Jubiläum am Lido: Die 75. Filmfestspiele in Venedig

Nun ist es passiert! War Venedig das erste A-Festival, das vor drei Jahren mit “Beasts of No Nation” einen Netflix-Film in den Wettbewerb berief, so fügt sich in diesem Jahr ein weiterer zweifelhafter Rekord hinzu: Mit Alfonso Cuaróns ROMA gewann erstmals ein Netflix-Film den Hauptpreis. Ungerechtfertigt ist dies nicht, denn Cuarón ist ein Meisterwerk gelungen, dessen Qualitäten nach der großen Kinoleinwand schreit. Doch der mexikanische Regisseur möchte auch das große Publikum, das er eher bei dem Streaming-Giganten vermutet.„Natürlich will ich meinen Film auf der großen Leinwand sehen, aber ich mache mir auch nichts vor, es ist ein kleiner, mexikanischer Film, ohne bekannte Schauspieler, komplett in Schwarzweiß gedreht. Da wird es nicht viele Kinos geben, die diesen Film zeigen“, so Cuarón auf der Pressekonferenz. Richtig überzeugen kann diese Begründung nicht, denn Netflix hat zwar Millionen Abonnenten, aber ob die alle seinen Film sehen wollen, darf bezweifelt werden, zumal der Streaming-Gigant gerne mit seinen Abo-Zahlen protzt, aber die Auswertungs-Ergebnisse der einzelnen Filme bis heute nicht veröffentlicht. Immerhin war Cuarón der erste, der mit Netflix eine Kinoauswertung aushandeln konnte. In welcher Form steht noch nicht fest, aber die große Leinwand ist der einzige Ort, wo dieses kinematographische Meisterwerk sich voll entfalten kann. Dass Cuarón von Jury-Chef Guillermo del Toro, der hier im letzten Jahr mit THE SHAPE OF WATER gewann, mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, kann man für eine mexikanische Seilschaft halten. Dass darüber hinaus aber auch weitere Netflix-Filme ausgezeichnet wurden, mag damit zusammenhängen, dass del Toro gerade selbst für eine Serie bei Netflix unterschrieben und offensichtlich wenig Berührungsängste mit dem Media-Giganten hat. Die Krönung lieferte jedoch David Cronenberg, der in diesem Jahr einen Goldenen Ehrenlöwen erhielt und in einer Master Class sogar den Tod des Kinos erklärte, zumal die Flachbildschirme immer größer werden. Da war es dann geradezu befreiend, als der Verband der europäischen Filmkunstkinos CICAE eine Verlautbarung veröffentlichte, in der er mehr Respekt fürs Kino forderte.

Roma - 2018

Roma – 2018

Die Netflix-Debatte war zwar eines der heiß diskutierten Themen auf dem Festival, doch im Vordergrund standen vor allem die vielen mit Spannung erwarteten Filme. Mit ROMA kehrte Cuarón nach seinem Ausflug ins All (GRAVITY) zurück zu seinen mexikanischen Wurzeln, die er schon in Y TU MAMÁ TAMBIÉN pflegte. Dies gelingt ihm mit einem Blick zurück auf seine wohlbehütete Kindheit, Erinnerungen an die großzügige Villa im Mittelklasse-Stadtteil Roma, an sein indigenes Kindermädchen, die indigene Köchin und seine Mutter, die die Familie zusammenhielt. In diese eigene, nur von Frauen bestimmte Welt, brachte lediglich sein Vater Unruhe, wenn er abends von der Arbeit zurückkam und die Probleme des Lebens mit nach Hause brachte. Davon gab es jedenfalls genug, 1970 in Mexiko. Es ist Wahlkampf und Luis Echeverría Álvarez, der gerade erst als Innenminister die Studentenunruhen mit dem Massaker von Tlatelolco niederschlagen ließ, will nun Präsident werden. Die Kinder bekommen davon kaum etwas mit, auch nicht von der Entfremdung ihrer Eltern, beides deutet Cuarón immer nur symbolisch an, und doch ist dieser Film nicht nur ein Portrait dieser Zeit. Cuarón hat die Perspektive gewechselt, er blickt als Erwachsener auf seine Kindheit, er erzählt nicht mit Kinderaugen, und so sieht er erstmals nicht nur das Kindermädchen, sondern auch die Frau in ihr, ihre Erinnerungen und Geschichten fließen so in den Film ein. Cuarón bedient sich dabei exzellenter Schwarzweiß-Aufnahmen, die in zwei Szenen ihren Höhepunkt finden: Bei einer unglaublich intensiv gefilmten, tragischen Geburt und der Rettung zweier Kinder aus den gewaltigen Fluten des Pazifik übertrifft er sich selbst und gewinnt der Schwarzweiß-Kamera ganz neue, geradezu beängstigend realistische Aufnahmen ab. Cuaron nennt dies ein modernes Schwarzweiß und meint ein digitales Bild, das einerseits von damals erzählt und dabei gleichzeitig auf das Zeitgenössische, das Jetzt, verweist. So gelingt ihm eine neuartige visuelle Erzählform.

