Die 76. Internationalen Filmfestspiele von Venedig – Ein Festivalbericht

Zum ersten Male seit 2013 eröffnete heuer das Festival nicht mit einem amerikanischen Film. Hirokazu Kore-eda, der noch im letzten Jahr in Cannes die Goldene Palme für SHOPLIFTERS holte, hatte die Ehre, seinen neuen Film THE TRUTH vorstellen zu dürfen. Es ist sein erster Film außerhalb Japans in einer für ihn fremden Sprache gedreht und geht mit seiner illustren Besetzung schon fast als europäischer Film durch. Und so machte er mit seinen Darstellern Catherine Deneuve, Juliette Binoche und Ethan Hawke eine mindestens so gute Figur auf dem roten Teppich wie vor Jahresfrist Damien Chazelle (“Aufbruch zum Mond”) mit Ryan Gosling und Claire Foy. Das allein stellt natürlich noch keinen Bruch mit Hollywood dar, zumal das Festival sich in den vergangenen Jahren als Plattform für das amerikanische Kino gerierte, doch der Tonfall in der amerikanischen Presse gibt zu denken. Der “Hollywood Reporter” meinte, dass sich Venedig unter Festivalleiter Barbera zum "fuck you festival" entwickelt habe und warf ihm fehlende ‘political correctness’ vor und Indiewire irrlichterte sogar, dass man in unserer Zeit am besten überhaupt keine Filme von kontroversen Regisseuren auf Festivals zeigen sollte. Da weht schon ein merkwürdiges Kulturverständnis über den Atlantik, für das Venedig die passende Antwort gab. Denn die amerikanischen Blockbuster waren in diesem Jahr dünn gesät. Wenn auch qualitativ anspruchsvoll, konkurrierten sie mit einem starken europäischen Kino, das insbesondere mit guten Themen brillierte. 

 

Joker – 2019

Doch beginnen wir mit den Amerikanern. Hier dominierte ein Film das ganze Festival. Kein anderer kam auch nur annähernd an ihn heran und das sowohl erzählerisch, visuell, vom Art Design her, als auch von der Musik und ganz besonders der schauspielerischen Leistung. Joaquin Phoenix läuft in JOKER (Warner) von Todd Phillips zur Höchstform auf und setzt einen Höhepunkt in seiner Karriere, der geradezu nach einem Oscar schreit. Dass er  nicht als Bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, hat mit dem Reglement zu tun, denn in Venedig darf jeder Film nur einmal ausgezeichnet werden, und so wurde es völlig zu Recht der Goldene Löwe. Todd Phillips ist mit JOKER ein Prequel der Nemesis Batmans gelungen. Am Anfang ist Arthur ein schüchterner, manchmal verhaltensauffälliger, junger Mann, aber ansonsten ein guter Kerl. Er sieht sich als Comedian, pflegt seine kranke Mutter und ist glücklich, wenn er Leute zum Lachen bringen kann, insbesondere die Kinder auf der Krankenstation. Doch mit seiner Clowns-Maske eckt er immer wieder an, wird von seinen Mitmenschen gedemütigt und verprügelt. Als er dann noch erfährt, dass seine Mutter gar nicht seine leibliche Mutter ist, sondern ihn adoptiert hat, bricht seine Welt vollends zusammen. Das alles löst die Metamorphose vom warmherzigen Jungen zum kaltblütigen Joker aus. Diese Geburt Jokers erfahren wir hier nicht nur auf erzählerische Weise, auch visuell setzt Todd Phillips eine außerordentliche Initiationsgeschichte in Gang. Aus dem schüchternen Jungen, der wie ein geprügelter Hund durch die Straßen Gothams schleicht, wird ein selbstbewusster Clown, der durch eine Metropole tanzt wie einst Fred Astaire. Sein Lachen, das anfangs so gequält und schmerzerfüllt klang, wird zu einem Lachen der Freude. Alle Demütigungen, die er ertragen musste, kehren sich um in Destruktion und Zynismus. “Filme sind immer ein Spiegel des Gesellschaft”, meinte Todd Phillips in Venedig und tatsächlich können wir uns in seinen Bildern  wiedererkennen, erkennen wir die Fratze des Neoliberalismus, die postfaktischen Reden der Politiker und den Aufstand der Massen, den er angelehnt an die Occupy-Bewegung inszeniert. So wird aus einem Fantasy-Action-Spektakel ein hochintelligenter Film, der alle Unterschiede zwischen Mainstream und Arthaus auflöst.

