Die 69. Filmfestspiele Berlin: Ein Festivalbericht

Es war die 18. und letzte Berlinale von Festivaldirektor Dieter Kosslick, der aller Kritik zum Trotz noch einmal ein Festival nach seinem Gusto präsentierte. Mit immer mehr Sektionen hat er die Berliner Filmfestspiele zu einem branchenübergreifenden Treffen ausgeweitet, das zugleich als Publikumsfest mit 335.000 verkauften Tickets die Zuschauer begeistern konnte. Gegen alle Versprechungen hat er diesmal auch einen Film vom Streaming-Giganten Netflix in den Wettbewerb berufen, was ihm den Protest der unabhängigen Kinobetreiber Deutschlands einbrachte. Insgesamt präsentierte sich der Wettbewerb der 69. Berlinale stärker als in vergangenen Jahrgängen, auch wenn der Eröffnungsfilm wie so oft zu schwach war.

The Kindness of Strangers - 2018

The Kindness of Strangers – 2018

Lone Scherfigs THE KINDNESS OF STRANGERS ist ein Großstadt-Märchen, in dem eine junge Frau mit ihren beiden Söhnen nach Downtown Manhattan flüchtet, um Schutz vor ihrem gewalttätigen Mann zu suchen. Nicht nur sie selbst, sondern auch die Kinder sind reichlich traumatisiert. Mittellos und ohne Bleibe stoßen sie dennoch auf große Hilfsbereitschaft. Ein modernes Märchen, eine soziale Utopie? In einem New York, das seine Identität längst durch die Gentrifizierung verloren hat, treffen Menschen aufeinander, die den unterschiedlichsten Background haben und hier zusammenfinden. Die Gastfreundschaft gegenüber Fremden stark zu machen, ist gerade im Zuge der neuen Abschottungspolitik Trumps ein ehrenwertes Motiv, die filmische Umsetzung löst jedoch allzu viele Erzählstränge in Wohlgefallen auf, so dass die Geschichte an Ernsthaftigkeit einbüßt. Starke Schauspieler wie Zoe Kazan, Andrea Riseborough und der wunderbare Bill Nighy können die holzschnittartig angelegten Figuren auch nicht davor bewahren, komplett ins Melodram abzurutschen.

Gelobt sei Gott - 2019

Gelobt sei Gott – 2019

Im Gegensatz dazu überzeugte François Ozons GELOBT SEI GOTT, der gerade in den französischen Kinos angelaufen ist  und den sexuellen Missbrauch innerhalb der Katholischen Kirche und dessen Vertuschung thematisiert. Zu Recht erhielt der bewegende Film den GROßEN PREIS DER JURY. Grundlage ist ein wahrer Fall: die Geschichte des Pfarrers Bernard Preynat, dessen Prozess wegen Missbrauchs von rund 80 Kindern Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre seit Januar läuft. Eines seiner Opfer hatte ihn zivilrechtlich angeklagt, als es entdeckte, dass dieser immer noch in der Kirche mit Kindern arbeiten durfte. Das Urteil steht Anfang März an. Ebenfalls angeklagt sind der Erzbischof von Lyon und einige seiner Mitarbeiter wegen Vertuschung eben dieser Fälle. Diese scheiterten gerade erst mit ihrem Antrag auf Verschiebung des Starttermins zur Vermeidung einer Vorverurteilung. Aktueller war die Berlinale nie. Ozon schlägt sich konsequent auf die Seite der Opfer und schildert die Ereignisse über verschiedene Zeitebenen hinweg ganz aus deren Perspektive. Anhand von drei Beispielen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zeigt er einfühlsam die durch den Missbrauch verursachten Traumata, mit denen die Betroffenen ihr Leben lang zu kämpfen haben. Erst ihr Zusammenschluss zu einer Selbsthilfegruppe macht sie stark und fähig, die Anklage durchzuziehen. „Nur wenn man an einer Wunde nicht kratzt, heilt sie“, so eine der zynisch anmutenden Rechtfertigungen eines Kirchenvertreters im Film, warum diese statt Aufklärung die Schuldigen, die stellvertretend für viele andere Fälle weltweit stehen, immer noch deckt.

