Die 69. Filmfestspiele Berlin: Ein Festivalbericht

In der Reihe “Generations” sorgte ein der Dokumentarfilm ESPERO TUA (RE)VOLTA für große Begeisterung: Er  zeigt den Kampf jugendlicher Aktivisten gegen die rassistischen Strukturen in Brasilien und wurde mit dem FRIEDENSFILMPREIS sowie dem AMNESTY INTERNATIONAL FILMPREIS ausgezeichnet. Der kollektiv gedrehte Film sprüht nur so vor Energie und erklärt auf mitreißende Weise die jüngsten politischen Entwicklungen, die schließlich zur Wahl des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro geführt haben. Regisseurin Eliza Capai zeigt das Engagement von Kindern und Jugendlichen, die dagegen protestieren, dass ihre Schulen aus Kostengründen geschlossen werden sollen, obwohl gleichzeitig immer mehr Gefängnisse gebaut werden. Sie zeigt, welche Konsequenzen es hat, dass die Sklaverei in Brasilie

Your Turn - 2019

Your Turn – 2019

n erst sehr spät abgeschafft wurde und noch immer die gesellschaftlichen Strukturen und das Denken beherrscht – und wie schwer es ist, gegen den institutionellen Rassismus und Sexismus anzukommen. Damit gelingt ihr nicht nur einer der engagiertesten und aktuellsten Filme des ganzen Berlinale-Programms, sie macht auch deutlich, wie viel junge Menschen bewegen können, wenn sie ein politisches Bewusstsein entwickeln und Verantwortung für die Zukunft übernehmen, ähnlich wie es die Schülerin Greta Thunberg in Bezug auf den Klimaschutz gerade erst vorgemacht hat.

Standing Ovations in allen Vorstellungen bekam ein bewegender Dokumentarfilm, der schließlich auch die Reihe “Perspektive Deutsches Kino” gewann: In ihrem Debütfilm BORN IN EVIN (Real Fiction) begibt sich die Regisseurin und Schauspielerin Maryam Zaree, die in einem der berüchtigsten politischen Gefängnisse im Iran geboren wurde, auf eine persönliche Spurensuche. Vor genau vierzig Jahren wurde der Schah und die iranische Monarchie gestürzt. Ayatollah Khomeini, der neue religiöse Führer, ließ nach seiner Machtergreifung Zehntausende von politischen Gegnern verhaften und ermorden. Unter den Gefangenen waren auch die Eltern der Filmemacherin, die nach Jahren im Gefängnis beide überlebt haben und nach Deutschland fliehen konnten. Innerhalb der Familie konnte nie über die Verfolgung und das Gefängnis gesprochen werden. Maryam Zaree stellt sich dem jahrzehntelangen Schweigen und geht den eigenen Fragen nach dem Ort und den Umständen ihrer Geburt nach. Sie trifft andere Überlebende, spricht mit Experten und sucht nach Kindern, die wie sie im gleichen Gefängnis geboren wurden. Dabei versucht sie Antworten zu finden auf ihre persönlichen wie politische Fragen. Was sind die persönlichen Konsequenzen von Verfolgung und Gewalt, wenn dieselben Täter bis heute an Macht sind und die Opfer ihre Geschichte internalisieren?

Oray - 2018

Oray – 2018

In den Perspektiven war auch der Gewinner des GWFF Preises für den Besten Erstlingsfilm zu sehen. Mehmet Akif Büyükatalay. gewann ihn für seinen Film ORAY (Déjà-vu), in dem der titelgebende junge Muslim aus Köln hin- und hergerissen ist zwischen seiner Liebe zum Glauben und seinem Glauben an die Liebe. Jedenfalls besteht sein Hauptproblem darin, dass seine Ehefrau Burcu nicht nach Köln ziehen will und es in der Folge zu einigen existentiellen Problemen kommt, die ihre Liebe immer wieder auf die Probe stellen. Beide suchen sie Hilfe beim Iman ihrer jeweiligen Gemeinde, doch während Burcus geistlicher Beistand eher weltlich und gemäßigt ausgerichtet ist, drängt der Kölner Kollege Oray sich zu entscheiden. Jedenfalls gelingt dem blutjungen Regisseur,  selbst als Sohn strenggläubiger Eltern erzogen, ein Einblick, was hinter den Türen einer Moschee so vor sich geht, wie wir es selten im Kino gesehen haben. Von Integration ist da längst keine Rede mehr, der Film macht nachvollziehbar, wie schnell sich junge Männer hier radikalisieren können, er zeigt aber auch, wie wichtig der seelische Beistand für diese Jugendlichen ist, die oft ihren Weg erst noch finden müssen. Zejhun Demirov erhielt für seine darstellerische Leistung als Oray bereits den FIRST STEPS Award.

Lampenfieber - 2019

Lampenfieber – 2019

Weitere deutsche Filme waren in feierlichen Premieren in den Berlinale Specials zu sehen: Der Friedrichstadt-Palast in Berlin hat die größte Theaterbühne Europas und unterhält ein Kinder- und Jugendensemble, für das jährlich neue Mitglieder gecastet werden. Alice Agneskirchner begleitet in ihrem Dokumentarfilm LAMPENFIEBER, der als Berlinale Special zu sehen war, fünf dieser Kinder vom Casting bis hin zur Premiere vor großem Publikum. Ein spannender und äußerst unterhaltender Einblick in das Leben von Jugendlichen, die hier ihrem Traum nachgehen, auf der Bühne zu stehen, um ihr schauspielerisches Talent zu beweisen. Dafür nehmen sie allerlei Entbehrungen in Kauf. Die vielen Proben lassen sie immer wieder mit familiären oder schulischen Angelegenheiten kollidieren, doch Agneskirchner zeigt auch, womit sie belohnt werden. Es macht Spaß mit anzusehen, wie die Kinder ihre anfängliche Unsicherheit überwinden und Selbstbewusstsein gewinnen und eine emotionale Reise zu sich selbst unternehmen. Sie berichtet unterhaltsam und tiefgründig vom Abenteuer des Erwachsenwerdens, von Erfolgen und Rückschlägen und dem Hinfiebern auf die große Premiere. Ein Film für die ganze Familie.

