Die 76. Internationalen Filmfestspiele von Venedig – Ein Festivalbericht

Guest of Honor – 2019

Atom Egoyan ist Stammgast in Venedig und vertrat mit seinem neuen Film GUEST OF HONOR sein Heimatland Kanada. In gewohnt verschachtelte Weise erzählt er eine Vater-Tochte-Geschichte auf drei Zeitebenen. Die Jetztzeit spielt nach dem Tod von Vater Jim (David Thewlis), als Tochter Veronica (Laysla De Oliveira) dem Pfarrer Rede und Antwort steht, damit dieser eine Grabrede ausarbeiten kann. In Rückblenden wird dann von Veronicas Kindheit erzählt, vom frühen Tod der Mutter, von ihrer musikalischen Begabung und letztlich von ihrer Zeit als Hochschullehrerin, wo sie sich schließlich selbst bestrafen will für ein dunkles Geheimnis in ihrer Kindheit. Sie gibt vor,  mit einigen ihrer Schülern intim gewesen zu sein und fährt mit dieser Selbstanklage ohne Prozess ins Gefängnis ein, wo sie auf einer dritten Zeitebene von ihrem Vater besucht wird, der das alles nicht verstehen kann und nach jenem dunklen Geheimnis ihrer Kindheit sucht. Egoyan ist ein Meister komplexer Figurenkonstellationen und so recherchiert jeder auf jeder Zeitebene über den anderen, doch die Erkenntnisse sind zu unterschiedlichen  Zeiten auch unterschiedlich zu bewerten, weil sich die Umstände verändert haben und die Wahrheiten eine andere Bedeutung erlangt haben. So kreist Egoyan um Themen wie Schuld, Verantwortung und Machtmissbrauch und zeigt die ständigen Missverständnisse, die das menschliche Miteinander oft so schwierig gestalten. Jim ist Food-Inspector in der multikulturellen Stadt Montreal und muss alle ethnisch noch so unterschiedlichen Restaurants strikt nach einem einheitlichen Code beurteilen, der nur die Bewertung richtig oder falsch zulässt. Seine Suche nach einem ebensolchen Code für sein Leben ist nicht nur völlig verzweifelt, sondern immer auch wieder komisch, oder wie Egoyan es selbst formulierte: “David hat den Humor in dieser tragischen Rolle gefunden.”

Ema – 2019

Pablo Larraín gilt als einer der vielseitigsten Autorenfilmer Lateinamerikas, der neben seiner Pinochet-Trilogie und dem düsteren Berlinale-Gewinner EL CLUB auch durch Filme wie JACKIE mit Nathalie Portman für Begeisterung sorgte. Sein Wettbewerbsbeitrag EMA stellt sein bislang experimentellstes Werk dar und galt lange als Favorit bei der Löwen-Vergabe. Unverständlich ist vor allem, dass die junge Hauptdarstellerin Mariana Di Girolamo keinen Preis für ihre eindringliche Leinwandpräsenz erhielt, denn sie ist im wahrsten Sinne des Wortes das flammende Herz des Films, der mit einer atemberaubenden Einstellung auf eine brennende Ampel beginnt. Die junge Brandstifterin mit dem Napalmtank auf dem Rücken ist eine unkonventionelle Tänzerin, die mit dem Choreographen ihres Performance-Ensembles Gastòn (Gael Garcia Bernal) im chilenischen Valparaíso zusammenlebt. Ihre Beziehung droht daran zu zerbrechen, dass Gastón keine eigenen Kinder zeugen kann und die Adoption eines kleinen Jungen in einer Katastrophe endete. Ema ringt mit ihrem Versagen als Adoptivmutter und ist wild entschlossen, das Kind zurückzugewinnen, auch wenn die Behörden ihr den Kontakt verweigern. Was EMA so außergewöhnlich macht, ist seine rein szenische Inszenierungsweise, die über weite Strecken des Films auf klassische Erzählformen verzichtet. Stattdessen stehen tanzende Körper im Vordergrund, die Larraín in fragmentarischen Einstellungen gegeneinander schneidet. Dadurch punktet der Film durch Rhythmik und starke Bilder, die über eine bloße Musikvideo-Ästhetik hinausgehen, bewahrt sich jedoch auch eine Opazität, die irritierend wirkt. Lange erschließt sich überhaupt nicht, wohin die Geschichte in all ihrer sinnlichen Ansprache taumelt, bis es am Ende zu einer überraschenden Auflösung kommt. Emas Weg wird als Befreiungstanz gegen die eigene übermächtige Mutter verstehbar, der am Ende zu einer Möglichkeit der queeren Familie findet. Das Thema des Feuers bildet dabei ein zentrales Motiv des Films, das Passion und Mutterschaft verbindet: Wie die Sonne kann es verbrennen und verletzen, aber auch Leben spenden.

