Jubiläum am Lido: Die 75. Filmfestspiele in Venedig

Peterloo - 2017

Peterloo – 2017

Wer sich in Cannes fragte, warum Mike Leighs lange erwarteter neuer Film PETERLOO nicht eingeladen wurde, kann sich nach der Premiere in Venedig einen Reim darauf machen. Leigh erzählt in epischer Breite von einem Massaker, bei dem 1819 in Manchester 60.000 Menschen gegen wachsende Armut und fehlende Demokratie demonstrierten. Damals wurde ein friedlicher und gewaltfreier Protest von Regierungskräften in ein blutiges Abschlachten der eigenen Bevölkerung verkehrt. Sicherlich ist dies ein dunkles Kapitel in der britischen Geschichte und Gründungsmoment der Zeitung “The Guardian” – Leighs Hass auf die Autoritäten ist in diesem Film deutlich zu spüren. Doch genau das ist es, was den Film für Nicht-Briten schwierig macht, denn Leigh zeichnet den Konflikt mit den Herrschaftsstrukturen minutiös nach, ohne auf eine universellere Ebene zu kommen und führt so viele Charaktere ein, dass Geschichtsunkundige am Ende komplett den Überblick verlieren. Was bleibt, ist Leighs Wut und ein furchtbares Gemetzel, ein Film, den man eher Ken Loach zugetraut hätte, doch der hat selbst bei den härtesten Themen nie seinen Humor verloren, während man Leigh nur zu Gute halten kann, dass sein Herz für die richtige Sache schlägt.

 

At Eternity´s Gate - 2018

At Eternity´s Gate – 2018

Ein absolutes Highlight war dagegen Julian Schnabels AT ETERNITY’S GATE. Die Idee einen Film über van Gogh zu drehen kam ihm, als er mit seinem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière eine van Gogh-Ausstellung im Pariser Musée d’Orsay besuchte. Jedes einzelne Bild habe zu ihnen gesprochen, erzählte Schnabel in Venedig, und als sie nach dem Besuch im Café saßen, hatten sie das Gefühl auf Zeitreise gewesen zu sein und zwei Stunden mit van Gogh verbracht und ihn dabei kennen und lieben gelernt zu haben. Genau dieses Gefühl wollte Schnabel auf die Kinoleinwand bringen, und mit Willem Dafoe fand er einen kongenialen Schauspieler, der nun hoffentlich endlich mal seinen längst verdienten Oscar bekommt. So gesehen hält Schnabel seinen Film nicht für eine Biographie, sondern für seine subjektive Vorstellung. Dabei leistet er sich einen erfrischend freien Umgang mit der Wahrheit, denn Fakten zu dem Künstler-Genie gibt es nur wenige, dafür viele obskure Geschichten, wie z.B. über sein abgeschnittenes Ohr oder auch seine Todesumstände. Für Schnabel ist klar, dass es Mord war, doch um die Wahrheit geht es ihm gar nicht. “Wahrheiten gab es immer schon viele, nicht erst seit Kurosawas RASHOMON, und wenn jemand nicht an Mord glaubt, dann ist es eben nur ein Film, mein Film.” Für den hat er viele Stillleben, Landschaftsbilder und Porträts aus van Goghs Gemälden genommen, auf der Kinoleinwand zu neuem Leben erweckt, um sie anschließend von Willem Dafoe wieder malen zu lassen. Für ihn sei das eine spannende Zeit gewesen, berichtete Dafoe auf der Pressekonferenz, denn malen wollte er immer schon einmal, und Julien konnte es ihm beibringen. Auch wenn viele im Film verwendete Bilder von Schnabel selbst nachgemalt wurden und Dafoe nur die letzten Pinselstriche tätigt, wirkt er absolut echt und glaubwürdig. Ganz langsam taucht er in seine Rolle ein und irgendwann meint der Zuschauer mit dem tatsächlichen van Gogh unterwegs zu sein. Er lernt seinen Charakter lieben, folgt seinen manchmal etwas verworrenen aber höchst interessanten Gedanken, die Schnabel aus seinen Briefen entnommen und Dafoe in den Mund gelegt hat. So gesehen ergeht es dem Zuschauer ähnlich wie den Machern bei ihrem Ausstellungsbesuch, Schnabel schenkt uns zwei wunderbare Stunden, fernab von unserer Zeit in einer anderen Welt, an einem anderen Ort, lässt uns eintauchen in seinen van Gogh-Kosmos, eine meditative Erfahrung künstlerischer Transzendenz.

 

Dagegen hatte es natürlich der zweite Künstlerfilm im Wettbewerb schwer. Dennoch schlug sich Florian Henckel von Donnersmarcks WERK OHNE AUTOR beachtlich. Von der internationalen Presse überwiegend begrüßt, wurde er von der deutschen Presse vielfach gescholten und ging am Ende leer aus.

