Einer dieser Nachrücker ist Hirokazu Kore-eda, ein Cannes-Stammgast, der noch immer auf seinen internationalen Durchbruch wartet. Er gewann die Goldene Palme für SHOPLIFTERS, in dem er sein Lieblingsthema variiert: die Familie. In NOBODY KNOWS (2004) ging es um vier Kinder, die von ihrer alleinerziehenden Mutter wegen einer neuen Beziehung verlassen werden. In LIKE FATHER, LIKE SON (2013) erfahren die Eltern, dass ihr kleiner Sohn bei der Geburt vertauscht worden ist und in UNSERE KLEINE SCHWESTER (2015) lernen drei Schwestern bei der Beerdigung ihres Vaters ihre kleine Stiefschwester kennen. Alle Familien sind typische Patchwork-Familien, denen Kore-eda in SHOPLIFTERS eine weitere hinzufügt, allerdings ist hier niemand miteinander verwandt. Die Eltern haben sich nach gescheiterten Beziehungen zusammengetan und mit der Oma die Rente gegen Fürsorge und Unterkunft getauscht. Die erwachsene Tochter arbeitet als Strip-Girl, den heranwachsenden Sohn haben sie kurzerhand entführt und das jüngste Mitglied, das kleine Mädchen Hojo gerade erst aufgenommen, weil sie von ihrer Familie vernachlässigt und offensichtlich misshandelt wurde. Sie leben unter ärmsten Bedingungen am Rande Tokios und trotz Omas kleiner Rente reicht das Einkommen der anderen nicht aus, so dass der Vater mit dem Sohn regelmäßig auf Raubzug durch die Lebensmittelläden gehen muss, um die Familie irgendwie durchzubringen. Kore-eda gelingt ein bewegendes Porträt dieser ungewöhnlichen Familie, die von ihrer Armut genauso gekennzeichnet ist wie von ihrem fürsorglichen Miteinander. Auch wenn sich am Ende Risse in dieser Familie zeigen und sie von den Sünden der Vergangenheit eingeholt wird, verurteilt Kore-eda sie nicht, sondern stellt ihnen die Sünden der modernen Gesellschaft gegenüber, gemäß dem Motto: “Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein.”
Von einem großen Familientreffen erzählt auch Asghar Farhadis EVERYBODY KNOWS (Prokino), der das Festival eröffnete. Der iranische Regisseur hat erstmals komplett in Spanien gedreht und erzählt von Laura (Penélope Cruz), die in Argentinien lebt und mit ihrer Tochter Irene zur Hochzeit ihrer Schwester nach Hause in ein spanisches Weinbaugebiet kommt. Was beginnt wie ein typischer Familienfilm, entwickelt sich in Richtung Thriller, als Irene während der Feierlichkeiten entführt wird. Man beschließt die Polizei rauszuhalten und das Problem intern zu lösen. Es steht eine Lösegeldforderung im Raum, die nur zu erbringen ist, wenn Paco (Javier Bardem) sein Weingut verkauft. Der ehemaligen Diener von Lauras Eltern hat sich mit viel Fleiß zum Weinbauer empor gearbeitet und da die beiden damals ein Verhältnis hatten, hat sie ihm vor ihrer Abreise das etwas heruntergekommene Anwesen viel zu billig vermacht, das meinen jedenfalls die anderen Familienmitglieder, genauso wie die Angestellten.
Lauras Erscheinen nach so vielen Jahren erweckt Erinnerungen, die längst vergessen waren und nun doch wieder nach oben kommen und Eitelkeiten und Besitzansprüche wecken. Durch Penélope Cruz intensive Darstellung einer Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs liegen die Nerven bald blank, sowohl in der Familie, wie auf dem Dorf, und allmählich steigert sich die Vermutung, dass in dieser Familie nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter zu finden sind.
