierzig und versucht zunächst scheinbar besorgt eine Lösung für die Geldprobleme und mangelnden Zukunftsperspektiven der Töchter zu finden. Bald wird jedoch klar, dass diese Frau, sichtlich neiderfüllt durch die Schönheit und Jugend der Jüngsten, ihren ganz eigenen Plan verfolgt.

Franco gelingt es hier auf ganz erstaunliche Weise einen Plot, der sehr schnell in die Telenovela kippen könnte, so eindringlich und glaubwürdig zu erzählen, dass dem Zuschauer die Luft wegbleibt. Seine vielschichtig entwickelten Figuren spielen mit Erwartungen und Stereotypen, verkehren sie zum Psychogramm einer tief gestörten Frau und zeigen die Konsequenzen für ihre Familie.

Eine ganz andere Art des Familienfilms präsentierte Sean Bakers FLORIDA PROJECT, der nach seinem großen Erfolg mit TANGERINE sogar noch eine deutliche Steigerung zeigen konnte und zum allseits genannten Festivalliebling avancierte. Dabei wurde viel diskutiert, wieso gerade so ein starker Film in der Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs versteckt wurde, anstatt ihn im Wettbewerb zu präsentieren, wo er zweifelsohne die Chance auf einige Hauptpreise gehabt hätte. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht der kleinen Moonee, die mit ihren sechs Jahren einen fröhlichen und ungestümen Blick auf das prekäre Leben in einem Motel in der Nähe von Disneyworld mitbringt. Die tätowierte Mutter hat gerade ihren Job als Stripperin verloren, doch von ihrem Kampf ums finanzielle Überleben weiß die Kleine wenig. Sie spielt lieber mit ihren Freunden in den endlosen Korridoren, über die der Manager Bobby als eine Art Vaterfigur wacht, die Willem Dafoe zu einer der besten Performances seiner Karriere entwickelt. Als ein Sturm über Florida aufzieht, zeigt das Sozialdrama schließlich auch seine bewegenden Schattenseiten. Vor allem die unglaubliche Präsenz der Kinderdarsteller, die Sean Baker über Social Media gecastet hatte, verleihen dem Film eine Kraft, die der Guardian zu Recht mit Truffauts „Taschengeld“ verglichen hat. Hier verbindet sich Filmkunst mit der Möglichkeit ein großes Publikum zu adressieren.

Der französischen Chanson-Ikone BARBARA widmete Matthieu Amalric seine eigene gleichnamige Regiearbeit, welche die Reihe Un Certain Regard eröffnete. Dabei bleibt er seinem Stil, den er schon in seinen Werken DAS BLAUE ZIMMER und TOURNÉE zelebrierte, treu: Kein geradlinig erzähltes Biopic, sondern eine über mehrere kunstvoll ineinander verschachtelte Ebenen erzählte Hommage versucht er der eigenwilligen Sängerin, die zu Beginn der sechziger Jahre ihre größten Erfolge hatte und unter anderem mit Jacques Brel, Georges Brassens und Gérard Depardieu befreundet war, nahe zu kommen. Amalric selbst spielt einen Regisseur, der einen Film über die von ihm verehrte Barbara dreht, wobei ihm jedoch zunehmend die Kontrolle über die Produktion entgleitet, die zum Fiasco zu werden droht. Die Grenzen zwischen seiner Verehrung der Sängerin und der sie verkörpernden Schauspielerin Brigitte (Jeanne Balibar in einer Doppelrolle) verschwimmen zunehmend, und die Figur des Regisseurs rückt immer mehr in den Fokus. Wie immer bei Almaric ist dies auch ein wenig selbstverliebt inszeniert. Doch wer seinen Stil mag, wird seine Freude haben und auch die Fans der Sängerin Barbara kommen auf ihre Kosten. Den Interpretationen der Chansons, elegant inszeniert und von Balibar überzeugend vorgetragen, werden am Ende immer mehr Raum zugestanden. Sie sind zweifellos eine der großen Stärken des Films und machen Lust, die Sängerin (wieder) zu entdecken. Auch eine Auszeichnung konnte der Film mit nach Hause nehmen: Er wurde als Best Poetic Narrative geehrt.