Es hätte schlimmer kommen können - 2019

Es hätte schlimmer kommen können – 2019

Ähnlich sympathisch war auch das Porträt von Mario Adorf in ES HÄTTE SCHLIMMER KOMMEN KÖNNEN, mit dem Dominik Wessely dem inzwischen 88-jährigen ein kleines Denkmal setzt. Die Aufnahmeprüfung an der Münchner Schauspielschule hätte er beinahe nicht bestanden. Doch ein Lehrer erkannte sein Talent: „Er hat zwei Dinge: Kraft und Naivität.”  Zwei Eigenschaften, die offensichtlich ausreichten für eine internationale Karriere. Wessely beginnt mit Adorfs Kindheit in Mayen, seinen ersten Theatererfahrungen in München und seinem ersten Kinoerfolg in Robert Siodmaks “Nachts, wenn der Teufel kam”. Die Interviews mit Senta Berger und Margarethe von Trotta sind bezaubernd, lassen aber durchschimmern, dass er dem internationalen Jetset wie auch der Münchner Schickeria distanziert gegenüber stand, aber auch nie so recht zum Neuen Deutschen Film dazu gehörte, was ihn heute noch wehmütig werden lässt. So hat er sein Glück in Italien gefunden. Dreißig Jahre lebte er in Rom, und als die Dreharbeiten ihn zu seiner einstigen Wohnung führen, wird er vom Wirt der Kneipe gegenüber wiedererkannt. Was allein diese Szene an Menschlichkeit und Lebensfreude vermittelt, lässt ahnen, dass er hier glücklichere Jahre verbracht hat, als dies in Deutschland wohl möglich gewesen wäre.

Weniger überzeugend war Jean Michel Vecchiets Dokumentarfilm PETER LINDBERGH – WOMEN STORIES, der eher textlastig hauptsächlich in französischer Sprache gedreht ist. Vecchiet konzentriert sich dabei auf Lindberghs Biografie, angefangen im von den Deutschen besetzten Polen über seine Flucht nach Deutschland bis hin zu Stationen seiner Karriere. Offensichtlich benutzt der Regisseur ‘found footage’ aus Lindberghs großem Archiv und lässt dies alles von einem Off-Sprecher wortreich begleiten. Eine wahre Textwüste, wo man sich doch auf charakterstarke Fotos eingestellt hatte, denn mit denen ist Lindbergh berühmt geworden. Er war der erste, der es wagte, seinen Mode-Models einen eigenen Charakter zuzugestehen, und tatsächlich, wenn man seine Bildern in schwarzweiß betrachtet, wird ihr artifizieller Charakter offenbar. So bleibt der Film hinter den Erwartungen zurück und nur einmal schimmert Lindberghs Arbeitsweise auf, als es ihm in einer Szene gelingt, die wasserscheue Nichtschwimmerin Naomi Campbell zu einem Shooting im Swimmingpool zu überreden.

Weil du nur einmal lebst - 2018„Früher liefen die großen Partys immer auf Tour, heute eher zuhause, denn um am nächsten Tag fit auf der Bühne zu stehen, müssen wir eiserne Disziplin üben. Wir sind jetzt  in einem Alter, wo wir auch mal nüchtern auf der Bühne stehen dürfen.” erklärte Campino auf der Pressekonferenz zum Dokumentarfilm WEIL DU NUR EINMAL LEBST von Cordula Kablitz-Post, die Die Toten Hosen auf ihrer Tour 2018 von Deutschland über die Schweiz bis nach Argentinien begleitete.

“Die Band wurde 1992 gegründet und war nie für die Ewigkeit gedacht. Doch solange man uns noch hören will machen wir weiter.” so Campino und Andy erklärt:  “Wir sind halt nicht die großen Koryphäen … dann müssen wir halt mehr üben.” Nur der kleine Drummer Vom kann das nicht verstehen: “Ich bin der Jüngste und der Schönste und doch höre ich immer nur: Du musst arbeiten, arbeiten, arbeiten…” Überhaupt ist Kablitz-Posts Doku nicht nur ein Tour-Portrait, sondern auch ein Blick hinter die Kulissen, wo Campino oft ein eisernes Regiment führt und auch schon mal Klartext redet. “Eine Tournee ist immer ein großes Abenteuer, wo du fremde Menschen kennen lernst und einen Abend mit ihnen verbringst.” sagt er. Dagegen ist der Studioalltag große Langeweile, wo die Band in der Regel auf Campino wartet und der auf eine gute Idee. Überhaupt bekommen wir allerhand Einblicke jenseits der Tour, so  in die Arbeitsweise der Band, ihr politisches Engagement und auch allerlei Historisches, wie das legendäre Konzert im berstend vollen SO36, der Auftritt vor dem Uerige in Düsseldorf und auch ein Wiedersehen mit dem ‘wahren’ Heino. Auch wenn sich das Thema Alter wie ein roter Faden durch den Film zieht, kommt der Humor nie zu kurz und am Ende wird klar, dass es eigentlich nur darum geht, Spaß zu haben.

Mit einem besseren Statement  hätte das Festival nicht enden können und so war man froh, neben einem insgesamt eher anspruchsvollen Wettbewerb mit schwierigen Themen, auch populäre Filme gesehen zu haben, die leichter zu vermarkten sein werden.