Ging es Asghar Farhadi in seinen bisherigen Filmen (NADER & SIMIN, THE SALESMAN) um typische Probleme iranischer Familien, die meist mit dem Ehrenkodex des Mannes und der Rolle der Frau in der Gesellschaft zusammen hingen, so nimmt er sich diesmal des spanischen Machismo an. Die Familie als Kosmos für Eitelkeiten, Neid und Missgunst gebären hier ein kriminelles Potential, aber auch positive Werte wie Vaterschaft und Verantwortung kommen auf den Prüfstand und zerlegen eine Großfamilie in einen Scherbenhaufen individueller Interessen.
Auf der Pressekonferenz bekundete Farhadi nochmal seine Solidarität mit seinem Landsmann Jafar Panahi, der in Iran unter Hausarrest steht und trotz Berufsverbot die europäischen Festivals immer wieder mit neuen Filmen bestückt. In Berlin gewann er zuletzt mit TAXI TEHERAN den Goldenen Bären und nun legte er mit THREE FACES (Weltkino) ein beeindruckendes Generationen-Porträt vor, das ex aequo mit HAPPY AS LAZZARO für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurde.
Auch in seinem neuen Film spielt Panahi eine Hauptrolle und verlässt dabei selten sein Auto, das er schon für TAXI TEHERAN zu einer Art mobilem Filmstudio umgebaut hat. Vielleicht verstößt er ja so nicht gegen den Hausarrest. So folgt er seinen Protagonisten nicht, sondern lässt sie lieber ans Auto treten, nimmt sie ein Stück mit oder beobachtet sie auch nur. Dass so ein aktueller Einblick in die iranische Gesellschaft gelingen kann, wissen wir spätestens seit seinem letzten Film. Und wenn er jetzt auch noch eine spannende Geschichte über drei Generationen und drei Frauen erzählt, mag das ein aus der Not geborenes Genre generieren.
Jedenfalls fährt er eine gute Kollegin, die bekannte Fernseh-Schauspielerin Behnaz Jafari, in ein Dorf an der Grenze zu Aserbaidschan. Die beiden folgen einem mittels Videobotschaft übermittelten drastischen Hilferuf des Mädchens Marziyeh Rezaei. Sie hat eine Zusage für ein Schauspielstudium erhalten, doch ihre Eltern wollen sie lieber entsprechend der Tradition verheiraten. Hat sie sich wirklich, wie das Video suggeriert, aus Verzweiflung umgebracht? Im Dorf angekommen, um der Sache auf den Grund zu gehen, bringt Panahi noch eine dritte Frauengeneration ins Spiel. Shahrzad, vor der Revolution eine bekannte Schauspielerin und seit mehr als drei Dekaden mit einem Berufsverbot belegt, taucht nur als Silhouette auf. Vergessen und verachtet hat sie es sich trotz aller Beschränkungen nicht nehmen lassen, künstlerisch tätig zu sein und setzt ihr Talent jetzt als Malerin um. Panahi hat mit minimalen Mitteln eine starke Ode an die Kraft der Frauen geschaffen, die sich trotz aller Hindernisse nicht unterkriegen lassen und für ihre Emanzipation kämpfen. Sein Stuhl bei der Pressekonferenz blieb einmal mehr demonstrativ leer.
Auch Kirill Serebrennikov, der schon 2016 mit DER DIE ZEICHEN LIEST in Cannes auffiel, durfte nicht anreisen, weil er in Russland in Untersuchungshaft sitzt. Da alle Bemühungen des Festivals scheiterten, verwendete sich die französischen Administration für seine Anreise direkt bei Putin, der zynisch verlauten ließ: Da könne er nichts machen, weil die russische Justiz vollkommen unabhängig sei. Sein neuer Film LETO (Weltkino) – eine liebevolle Hommage an die Underground-Musikszene im Leningrad der frühen achtziger Jahre kurz vor der Perestroika – wusste dennoch zu überzeugen und markierte einen ersten frühen Höhepunkt des Festivals.