Ad Astra – 2019

Die Venedig-Eröffnungsfilme GRAVITY und AUFBRUCH ZUM MOND belebten das Science-Fiction-Genre neu, indem sie auf psychologische Zugänge statt nur auf bombastische Spezialeffekte setzten. Und auch der diesjährige Wettbewerbsbeitrag von James Gray (THE IMMIGRANT) reiht sich in diese Linie ein, wenn er einen facettenreichen Brad Pitt auf die Suche nach seinem abwesenden Vater ins Weltall schickt. AD ASTRA (Fox) stellte sich entgegen seiner lauten Vermarktungsstrategie als zurückgenommenes Drama heraus, das im Stil des Klassikers SOLARIS dysfunktionale Familienstrukturen auf allegorische Weise verhandelt. Im Zentrum stehen die Gedanken und Empfindungen des Astronauten Roy McBride (Pitt), der in mehrfacher Hinsicht im Schatten seines überdimensionalen Vaters (Tommy Lee Jones) steht. Dieser hat mit seinen Missionen an den Rändern des Sonnensystems Wissenschaftsgeschichte geschrieben, ist jedoch dabei auch verschollen. Als die Erde von unerklärlichen Energiestürmen heimgesucht wird, die kosmischen Ursprungs sind, wird vermutet, dass der alte McBride noch lebt und möglicherweise etwas Furchtbares getan hat. Sein Sohn wird abgesandt, um ihn aufzuhalten und durchlebt dabei eine Reise voller ambivalenter Gefühle: Der stets auf seine Karriere fixierte Vater hat ihn einst mit der Mutter zurückgelassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Im Zwiespalt zwischen uneingelöster Sehnsucht und unterdrückter Wut gibt der junge McBride im Voice-Over immer wieder die Stadien seines Aufarbeitungsprozesses preis. Dabei wird deutlich, wie sich Muster toxischer Männlichkeit von einer Generation an die nächste weitertragen. Die Unfähigkeit, sich im Hier und Jetzt auf soziale Beziehungen einzulassen, und sich stattdessen auf das Unerreichbare zu fixieren, treibt einen falsch verstandenen Fortschrittsglauben der Wissenschaft ebenso an wie eine vaterzentrierte monotheistische Religion. Trotz eines Hauchs zu viel Pathos am Schluss ist die Botschaft des Films bewegend und zeitgemäß: Die Anerkennung, dass wir allein im Universum sind, ist vielleicht gar nicht so niederschmetternd, sondern der Beginn von Verantwortung und Sorge füreinander.

Seberg – 2019

Beinahe schon europäisch mutet Benedict Andrews SEBERG (Prokino) an, in dem Kristen Stewart den Liebling der Nouvelle Vague spielt. Es ist eine Story, die an den Dokumentarfilm THE U.S. VERSUS JOHN LENNON aus dem Jahre 2006 erinnert, nur das die Umtriebe Edgar J. Hoovers in Jean Seberg ein wesentlich tragischeres Opfer gefunden haben, als mit John Lennon, der sich immerhin zu wehren wusste. Die auf tatsächlichen Ereignissen beruhende außer Konkurrenz im Wettbewerb laufende Amazon-Produktion ist nicht nur Biopic, sondern auch Psychothriller mit politischem Bezug, der die amerikanische Schauspielerin im Fadenkreuz des FBI zeigt. Eine Romanze mit dem Bürgerrechtler Hakim Jamal und ihre unverhohlen gezeigte Sympathie mit der von ihm unterstützten Black Power Bewegung macht sie Ende der sechziger Jahre zur Zielscheibe eines engmaschigen illegalen Überwachungsprogramms der amerikanischen Sicherheitsbehörde, das sie zunehmend an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt. Selbst der auf sie angesetzte ehrgeizige junge FBI-Agent Jack Solomom gerät im Laufe seiner Tätigkeit in einen Konflikt mit seinem Gewissen. Vor allem Kristen Stewart macht den Film durch ihre überzeugende Verkörperung der Hauptfigur sehenswert. Sebergs Drang zu Unabhängigkeit, ihre Lebenslust und ihr Idealismus werden – wie von Regisseur Benedict Andrews intendiert – ebenso greifbar wie ihre emotionale Offenheit gepaart mit einer gewissen Naivität. Die jahrelange Observation, verbunden mit dem Versuch, sie bei jeder Gelegenheit zu diskreditieren, zermürbt sie und führt zu zunehmender Paranoia, was auch Auswirkung auf ihre Familie hat. Ihr Tod 1979 ist bis heute nicht aufgeklärt und dennoch als Selbstmord deklariert worden.

The Kingmaker – 2019

Einer der wenigen Dokumentarfilme im Programm gab aufschlussreiche Einblicke in die jüngere Geschichte der Philippinen und deren Verstrickungen ins globale Finanzkapital: THE KINGMAKER von Lauren Greenfield porträtiert die ehemalige First Lady Imelda Marcos, Frau des berüchtigten Diktators Ferdinand Marcos, dessen Regime, wie so viele andere auch, von den USA unterstützt wurde, um einen Sieg des Kommunismus im globalen Süden zu verhindern. Der Aufstieg der wunderschönen wie furchteinflößenden Imelda ist ebenso erstaunlich anzusehen, wie ihr aktueller politischer Einfluss. Die Filmemacherin begleitet die heute 85-jährige dabei, wie sie als Übermutter der Nation noch immer versucht,die Gewaltgeschichte des Landes zu verdrehen, die eigene Dynastie fortzuschreiben und ihre Kinder an die Macht zu bringen. Besonders interessant ist dabei die Kontinuität zwischen den konservativen Kreisen der Reagan-Ära und Populisten wie Trump und dem derzeitigen umstrittenen philippinischen Staatschef Rodrigo Duterte. Wie schon in ihrer Doku GENERATION WEALTH untersucht Greenfield die sozialen Auswirkungen finanzieller Exzesse und deren Verknüpfungen zur Macht.