Die Reihe Quinzaine des Réalisateurs wurde mit LET THE SUNSHINE IN(Pandora), ebenfalls einem französischen Film, eröffnet. In einer Adaption von Roland Barthes’ “Fragmente einer Sprache der Liebe”, lässt Claire Denis ihre Hauptdarstellerin Isabelle (Juliette Binoche), Mutter eines erwachsenen Kindes und geschieden, auf der Suche nach der wahren Liebe durch eine erotische Midlife-Crisis flanieren. Eine Verabredung jagt die andere und irgendwie gerät Isabelle immer an den Falschen, denn eigentlich wollen die Männer immer nur das eine – doch dem stellt Claire Denis lange Gespräche zum besseren Kennenlernen voran, in denen sie peu à peu Isabelles Bedürfnisse, ihre Sehnsüchte, Wünsche und Träume formuliert, und damit das krisenhafte Portrait einer Frau in der Mitte ihres Lebens zeichnet. So etwas kennen wir in dieser Form meist nur von Männern. Denis wendet es auf ihre Protagonistin an und spiegelt damit eine moderne Welt, in der Liebe ab einem gewissen Alter keine Rolle mehr spielt. Dies alles verpackt in einer romantischen Komödie, die Isabelle scheinbar immer nur in ihren schlechten Momenten zeigt, eine schwierige Rolle, die von Juliette Binoche mit derart entwaffnender Ehrlichkeit gespielt wird, dass ihr Charakter schnell ans Herz wächst. Die französische Gilde der Drehbuchschreiber zeichnete ihn mit dem SACD-Preis aus.

Einen ebensolchen Preis erhielt auch LOVER FOR A DAY von Philippe Garrel, der, nachdem er bereits sieben Mal mit seinem Sohn Louis zusammengearbeitet hat, nun seine Tochter Esther vor die Kamera holt. Sie spielt Jeanne, die nach der plötzlichen Trennung von ihrem Freund tränenüberströmt in der Wohnung ihres Vaters Unterschlupf sucht, und da auf dessen neue Freundin Ariane trifft, die etwa in ihrem Alter, Anfang zwanzig, ist. Auf der einen Seite ist Jeanne von ihrer Stiefmutter in spe angewidert, auf der anderen kann sie gerade jetzt eine Freundin gut gebrauchen und so finden die beiden Frauen über diverse Vorlieben und Geheimnisse, die sie miteinander teilen, zueinander. Am Ende aber entwickelt Ariane einen genialen Plan, wie sie ihre neue Freundin doch noch aus dem Hause kriegt, ohne dass einer der Beteiligten Schaden nimmt. Nur ihr Vater, gespielt von Eric Caravaca, steht am Ende ähnlich verloren da, wie Juliette Binoche in LET THE SUNSHINE IN, mitten in der Midlife-Crisis. Garrel erzählt geistreich und charmant und erklärte nach der Vorführung, dass er sich vom Motiv eines umgekehrten Ödipus-Komplexes habe leiten lassen. Den hat C.C. Jung seinerzeit als Elektrakomplex postuliert, war dann aber in Vergessenheit geraten, bis ihn Simone de Beauvoir in einem ihrer Romane aufgenommen hat.

Den Preis Label Europa Cinemas in dieser Sektion gewann der italienische Beitrag A CIAMBRA von Jonas Carpignano, dessen Flüchtlings-Drama MEDITERRANEA uns noch gut im Gedächtnis ist. Diesmal porträtiert er semidokumentarisch eine Roma-Gemeinschaft in Kalabrien, in deren Zentrum der 14-jährige Pio Amato steht. Er kann nicht schnell genug erwachsen werden, trinkt, raucht und folgt seinem älteren Bruder auf Schritt und Tritt, als würde er ahnen, dass er bald in dessen Fußstapfen treten muss. Carpignano zeichnet ein realistisches wenn auch etwas überdrehtes Bild dieser Community, filmte an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern, allen voran Pio, der mit seinem entwaffnenden robusten Charme überzeugt und auf den der Regisseur bei seinem ersten Set-Besuch aufmerksam wurde, weil er ihm das Auto klaute.