Im Mittelpunkt steht der Aufstieg des jungen Viktor Tsoi, den es tatsächlich gegeben hat, und der zu den beliebtesten und bekanntesten Musikern des Landes zählte, bis ihn ein Autounfall mit 28 Jahren aus dem Leben riss. Sein großes Vorbild: der etablierte Rockmusiker Mike Naumenko, der ihn unter seine Fittiche nimmt und ihn mit dem Musikstil des Westens – David Bowie, Lou Reed, T. Rex, Led Zeppelin und Blondie – bekannt macht. Doch Viktor will mehr sein als nur eine Kopie. Schon früh fällt der Russe mit koreanischen Wurzeln auf durch seine poetischen Texte, die Systemkritik üben und dabei ganz nah an den Menschen bleiben. Viktor findet im Laufe des Films seine eigene Stimme, die von ihm gegründete Band ‘Kino’ wird zum Sprachrohr einer sich nach Freiheit sehnenden Jugend. All dies fängt Serebrennikov ein in elegante Schwarz-Weiß-Bilder in Normalformat (1:1.33), die zuweilen unterbrochen werden durch bunte Traumsequenzen im Stil früher MTV-Videos. Trotz der Inhaftierung seines Regisseurs soll der Film in Russland im Sommer in den Kinos starten.
Ebenfalls im ungewöhnlichen schwarzweißen Normalformat drehte der Pole Pawel Pawlikowski, wie in seinem mit dem Oscar prämierten Meisterwerk IDA. COLD WAR (Neue Visionen) erzählt die Geschichte eines Paares, Wiktor und Zula, das sich beim Vorsingen einer Musik- und Tanzgruppe in den fünfziger Jahren zur Zeit des Kalten Krieges kennen – und lieben lernt – und doch nicht glücklich wird. Inspiriert wurde der Regisseur durch die Geschichte seiner eigenen Eltern, die ein ähnliches Schicksal ereilte. Wie schon in LETO spielt die Musik hier eine tragende Rolle. Sie reicht von Volksmusik bis Jazz und spiegelt den Wandel der Gefühle und Stimmungen. Weil er für sich und seine Freundin im Westen auf größere Freiheiten hofft, setzt sich Wiktor nach Paris ab, wohin ihm Zula später folgt. Doch der Sehnsuchtsort kann auf Dauer ihre Erwartungen nicht erfüllen, die Liebe hat sich abgenutzt und Zula kehrt schließlich zurück nach Polen. All dies erzählt Pawlikowski durch gezielte Schnitte extrem verdichtet, fast schon in Tableaus. Belohnt wurde er für seine Leistung mit dem Preis für die beste Regie.
Eine ungewöhnliche Lebensgemeinschaft zeigt Alice Rohrwacher in HAPPY AS LAZZARO (Piffl), der zumindest vom Setting her an ihren Vorgänger LAND DER WUNDER erinnert, der 2014 hier im Wettbewerb lief. Wieder hat sie einen kleinen Ort in den Bergen Italiens gefunden, wo diesmal die Zeit stehen geblieben scheint. Die Dorfgemeinschaft lebt und arbeitet auf dem Anwesen der Marquise de Luna, der “Königin der Zigaretten”, und wird von dieser ausgenutzt und um den Lohn ihrer Arbeit geprellt. Ein wahrhaft feudalistisches System, dass sich irgendwie bis in die 1980-er Jahre gerettet hat, weil die Bauern kein anderes System kennen. Vorgestellt wird es uns von Lazzaro, einem wahrhaft guten Menschen, der neben Obrigkeitsgehorsam und Empathie für seine Mitmenschen nie an sein eigenes Wohl denkt und wie eine Pasolini-Figur etwas naiv am Rande der Gesellschaft steht. Ohne jedwede Anklage stellt er uns diese ungleiche Gemeinschaft vor, die am Ende von den Behörden wegen Menschenverachtung aufgelöst wird. In einem traumähnlichen Schnitt von höchster Poesie lässt Rohrwacher ihren Antihelden, wie seinen biblischen Namensgeber, als Totgeglaubten, in den unwirtlichen urbanen Nischen der Gegenwart wieder auftauchen. Hier trifft er all seine Mitstreiter aus alten Tagen wieder, nur dass es ihnen heute keinen Deut besser geht. So stellt sie dem Feudalismus den Neoliberalismus gegenüber und gewinnt plötzlich eine politische Dimension, die ihre bürgerlich ländliche Attitüde und ihre poetische Erzählweise überragt.