Systemsprenger - 2018

Systemsprenger – 2018

Ein ähnlich sensibles Thema behandelt Nora Fingscheidts Film SYSTEMSPRENGER. So nennt man Kinder, die radikal jede Regel brechen, Strukturen konsequent verweigern und nach und nach durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Die neunjährige Bernadette oder Benni, wie sie genannt werden will, ist solch ein Fall, ein zartes Mädchen mit ungestümer Energie, das auf seine Mitschüler oder Erzieher einschlägt und die jeweilige Einrichtung zerlegt, in der sie sich gerade befindet, sei es die Schule, das Heim oder ihr Elternhaus. Dem Jugendamt ist bekannt, dass Benni im Säuglingsalter ein schweres Gewalttrauma zugefügt wurde, entsprechende Therapieplätze sind jedoch alle belegt. Am liebsten würde sie zuhause bei ihrer Mutter leben, doch die gibt sich überfordert und schiebt die Verantwortung lieber auf die öffentlichen Einrichtungen ab. Als man es am Ende mit einer 1:1-Betreuung versucht, schlägt ein Sozialarbeiter, der sonst nur mit straffällig gewordenen Jugendlichen arbeitet, eine Auszeit in einer entlegenen Waldhütte vor. Es gelingt ihm tatsächlich, eine Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen – allerdings sieht er sich schon bald darauf in gefährliche Rettungsfantasien verstrickt, die dem Kind falsche Hoffnungen machen und eine neue Eskalation provozieren.

Nora Fingscheidt setzt ihr mehrfach preisgekröntes Drehbuch zu einem intensiven Filmerlebnis um, das nicht nur psychologisch genau arbeitet, sondern in jedem Moment eine atemlose Spannung erzeugt. Dabei zeichnet sie auch ein Bild der Schwierigkeiten, mit denen das System Kinder- und Jugendhilfe zu kämpfen hat: Ein Großteil der Betreuer hat nicht die psychoanalytische Ausbildung, um Bennis inneren Leidensdruck zu verstehen, statt dessen wird disziplinarisch gegen sie vorgegangen. Die Psychiatrie wiederum verschreibt nur Pillen und misst seelischen Bindungen keinerlei Bedeutung bei. Die Sozialarbeiter, die Benni schließlich auf Augenhöhe begegnen, haben einfach nicht die Kapazität, um ihr so beizustehen, wie sie es bräuchte. Dazu müssten die Institutionen anfangen umzudenken und die Probleme nicht immer weiter ins Abseits schieben.

Die inzwischen 11-jährige Helena Zingel spielt die Kleine mit der Löwenmähne kongenial zwischen tobender Wut und tiefer Verletzlichkeit. Auch wenn man Kindern ungern den Preis für die Beste Schauspielerin verleiht, verdient hätte sie ihn allemal. So blieb es bei einem SILBERNEN BÄREN (ALFRED-BAUER-PREIS) für einen Spielfilm, der im wahrsten Sinne des Wortes neue Perspektiven eröffnet.

Ich war zuhause, aber - 2019

Ich war zuhause, aber – 2019

Ein weiterer deutscher Wettbewerbsbeitrag war Angela Schanelecs ICH WAR ZUHAUSE, ABER, der es an der Kinokasse schwerer haben wird. Für seine Kunstfertigkeit wurde er jedoch mit dem PREIS FÜR DIE BESTE REGIE ausgezeichnet. Schanelecs Drama ist nicht nur ein hoch artifizieller Film, der sich selbst als Diskurs über die Frage der Inszenierung versteht, er ist auch eine zutiefst melancholische Form der Trauerarbeit.

Dazu muss man wissen, dass Schanelec mit Jürgen Gosch verheiratet war, der vor zehn Jahren verstorben ist – und so hat auch ihre Protagonistin Astrid (Maren Eggert) vor zwei Jahren ihren Mann verloren, der ebenfalls Theaterregisseur war. Ihr Leben ist seitdem konfus und ungeordnet und sie schiebt das Übriggebliebene wie Möbelstücke hin und her, auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Dies gipfelt in einem philosophischen Dialog mit einem Kollegen des verstorbenen Mannes; über Leben und Tod und über Spiel und Wahrhaftigkeit des Körpers. Nicht nur der Titel des Films erinnert an Yasujiro Ozus „I was born, but“, die Nähe zu ihm ist für Schanelec ein Gegenpol zur Wirklichkeit, Film als Erfindung, als reine Form.