 

The Ballad of Buster Scruggs - 2018

The Ballad of Buster Scruggs – 2018

Einer ähnlichen Ästhetik bedienen sich auch die Coen-Brüder in ihrem Episoden-Western THE BALLAD OF BUSTER SCRUGGS, den sie ebenfalls für Netflix drehten. Dabei haben sie erstmals mit einer digitalen Kamera gearbeitet und scheinen sich über das neue Medium auch ein wenig lustig zu machen, wenn sie einfache Tableaus mit gestochener Schärfe und optimaler Ausleuchtung in Szene setzen. So porträtieren sie nun den Wilden Westen, und wenn man früher bei jeder Einstellung den Staub nicht nur sehen, sondern auch spüren konnte, ist es jetzt ein Lacher, wenn der Revolverheld im weißen Anzug den Saloon betritt, und sich erst einmal den Staub aus dem Revers klopft. Das ist dann auch der einzige Staub, der in diesem Film zu sehen ist, und so führen die Coens geradezu mühelos eine solche digitale Ästhetik in der Wüste des Wilden Westen ad absurdum. Das macht Spass und bewegt sich auf dem Niveau, wie wir es von den beiden erwarten, dennoch werden die Geschichten im Laufe des Films schwächer und selbst ihr Bildwitz ermüdet auf die Dauer. Kein Wunder, sind die sechs jeweils gut zwanzig Minuten langen Episoden doch nicht fürs Kino, sondern eher fürs Smartphone zum schnellen Verkonsumieren auf dem Weg zur Arbeit konzipiert. Immerhin war der Jury das einen Silbernen Löwen fürs Beste Drehbuch wert. Offensichtlich waren die Brüder von Cuaróns Kino-Deal mit Netflix überrascht und forderten in Venedig lautstark eine Kinoauswertung auch für ihren Film. Ob er dort überhaupt hingehört, bezweifeln wir. Da gab es kinotauglichere Western zu sehen.

 

The Sisters Brothers - 2018

The Sisters Brothers – 2018

Zum Beispiel THE SISTERS BROTHERS, das englischsprachige Debüt Jacques Audiards, der sich als Franzose ausgerechnet am amerikanischsten aller Genres abarbeitete und von der Jury mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet wurde. Wie in seinen erfolgreichen Vorgängern EIN PROPHET oder DHEEPAN (DÄMONEN UND WUNDER) interessiert sich Audiard auch hier für randständige Figuren an der Grenze zwischen Gesetz und Unterwelt und wirft als Außenseiter einen überraschend humanistischen Blick auf den Wilden Westen. Der Cowboy, als archetypische Männlichkeitsfigur, erfährt durch die beiden schrägen Brüder Eli und Charlie Sisters eine äußerst unterhaltsame Revision, was vor allem dem tollen Zusammenspiel von John C. Reilly und Joaquin Phoenix zu verdanken ist. Während der Zeit des Goldrausches sind die beiden als Auftragsmörder für einen mysteriösen Mann namens Commodore unterwegs, gespielt von Rutger Hauer, der jedoch fast nie in Erscheinung tritt. Der ältere Eli ist ein bäriger, viel zu gutmütiger Typ, der davon träumt sich zur Ruhe zu setzen, aber von seinem gewalttätigen jüngeren Bruder völlig eingenommen ist, den er auch aufgrund seines schweren Alkoholproblems ständig vor sich selbst beschützen muss. Beiden scheint jedoch das Mindestmaß an Zivilisiertheit abzugehen, und so wirken sie zusammen nicht gerade wie ein Antiheldengespann, sondern eher wie zwei Proleten zu Pferde. Ihnen wird ein anderes Männer-Duo gegenübergestellt: Der sensible Wissenschaftler Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed) und der smarte Einzelgänger Morris (Jake Gyllenhaal). Letzterer wurde vom Commodore eigentlich darauf angesetzt, den Chemiker bis zum Eintreffen der Sisters Brothers in Gewahrsam zu nehmen, damit diese dann eine chemische Formel aus ihm heraus foltern können, die verschüttetes Gold in Flussbetten sichtbar macht. Doch der intellektuell interessierte Revolverheld schließt sich unerwarteter Weise mit seinem Zielobjekt zusammen – gegen die Gewalt und die beiden gesetzlosen Brüder. Somit distanziert sich Audiards Film ironisch von der Verklärung des Outlaws und lässt, typisch französisch, pointierte Dialoge über Kugeln siegen. Die Unzivilisiertheit findet sich hier weniger in der Wildnis als in der Kulturlosigkeit der männlichen Protagonisten, die Audiard schließlich auch darum ringen lässt, bessere Menschen zu werden.