In Mattheo Garrones (GOMORRAH) neuem Film DOGMAN (Alamode) ist der Protagonist Marcello eine ähnlich traurige Figur. Allerdings fehlt ihm die Unschuld eines Lazzaro, denn er lebt als Hundefriseur in einer Kleinstadt im Süden Italiens und bessert sein Einkommen mit kleinen Drogen-Deals auf. Außerdem muss er sich den Nachstellungen des ehemaligen Boxers Simoncino erwehren, der das gesamte Stadtviertel tyrannisiert und ihn als seinen unfreiwilligen Komplizen erwählt hat. Als Hundefriseur der traurigen Gestalt ist er so den Launen des brutalen Schlägers ausgeliefert, der ihn misshandelt oder missbraucht, um andere zu misshandeln. So wird der um seinen Frieden bemühte Marcello einerseits zum ungeliebten Dorfbewohner und andererseits zu einem Mitläufer, der seinen zweifelhaften Lohn einfordert.
Verglichen mit GOMORRAH ist Garrones Geschichte sehr klein, erst wenn man die Figur des Marcello als Metapher für die Mitläufer der Mafia versteht, gewinnt sie eine Größe, die der Film jedoch nicht auszufüllen vermag. Trotzdem ist der Darsteller-Preis für den schüchternen Marcello Fonte, der bei Scorsese und DiCaprio als Komparse debütierte, voll berechtigt, denn trotz seiner etwas mickrigen Statur läuft er hier zu wahrer schauspielerischer Größe auf.
Mit alter Stärke kehrte Oscar-Preisträger Spike Lee an die Croisette zurück. Nach seinem Debüt in Cannes 1986 mit SHE’S GOTTA HAVE IT, zeigte er drei Jahre später DO THE RIGHT THING im Wettbewerb. Großmäulig machte er den damaligen Jury-Präsidenten Wim Wenders dafür verantwortlich, dass er leer ausging. Mit BLACKkKLANSMAN (UPI) meldete er sich in Alter Stärke zurück. Seine Hauptfigur, der erste afro-amerikanische Polizist in Colorado, hat es Ende der 1970er-Jahre wirklich gegeben. Ihm gelang es, den Chef des Ku-Klux-Klans ans Telefon zu kriegen und sich nur mit Worten in die lokale Faschisten-Gruppe einzuschleusen. Mit Hilfe seines weißen Partners schafft er es, den KKK auf höchster Ebene vorzuführen. Spike Lee inszeniert das Ganze geradezu schillernd im Stile des Black-Exploitation-Kinos, das sich hier ausgesprochen kraftvoll und mit viel Humor auf der Leinwand zurückmeldet. Neben Adam Driver als weißer Undercover-Agent glänzt insbesondere David Washington (der Sohn von Denzel Washington) als eloquenter Black-Power-Cop, der mit seinem Coup das ganze Police-Department auf seine Seite zieht und rassistische Kollegen beinahe nebenher aussticht. Ein echter Spike Lee Joint, den man geniessen kann, auch wenn der Regisseur auf der Pressekonferenz nichts von dem Unterhaltungswert seines Filmes wissen wollte. “Die Lage sei ernst!” proklamierte er und ließ seinen Filmen mit Bezügen auf Charlottesville und Donald Trump enden. Sie belegen, dass sich in puncto Rassismus in den USA in den letzten fünfzig Jahren nicht allzuviel getan hat.