Inspiriert von der Vita des Künstlers Gerhard Richter versucht von Donnersmarck den ganz großen Wurf. Über drei Epochen deutscher Geschichte hinweg erzählt er eine tragische Lebensgeschichte, eine vielleicht etwas zu blass geratene Liebesgeschichte, und versucht dabei gleichzeitig, das Wesen der Kunst zu erklären und aufzuzeigen, was sie für unser aller Leben bedeutet.

Werk ohne Autor - 2018Kurt ist noch ein kleiner Steppke, als seine Tante mit ihm eine Ausstellung für “entartete Kunst” in Dresden besucht. Sie war die erste, die sein künstlerisches Talent erkannte und ihn bereits als Kind förderte. Ihre eigene künstlerische Sensibilität wurde hingegen von den Nazis als Schizophrenie ausgelegt. Sie wurde zu “unwertem Leben” erklärt und von Professor Seeband von ihrem “nutzlosen Dasein” in einer Gaskammer “befreit”. Nach dem Krieg in Ost-Berlin kreuzen sich erstmals die Wege der beiden Männer, ohne dass sie einander erkennen. Während es der Gynäkologe Seeband geschafft hat, mit der Hilfe eines russischen Generals wieder als Frauenarzt praktizieren zu dürfen, schlägt sich Kurt als junger Kunststudent mit dem neuen Geist der sozialistischen Arbeiterkultur herum. Auch wenn er mit dieser nicht so recht warm wird, trifft er hier immerhin die Mode-Studentin Elisabeth (Paula Beer), die Tochter Seebands. Instinktiv ist Seeband gegen diese Beziehung, kann ihre Heirat aber nicht verhindern und auch nicht ihren Wechsel in den Westen. Kurt geht an die Düsseldorfer Kunstakademie, wo etwas Neues ausprobiert wird: die Zero-Kunst. Hier geht es darum, alles Vergangene hinter sich zu lassen und wieder bei Null anzufangen, aber auch dieses Prinzip funktioniert für Kurt nicht. Erst ein Professor mit Faible für Fett und Filzhut öffnet ihm die Augen, fordert ihn auf etwas zu machen, das ihn persönlich bewegt. Als Seebands ehemaliger Nazi-Chef in den Nachrichten enttarnt wird und Kurt dessen Geschichte nachgeht, verarbeitet er sein folgenschweres Verhältnis zu seinem undurchsichtigen Schwiegervater in einem Kunstwerk, das die wahre Schuld an den verhängnisvollen Ereignissen in seinem Leben in einem Gemälde ans Licht bringt – ohne dass dies dem Maler bewusst wäre. Nicht er schafft als Autor ein Kunstwerk, die Wahrheit teilt sich selbst im Abstrakten mit, und der Künstler hat die Sensibilität die von ihr ausgehenden Kräfte und Erschütterungen zum Ausdruck zu bringen. Diese Pointe, ebenso wie die lebhaft inszenierte Kunstszene in der Düsseldorfer Akademie, machen den Film zu einem Highlight für das Publikum und lassen über einige etwas hölzerne Momente einer typischen deutschen Geschichts-Inszenierung im Studio hinwegsehen. Der angedeutete Beuys erzählt von seinem Flugzeugabsturz im Krieg und von Krim-Tataren, die ihn in Filzdecken hüllten und seine Wunden mit Fett behandelten. Zwei Werkstoffe, denen er in seiner Kunst immer treu geblieben ist. Er lehrt Kurt, dass Kunst nie einen Zweck erfüllen kann, sondern immer die Verarbeitung von persönlich Erlebtem ist. Sie ist das Gegenteil von Wegsehen, sie schaut hin und hat die Aufgabe, Menschen die Augen zu öffnen.

So wird WERK OHNE AUTOR auch trotz zynischer Kommentare der deutschen Presse das Publikum mit großer Sicherheit begeistern, denn sein Statement ist keineswegs so banal, wie es einige Journalisten darstellen wollten. Gerade angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen stellt sich die Frage, welche Rolle Kunst in der Adressierung von Gewalt einnehmen kann. Bei den Filmfestspielen in Venedig war dies ein Thema, das sich immer wieder durch die Beiträge zog, auch wenn es in nur wenigen Filmen schlüssig und mit eben jener künstlerischen Sensibilität schließlich auch umgesetzt wurde.

Ohne Zweifel hat Alberto Barbera in diesem Jahr sein stärkstes Line Up, und so waren die Erwartungen, mit denen man nach Venedig fuhr, reichlich hoch gesteckt. Diese konnten die meisten Filme nicht einlösen. Trotz der vielen bekannten Namen hielten sich ganz große Entdeckungen in Grenzen. Vieles war zu lang, nicht wirklich ergiebig oder einfach nur kommerziell. Letzteres betrifft vor allem die amerikanischen Oscar-Anwärter, die mit großer Markt-Power auch auf den deutschen Markt kommen und die Arthäuser vor die Frage stellen werden, ob sie an deren Erfolg partizipieren oder lieber künstlerisch wertvollere Filme spielen wollen. Diese gab es in Venedig auch zu sehen, selbst wenn man sie in der zweiten Reihe suchen musste.