So long, my Son - 2019

So long, my Son – 2019

Unverarbeitete Trauer steht auch im Mittelpunkt des chinesischen Wettbewerbsbeitrags SO LONG, MY SON von Wang Xiaoshuai, der schon mit seinem Film “Beijing Bicycle” den Silbernen Bären sowie Preise für die Besten Nachwuchsschauspieler gewann. Auch in seinem aktuellen Beitrag wird deutlich, wie hervorragend Wang seine Akteure führen kann, denn SO LONG, MY SON lebt von dem berührenden Spiel seines ganzen Ensembles, das den Zuschauern in drei Stunden den politischen Wandel Chinas durch private Schicksalsschläge nahe bringt. Yaojun und seine Frau Liyun haben ihren kleinen Sohn verloren, der beim Spielen an einem Stausee ums Leben gekommen ist. Ein befreundetes Kind hatte ihn zu einer Mutprobe angestachelt, dessen Eltern verheimlichen diesen Umstand jedoch vor dem trauernden Paar, das den Verlust nicht verarbeiten kann. Sie adoptieren sogar einen weiteren Jungen, dem sie denselben Rufnamen geben, doch dieser spürt die gespenstische Last auf sich und wendet sich schließlich von den beiden ab. Über drei Jahrzehnte drastischer Veränderungen komprimiert Wang in seinem Film und macht die Folgen der Ein-Kind-Politik ebenso deutlich, wie die der Massenentlassungen aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels. In kunstvollen Rückblenden entfaltet er eine epische Familiengeschichte, die melodramatische Momente aufnimmt, ohne dabei je dem Kitsch zu verfallen. Die beiden Hauptdarsteller Wang Jinchung und Yong Mei spielen mit so großer Lebhaftigkeit und Sensibilität, das sie beide mit dem SILBERNEN BÄREN FÜR DIE BESTEN DARSTELLER ausgezeichnet wurden.

Pferde stehlen - 2019

Pferde stehlen – 2019

Eine bewegende Familiengeschichte erzählte auch der norwegische Beitrag OUT STEALING HORSES von Hans Petter Moland, der den gleichnamigen Bestseller-Roman von Per Petterson mit Stellan Skarsgård in der Hauptrolle adaptierte. Darin blickt er als 67-jähriger Trond voller Bitterkeit in einer verschneiten Waldhütte auf die unausgeschöpften Möglichkeiten seines Leben zurück. Wie David Copperfield zu Beginn seines Lieblingsromans Charles Dickens’ muss Trond sich fragen, ob es ihm gelungen ist, zum Held seiner eigenen Geschichte zu werden – oder ob jemand anders seinen Platz eingenommen hat. Immer wieder kommt er in Gedanken auf den alles verändernden Sommer des Jahres 1948 zurück, den er mit seinem Vater gemeinsam beim Holzfällen an der schwedischen Grenze verbracht hat. Sein bester Freund verschuldet durch unglückliche Umstände den Tod seines kleinen Bruders – und der traumatische Riss, der sich plötzlich in Tronds jugendlicher Leichtigkeit auftut, führt nicht nur durch beide Familien, sondern auch zurück in die Zeit der deutschen Besatzung. Äußerst subtil gelingt es Moland, die sprachliche Ausdruckskraft der Romanvorlage in Bilder zu übersetzen, die als Seelenlandschaften der Protagonisten fungieren. Dafür wurde sein Kameramann Rasmus Videbæk zu Recht mit dem PREIS FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG ausgezeichnet. Die beeindruckenden Naturaufnahmen der norwegischen Landschaft sind niemals mystisch oder pittoresk, sondern erzeugen im Wechselspiel mit den charismatischen Darstellern eine sogartige Spannung, in der ödipale Konflikte, Vaterverlust und die schwierige Rolle des norwegischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen einen Ausdruck finden.