Auch darüber hinaus gab es eine Tendenz der Wettbewerbsbeiträge, das Medium Film für politische Botschaften zu nutzen, die leider oft wenig subtil inszeniert waren. So überraschte die Auszeichnung Nadine Labakis (CARAMEL) mit dem GROßEN PREIS DER JURY für CAPHARNAUM (Alamode), ein Drama, das sich mit den prekären Lebensumständen von Kindern im Libanon beschäftigt, deren Familien aus allen gesellschaftlichen Zusammenhängen gefallen sind. Dazu gehören ebenfalls die zahlreichen Geflüchteten, die darauf warten, von Schleppern nach Europa gebracht zu werden. Im Zentrum der Geschichte steht der kleine Junge Zain, der von seinen in Armut lebenden Eltern misshandelt wird. Als er seine Schwester nicht vor der Zwangsheirat beschützen kann, nimmt er Reißaus und findet eine neue Bleibe bei einer aus Äthiopien geflohenen Mutter eines kleinen Säuglings. Gemeinsam versuchen die drei fortan den schwierigen Lebensumständen zu trotzen, jedoch gerät die Mutter bald in Abschiebehaft, so dass die beiden Kinder allein ums Überleben kämpfen müssen.
Labaki bemüht ihr moralisches Anliegen immer wieder allzu deutlich und legt es dem Jungen schließlich als etwas unglaubwürdigen Schlussmonolog in den Mund. Negativ fällt daher auch die einseitige Zeichnung seines Schicksals auf, das sich ausschließlich auf das Elend konzentriert und wenig sparsam mit emotionalisierenden Momenten umgeht. Nichtsdestotrotz gelingt es Labaki, ihre Darsteller über weite Teile des Films auf sehr lebendige und intensive Weise in Szene zu setzen und dabei einen Eindruck der sozialen und ökonomischen Verwüstung zu geben, die sie als Ursache des Flüchtlingsstroms herausstellt.
Der PREIS FÜR DIE BESTE WEIBLICHE DARSTELLERIN wurde an Samal Esljamova für ihre Rolle in AYKA vergeben und damit ein Zeichen für die Anerkennung des Leidens unterdrückter Frauen weltweit gesetzt. Dabei ließ der Regisseur Sergey Dvortsevoy seiner Schauspielerin durch die einseitige und tendenziöse Inszenierung eigentlich viel zu wenig Raum, um ein differenziertes Spiel zu entfalten und strapazierte dadurch nicht nur sie, sondern auch die Nerven der Zuschauer. Dvortsevoy erzählt mit einer Handkamera, die der Schauspielerin viel zu nahekommt, die Geschichte einer illegal in Moskau lebenden Frau. Sie hat gerade ihr Kind entbunden und läuft aus der Klinik davon, weil sie Angst hat, ihre Arbeit zu verlieren. Den ganzen Film über blicken wir auf ihr Gesicht, das meist ausdruckslos bleibt und nur manchmal ihr Martyrium verrät, das Dvortsevoy in seiner ganzen Bandbreite darstellen möchte. Aber gerade dabei wird der Film in seiner Einseitigkeit politisch fragwürdig. Keine Hoffnung, keine Unterstützung, nicht ein einziger Moment, der Platz lässt für die Erfahrungen der Frau. Stattdessen ein nicht abreißender, immer abstruser werdender Abwärtsstrom.
Am Ende formuliert eine wütende russische Krankenschwester die Frage, auf die sich die Geschichte herunterbrechen lässt: Warum ist diese Frau überhaupt hergekommen, noch dazu hochschwanger? Hätte sie nicht einfach in ihrer Heimat bleiben können?