 

Mit Carlos Reygadas NUESTRO TIEMPO war ein weiterer mexikanischer Film im Wettbewerb vertreten, der trotz seiner beeindruckenden Inszenierung und visueller Qualität bei der Preisverleihung leer ausging. Im Vergleich zu den rätselhaften Meisterstücken BATTLE IN HEAVEN oder POST TENEBRAS LUX ist dieser Beitrag wohl Reygadas bislang zugänglichste Arbeit. Auch hier werden Themen des Western variiert, dabei porträtiert der Film jedoch hauptsächlich eine Dreiecksbeziehung, die sich auf einer entlegenen Ranch in Mexiko abspielt. Reygadas selbst – und seine tatsächliche Ehefrau (und Editorin) Natalia Lopez – spielen ein Paar, das durch die Ankunft eines “Gringos” herausgefordert wird. Auf der Suche nach Selbstbestimmtheit und sexueller Freiheit beginnt sie eine Affäre mit dem Amerikaner Phil, die von ihrem Mann zunächst scheinbar toleriert wird – unter der Bedingung, dass sie die Familie nicht verlässt. Nach und nach entwickelt sich daraus ein intensives Machtspiel, das Reygadas mit großem psychologischem Gespür als komplexe Langzeit-Beziehungsstudie in Szene setzt. Die Sexualität als unzähmbare Naturgewalt und ihr Konflikt mit sozialen Bindungen ist ein Hauptthema im Schaffen des mexikanischen Ausnahme-Regisseurs und nimmt auch hier philosophische Dimensionen an, die der am Mainstream orientierten Jury wohl leider zu eigensinnig waren.

 

22 Juli - 2018

22 Juli – 2018

Neben ROMA konnte jedoch noch eine weitere Netflix-Produktion auch künstlerisch überzeugen: Nachdem auf der Berlinale bereits der Film UTOYA 22. JULI zu sehen war, zeigte der britische Regisseur Paul Greengrass mit 22 JULY nun seinen Blick auf die Anschläge von Oslo. Was zunächst wie ein ausbeuterischer Hype um das tragische Ereignis wirkt, erweist sich jedoch als ideale Ergänzung zum aktuellen Film des Norwegers Erik Poppe, denn während dessen Version den Fokus auf affektive Dimensionen der Gewalt und die unmittelbare Erfahrung der Opfer legte und bewusst jede weitere Kontextualisierung außen vor ließ, eröffnet Greengrass’ Film einen ganzen Diskurs um rechte Gewalt und ihre Folgen. Den Täter Breivik dabei von einem Schauspieler verkörpern zu lassen, ist eine gewagte Entscheidung – mit Anders Danielsen Lie, den man aus Filmen Joachim Triers kennt, wurde jedoch eine hervorragende und angemessene Besetzung gefunden. Noch deutlicher als in der Fassung von Poppe wird hier ein Statement gegen rechte Gewalt formuliert, das sich nicht nur auf die Anschläge von 2011 beschränkt, sondern diese als Teil einer größeren rechten Agenda benennt. Breivik war schließlich nicht nur ein überzeugter Mörder, er hat ein umfangreiches Manifest gegen ein multikulturelles Europa geschrieben, das er vor Gericht zum Teil verlesen hat. Neben dem Ministerpräsidenten Norwegens und dessen umsichtiger Reaktion auf die Taten spielt im Film auch der Pflichtverteidiger, Geir Lippestad, eine größere Rolle. Seine Einwilligung, Breivik vor Gericht zu verteidigen, hat ihm viele Anfeindungen eingebracht, dennoch wird sie hier als Entscheidung für die demokratischen Grundwerte deutlich. Im Vordergrund bleibt dabei das Verhältnis zwischen Täter und Opfern, dem Greengrass mit großer Sensibilität und einem hervorragend geschriebenen Drehbuch auch psychologisch Kontur verleiht. Ein Junge, der den Anschlag überlebt hat, findet nach langem Aufenthalt im Krankenhaus, noch immer schwer versehrt, schließlich die Kraft, Breivik im Gerichtssaal mit seiner Aussage zu konfrontieren. Seine Rede gehört zu den bewegendsten Momenten des ganzen Festivals – und auch hier wäre die Frage, ob so ein Augenblick seine Kraft nicht besser in der Gemeinschaft eines Kinosaals entfalten sollte, statt auf dem heimischen Fernseher.