Erwähnt sei auch noch TEHERAN TABU, der in der Semaine de la Critique zu sehen war und den Camino in die deutschen Kinos bringen wird. Ali Samadi Ahadi (PETTERSON & FINDUS) produzierte den Debütfilm seines in Berlin lebenden iranischen Landsmannes Ali Soozandeh, der die Lebenswege dreier selbstbewusster Frauen und eines jungen Musikers sich in Teherans Straßen kreuzen lässt. Sex, Korruption, Drogen und Prostitution gehen in dieser brodelnden Metropole einher mit strengen religiösen Gesetzen. Das Umgehen von Verboten wird zum Alltagssport und der Tabubruch zur individuellen Selbstverwirklichung. Dabei hat der Film eine stark emanzipatorische Haltung, tritt ein für Frauenrechte und führt die Logik dieses Systems ein ums andere Mal ad absurdum. TEHERAN TABU ist ein reiner Animationsfilm und viele Bilder erinnern an Marjane Satrapis Verfilmung ihrer Graphic Novels PERSEPOLIS, nur leider erreicht er nie dessen erzählerische Dichte.

Ein geradezu filmhistorischer Moment war der Auftritt von Vanessa Redgrave, die im hohen Alter von 80 Jahren ihren ersten Film als Regisseurin drehte. Ausgangspunkt ihres Engagements waren Bilder des dreijährigen syrischen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi, dessen lebloser Körper an die türkische Küste gespült wurde. Da wurde ihr klar, berichtete sie einem bewegten Publikum, dass all ihr Engagement als Uno-Botschafterin nicht ausreicht, um gegen dieses Elend vorzugehen. Deswegen beschloss sie, einen eigenen Film zu drehen und ihn auch selbst zu finanzieren. SEA SORROW ist ein Dokumentarfilm, der die derzeitige Flüchtlingskrise in einem historischen Kontext untersucht. Redgrave erzählt von ihrer Arbeit und zeigt Bilder, die sie dabei sehen musste. „Welch anderer Regisseur hätte die zeigen können?“, fragt sie und verbindet das Schicksal dieser Menschen mit ihren eigenen Erinnerungen als Flüchtlingskind im 2. Weltkrieg. Immer wieder pocht sie auf die erst 1948 von Eleanor Roosevelt postulierten Menschenrechte und trägt ihre Forderungen als professionelle Schauspielerin mit akzentuierter Stimme und klaren Worten vor. Am Ende des Films rezitiert Ralph Fiennes die Szene aus DER STURM, in der Prospero der erwachsenen Miranda von ihrer Flucht aus Mailand, als sie erst drei Jahre alt war, erzählt. Es bleibt die gleiche Quintessenz, die auch Aki Kaurismäki in Berlin, nach der Premiere seines Films DIE ANDERE SEITE DER HOFFNUNG zog: „Zeiten ändern sich, und irgendwann können auch wir wieder die Flüchtlinge sein. Da ist es eine Selbstverständlichkeit, dass der Stärkere dem Schwächeren hilft.“

In einem weiteren Special Screening stellten Bonni Cohen und Jon Shenk ihren Dokumentarfilm AN INCONVENIENT SEQUEL vor. Zehn Jahre nach Davis Guggenheims AN INCONVENIANT TRUTH liefern die beiden Filmemacher ein Update von Al Gores Umwelt-Mission und brachten den Ex-Vize-Präsidenten und Friedens-Nobelpreisträger mit auf die Bühne. Leider erzählt der Film nichts Neues, benennt die alten Probleme und ist ein wenig zu verliebt in Al Gores vielfältige Aktivitäten. Immer noch ist er unermüdlich unterwegs, um mit Vorträgen neue Weggefährten zu finden. Dabei lässt er sich von Rückschlägen nicht entmutigen, nicht einmal von der Wahl Donald Trumps. So scheint der Film ein wenig im Kreis zu laufen. Interessanter wäre es gewesen, die Schauplätze von vor zehn Jahren aufzusuchen und die Statistiken und Diagramme von damals weiter zu führen. Aber vielleicht wäre diese Botschaft dann viel zu deprimierend gewesen. So schürt der Film Hoffnung in einem Kampf, den man eigentlich, wie auch jede neue Klimakonferenz zeigt, schon verloren hat.