Als einzigen Grund nennt die Immigrierte selbst den Wunsch zu Geld zu kommen. Das allein erklärt die Motivation, so viel Grauen und Entwürdigung zu ertragen jedoch kaum. Unfreiwillig kommt der Film auf diese Weise Gegnern der Zuwanderung entgegen, indem er Rechtfertigungsnarrative anbietet und zusätzlich Vorurteile gegenüber Einwanderern schürt.
Für die spezielleren Themen schuf die Jury in diesem Jahr sogar einen ganz neuen Preis, den sie einem Film widmete, der sich in besonderer Weise künstlerisch von den anderen Beiträgen absetzte: Jean-Luc Godards LIVRE D’IMAGE. Auch hier folgt der Altmeister der Nouvelle Vague dem Konzept, das er seit GESCHICHTE(N) DES KINOS immer weiter ausgefeilt hat und denkt mit Bildern und Tönen über das Verhältnis von Film und Gesellschaft nach. Dabei schneidet er nicht einfach nur Material aus dem Fundus der Filmgeschichte zusammen, sondern beschleunigt, verlangsamt, bearbeitet und wiederholt. Was sich dabei zeigt, ist nicht nur die Verschränkung von bildlicher Repräsentation und Gewalt, sondern auch völlig unerwartete Verbindungen im kollektiven Fundus unserer visuellen Kultur.
Zudem widmet Godard einen großen Teil des Films auch dem arabischen Raum und einem Nachdenken über den Krieg in Syrien. Die Journalisten überraschte der stets abwesende mit einem Q&A über Facetime auf der Pressekonferenz. Was für eine Frage stellt man ganz spontan an Jean-Luc Godard, den legendären Film-Philosophen? Mit gebrochener Stimme gab dieser über den kleinen iphone Bildschirm geduldig allen eine Antwort, selbst wenn sie nur lautete: “Je ne sais pas.”
Für den größten Rummel sorgte natürlich die Rückkehr Lars von Triers mit seinem kunstvollen Serienmöder-Porträt THE HOUSE THAT JACK BUILT (Concorde), das sich stilistisch an NYMPHOMANIAC anschließt. Kaum ein Regisseur polarisiert so sehr wie der dänische Filmemacher, der 2011 vom Festival zur persona non grata erklärt wurde. Außer Konkurrenz durfte sein neuer Film schließlich doch im Programm laufen. Dabei gelingt ihm eine außerordentliche Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Gewalt. Bei der Premiere im Grand Théâtre Lumière gab es neben Standing Ovations auch viele Zuschauer, die den Saal noch während der Vorstellung empört verließen. Doch die Vorwürfe der Obszönität verkennen die künstlerische Leistung Lars von Triers, der mit seinem Film gerade darüber nachdenkt, was Grenzüberschreitung bedeutet (auch die eigene) und welche Formen sie annehmen kann. Auf der einen Seite steht dabei die transgressive Kraft der Kunst, die den Betrachter berührt, erschüttert und damit auch verändert. Und dann gibt es die reine Gewalt, die in ihrer Überschreitung der Grenzen eine Zerstörung des Lebens und des sozialen Zusammenhangs ist. In der Hauptfigur des Serienmörders Jack, gespielt von Matt Dillon, fällt beides zusammen. Seine Taten dokumentiert er zunächst nur fotografisch, bald aber beginnt er sie immer mehr zu Kunstwerken zu stilisieren. Er drapiert die toten Körper, präpariert und inszeniert sie. Lars von Triers Film mag in seiner expliziten Darstellung von Gewalt bis an die Schmerzensgrenze des Zuschauers gehen. Er ist jedoch in jeder Szene ein provokatives Angebot zur Diskussion. Und schafft somit einen Raum, indem über den Charakter der Gewalt nachgedacht werden kann, und die Frage, wie weit das Potential der Kunst reicht, ihre zerstörerische Kraft zu binden.