God Exists, her Name is Petrunjia - 2019

God Exists, her Name is Petrunjia – 2019

Mit dem GILDEPREIS DER AG-KINO wurde von der Jury um Adrian Kutter der mazedonische Wettbewerbsbeitrag GOD EXISTS, HER NAME IS PETRUNJA ausgezeichnet, der zu den komödiantischen Highlights des Festivals gehörte. Drehbuchautorin und Regisseurin Teona Struga Mitevska setzt darin einen feministischen Kampf der besonderen Art in Szene: Als wie jedes Jahr der Priester in einem entlegenen mazedonischen Dorf ein Holzkreuz in den eiskalten Fluss wirft, fangen es diesmal nicht die aufgestachelten durchtrainierten Burschen, sondern die eigensinnige Petrunja. Dabei hatte die stämmige junge Frau gar nicht vorgehabt, das traditionell rein männliche Ritual zu stören, eher aus einer Laune heraus ist sie ins Wasser gesprungen – dennoch hat sie den Sieg davongetragen, der ihr nun von den entsetzten Dorfbewohnern streitig gemacht wird. Die Polizei nimmt sie vorsorglich in Gewahrsam, der Priester fordert vehement die Rückgabe des Kreuzes; doch Petrunja verteidigt einer Jeanne D’Arc gleich ihren Gewinn wie ein Totem. Immerhin soll dem Besitzer ein volles Jahr Glück zustehen – und warum sollte das eigentlich immer nur den Männern vorbehalten sein? Mit einer tollen Besetzung gelingt Mitevska eine liebenswerte Indie-Komödie, die in einem burlesken Dialogfeuerwerk mit kirchlicher Bigotterie und patriarchalen Strukturen aufräumt.

Ghost Town Anthology - 2018

Ghost Town Anthology – 2018

Auch der kanadische Regisseur Denis Côte legte nach “Vic+Flo haben einen Bären gesehen” wieder eine kleine Filmperle im Wettbewerb vor. GHOST TOWN ANTHOLOGY erzählt in poetischen Bildern von verschneiten Dörfern in Quebec, die der Landflucht zum Opfer gefallen sind. Schon in der ersten Szene reißt ein Bewohner abrupt das Lenkrad herum und setzt seinen Wagen gegen eine Betonwand. Die Angehörigen des jungen Mannes stehen unter Schock und müssen sich langsam damit auseinandersetzen, dass dies kein Unfall, sondern Selbstmord war. Eine psychologische Betreuerin wird von der Landesverwaltung in die kleine Gemeinde mit dem schönen Namen Irénée-les-Neiges abgestellt, aber die neurotische Bürgermeisterin heißt sie nicht willkommen – nicht zuletzt, weil sie ein Kopftuch trägt. Doch nicht alle Dorfbewohner sind so engstirnig und borniert, es gibt auch einige verschrobene Außenseiter, die empfänglich sind für das Fremde und Unbekannte. Schon bald häufen sich merkwürdige Vorkommnisse, als wie aus dem Nichts plötzlich die Toten für alle sichtbar erschienen. Côté trifft die eigenwillige Entscheidung, die Gespenster tatsächlich manifest werden zu lassen und schafft damit eine Art Parabel auf das Verdrängte, das nicht länger verleugnet bleiben kann. Seine wie immer skurril gezeichneten Charaktere sorgen dabei für eine stimmungsvoll-melancholische Atmosphäre.

Mr. Jones - 2019

Mr. Jones – 2019

Eine spannende Geschichtsstunde mit Hollywoodstars in den Hauptrollen lieferte uns dagegen Agnieszka Holland mit MR. JONES. So spielt James Norton den walisischen Journalisten Gareth Jones, der 1933 nach Moskau reist, um sich in der Ukraine Stalins Landwirtschaftsreform und die Kolchosen anzuschauen. Hier stößt er zunächst auf einen mächtigen Kontrahenten, den Stalin-Freund und Pulitzer-Preisträger Walter Duranty (Peter Sarsgaard), der nichts von einer Misswirtschaft wissen will und Fake-News im Sinne Stalins im Westen verbreitet. Mit einem Trick gelingt es Jones das Einreiseverbot in die Ukraine zu umgehen, und so macht er sich mit dem Zug auf nach Charkow. Zu Fuß durchstreift er das Land und erlebt die Schrecken einer landesweiten Hungersnot. Überall liegen Leichen im Schnee, ganze Dörfer sind zu Geisterorten geworden, in denen kein Leben mehr zu finden ist. Jones muss seine Erkenntnisse hüten und entgeht selber nur knapp dem Hungertod. Überall trifft er auf Geheimdienstler, die bemüht sind, keinerlei Nachrichten über die Katastrophe an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Denn Not und Verderben sind Folge von Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, einer Entscheidung, die einem Massenmord gleichkommt. Doch als Jones zu Hause berichtet, steht sein Wort gegen das des mächtigen Pulitzerpreisträgers, dem man mehr Glauben schenkt. Lediglich George Orwell nimmt die Berichte seines Freundes ernst und als Grundlage für seinen Roman “Aufstand der Tiere”.