Der Koreaner Lee Chang-dong sorgte mit seinem Mystery-Drama BURNING für Furore, indem er sich an die Spitze der besten Kritikerbewertungen aller Zeiten in Cannes bei der Fachzeitschrift Screen setzte und damit Toni Erdmann ablöste. Der Überraschungserfolg basiert auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami und erzählt eine rätselhafte Dreiecksgeschichte an der Grenze von Südkorea. Zwei Männer umkreisen eine Frau und ihre Motive dabei sind unklar. Der eine träumt von einer Schriftstellerkarriere, hat jedoch noch kein Wort zu Papier gebracht und kommt aus einfachen Verhältnissen. Der andere ist ein Neureicher mit einem Hang zur Pyromanie und undurchschaubaren Absichten. Als die junge Frau schließlich spurlos verschwindet, liegt es nah, von einem Verbrechen auszugehen. Ob dieses jedoch nur in der Vorstellung des angehenden Autors stattfand oder wirklich begangen wurde, wird dabei bis zum Schluss in der Schwebe gehalten. In den zweieinhalb Stunden dazwischen bleibt daher reichlich Raum für Anspielungen auf das Klassenverhältnis in Korea, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, die Rolle der Frau. Lee Chang-dong gelingt es, die Poesie Murakamis in eine ganz eigene lyrische Erzählweise zu überführen.
Mit seinem IT FOLLOWS drehte David Robert Mitchell einen der innovativsten und bestbewerteten Horrorfilme der letzten Jahre. Jetzt legt er mit UNDER THE SILVER LAKE (Weltkino) einen L.A.-Neo-Noir-Fiebertraum vor, dem man kaum folgen kann. Das beginnt schon mit Sam, gespielt von Andrew Garfield, ein undurchsichtiger Typ, der fünf Tage vor dem Rauswurf aus seiner Wohnung steht und keinen Finger krumm macht, um etwas dagegen zu tun. Stattdessen hängt er rum, spannt mit dem Feldstecher hübschen Frauen im Pool hinterher und kommt so sogar – das FENSTER ZUM HOF-Plakat an seiner Wand lässt es schon erahnen – einem Verbrechen auf Spur. Meint er zumindest und so führen ihn seine Recherchen quer durch L.A. bis in die Hollywood Hills. Nach Logik muss man hier nicht lange suchen, dafür ist alles viel zu abgefahren, undurchsichtig und verwinkelt. Dennoch nimmt er uns mit auf einen Trip durch die Stadt und das Kino, durch Labyrinthe und Sackgassen einer Verschwörungstheorie folgend, die zwar kaum Sinn macht, aber ungeheuer unterhaltend ist. Visuell anspruchsvoll und emotional aufheischend jagt er uns so durch die ‘Stadt der Engel’ auf den Spuren von Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Thomas Pynchon.
Xavier Dolans neuer Film wurde zwar auf der Croisette vermisst, dafür war im Wettbewerb die Arbeit eines ebenso talentierten Vertreter des Queer Cinema zu sehen. Christophe Honoré, der in Cannes bereits DIE LIEBENDEN mit Catherine Deneuve sowie CHANSON D’AMOUR zeigen konnte, widmet sich in SORRY ANGEL (Salzgeber) der eigenen Lebensgeschichte und erzählt diese als schwule Coming-of-Age-Story mit viel Zeitkolorit der 90er Jahre.
Arthur (Vincent LaCoste) ist dabei als aufstrebender Filmemacher um die 20 zu sehen, der sich in den weitaus älteren Schriftsteller Jacques (Pierre Deladonchamps) verliebt. Dieser ist HIV-positiv und hat es eigentlich noch nie gewagt, sich ganz und gar emotional auf jemanden einzulassen. Doch das hält den jungen Mann nicht davon ab, ihm am Ende seines Lebens noch einmal zu zeigen, wie viele Facetten Gefühle haben können. In Arthur findet Jacques jemanden, der genauso wild und offen lebt wie er selbst und es dabei gleichzeitig doch schafft, sich völlig hinzugeben. Wie ein Reigen ist Honorés Film konzipiert und die beiden Männer tanzen von Liebschaft zu Liebschaft, ohne je völlig voneinander lassen zu können.
Ganz nebenbei entwickelt sich das Drama auch zu einer queeren Utopie: Denn Jacques hat nicht nur ganz selbstverständlich einen Sohn mit seiner besten Freundin, er lebt auch in einem familiären Verbund aus schwulen Bekannten, die gegenseitig immer füreinander da sind und neue Lebensformen ausprobieren.
Einen würdigen Abschluss fand der Wettbewerb mit dem epischen Dreistundenwerk THE WILD PEAR TREE von Nuri Bilge Ceylan. Der Filmtitel bezeichnet gleichzeitig einen Roman, den der junge Protagonist Sinan verfasst hat und dessen Inhalt dem Zuschauer bis zum Schluss nicht genauer erläutert wird. Nach dem Ende seiner Studienzeit in der Stadt steht er nun vor dem Staatsexamen als Lehrer und muss fürchten in den Osten versetzt zu werden, also ins Krisengebiet. Die Stellen im Bildungssektor sind jedoch rar geworden und es zeichnet sich somit auch eine Wende in der Kulturpolitik der Türkei ab, die Nuri Bilge Ceylan auf subtile Weise immer wieder aufgreift. Zurück im Heimatdorf an der Küste wendet sich Sinan mit seinem literarischen Debüt an Kommunalpolitiker, Förderer und andere Institutionen, aber die retten sich in Ausflüchte und Bedauern. Kein touristischer Hintergrund, kein praktischer Nutzen – warum sollte man ein Buch veröffentlichen, das ausschließlich die subjektive Erfahrung des Autors auf seine Umgebung zum Ausdruck bringt? Was selbstverständlich als Aufgabe der Kunst erscheint, wird hier in einem bildungsfeindlichen Gestus zurückgewiesen.
Der Kontrast zwischen ländlicher Bevölkerung und städtischem Bürgertum ist ein häufiges Thema Nuri Bilge Ceylans, doch „The Wild Pear Tree“ greift die aktuelle Situation in der Türkei in besonderer Weise auf. So ist Sinans Kommilitone, der Literatur studiert hat, bei den Einsatztruppen der Polizei gelandet, die für Erdogan linke Demonstranten zusammenschlagen. Mit einem geisteswissenschaftlichen Abschluss stehen die Jobaussichten schlecht, innere Sicherheit und Baugewerbe werfen dagegen einiges ab. Angelpunkt des Films bildet das Verhältnis zwischen Sinan und seinem Vater, der ebenfalls Lehrer ist, jedoch durch seine Spielsucht in Familie und Gemeinschaft ständig negativ auffällt. Der eigensinnige Sturkopf sucht bei aller Melancholie die ihn umtreibt stets seinen eigenen Weg, was den Sohn in beschämende Situationen bringt. Und doch ist sein Vater schließlich der einzige, der sich mit dem Roman, den keiner lesen will, auseinandersetzt.
Nuri Bilge Ceylans Film erzählt filmisch das, was wir in diesem literarischen Werk vermuten und er inszeniert es daher auch über die Sprache. Die endlosen Dialoge mit unterschiedlichen Dorfbewohnern werden zu einer Zustandsbeschreibung der vielfältigen inneren Spaltungen in der heutigen Türkei. Wie so oft bei Ceylan sind sie dabei stets poetisch und philosophisch. Stärker fällt jedoch in diesem Film die Sprachlosigkeit ins Gewicht, die trotz ununterbrochenen Unterhaltungen eine Zerstörung des kulturellen Raums thematisiert, hinter dem auch die Bilder zurücktreten. Hin und wieder öffnet sich die Sprache auf das Schweigen und zeigt Landschaften, wehende Haare, das gebrochene Licht auf dem Wasser. Es ist jedoch eine Poesie, die bereits einen unwiederbringlichen Verlust anzeigt.