The Truth – 2019

Eigentlich sollte THE TRUTH (Prokino) traditionell in Cannes laufen, denn dort hatte Kore-eda im letzten Jahr mit SHOPLIFTERS die Goldene Palme geholt. Doch er wurde nicht rechtzeitig fertig, und so eröffnete er halt das Festival von Venedig. Catherine Deneuve spielt hier Fabienne, eine französische Filmdiva, die an ihren Memoiren schreibt. Da gerade ihre Tochter Lumir (Juliette Binoche), die in New York lebt, mit Mann und Kind zu Besuch ist, bietet sie ihrer Mutter an, Korrektur zu lesen. Doch sie kann nicht glauben, was sie da lesen muss: Fabienne stellt sich als liebevolle Mutter dar, obwohl sie in Wirklichkeit ihre Tochter ziemlich vernachlässigt hat und sich lieber von opportunistischen Männern bewundern ließ. Die geschriebenen Zeilen lösen nun einen handfesten Streit zwischen Mutter und Tochter aus, den Fabienne gar nicht verstehen kann. “Es ist doch der Sinn einer Biographie, sich im besten Lichte darzustellen und außerdem geht es im Film ja auch nicht immer mit der Wahrheit zu,” argumentiert sie, während Lumir die Verdrehung aller Missstände ihrer Kindheit geradezu auf die Palme bringt. Der Film beruht auf einem Theaterstück, das Kore-eda vor 15 Jahren geschrieben hat, das aber nie zur Aufführung kam. Jetzt, da sich die Gelegenheit bot, mit zwei Diven des französischen Films zu arbeiten, hat er es wieder aus der Schublade hervorgekramt. Welchen Spass Kore-eda die Dreharbeiten wohl gemacht haben, ist dem Film anzumerken, denn er weidet das Spiel der beiden Protagonistinnen derart aus, dass er thematisch zu sehr an der Oberfläche bleibt. Seine Frage, ob Wahrheit oder Lüge den besseren Zusammenhalt für eine Familie gewährleistet, erscheint da eher suggestiv, vielmehr wollte er wohl das Genre einer typischen französischen Boulevardkomödie bedienen. Dem Zuschauer sollte es gefallen.

Wasp Network – 2019

Olivier Assayas Film WASP NETWORK ist ein typischer Vertreter des europäischen Kinos, wie es in Venedig in diesem Jahr vermehrt anzutreffen war. Auch er hat einen grandiosen Stoff für sich entdeckt, mit dessen Umsetzung man nicht vollends zufrieden sein muss. Im Grunde geht es um eine Spionage-Geschichte aus dem Kuba der neunziger Jahre. Fidel Castro lässt eine Sondereinheit aufstellen, um eine Gruppe Exilkubaner zu infiltrieren, die sich nach Miami geflüchtet und dort eine militante Gruppe aufgebaut haben, die immer wieder mit gezielten Terroranschlägen, oft gegen Touristen in Kuba, versuchen, das System zu destabilisieren – im Grunde eine komplexe Agenten-Story mit viel Action und guten Darstellern. So setzt Assayas neben Gael García Bernal und Penélope Cruz insbesondere auf Edgar Ramírez, dessen schauspielerische Energie uns schon in seinem Biopic CARLOS – DER SCHAKAL fünfeinhalb Stunden bei der Stange halten konnte. Die innere Spannung, die diesem Film anhaftete, erreicht Assayas in WAASP NETWORK leider nicht und es ist lediglich die Story, die einen bis zuletzt fesselt.

Adults in the Room – 2019

Nichts außer einer guten Story erwartete man auch von ADULTS IN THE ROOM, der auf dem gleichnamigen Buch von Yanis Varoufakis beruht. Darin schildert der ehemalige griechische Finanzminister seine sechsmonatigen Erfahrungen, die er mit dem Finanzausschuss der EU machen durfte. Der vor 86 Jahren in Griechenland geborene Constantin Costa-Gavras hat wohl diese erneute Leidensgeschichte seines Volkes noch mal auf den Plan gerufen, den Ruhestand zu verlassen und eine wahrhaftige griechische Tragödie zu drehen. Dabei schert er sich recht wenig um visuelle Konzepte, sondern setzt die Vorlage kammerspielartig quasi 1:1 um. Dass das im Kino funktioniert, hätte man wohl kaum vorherzusagen gewagt. Mit politischem Gerede und zweitklassigen Schauspielern den Kinozuschauer aus der Reserve zu locken, gelingt tatsächlich, zu absurd ist Varoufakis Vorlage, die beschreibt, welch niederträchtigem Machtspiel die griechische Bevölkerung zum Opfer gefallen ist. Dass manches da eventuell nicht ganz objektiv  dargestellt wird, macht den Film gerade erst sehenswert, ist es doch mal eine Sicht auf die Dinge – ganz im Kontrast zu unseren Nachrichtensendungen – die den europäischen Gedanken neoliberalen Machtspielchen opfert.

The Perfect Candidate – 2019

DAS MÄDCHEN WADJDA von Haifaa Al Mansour sorgte vor mittlerweile sieben Jahren für eine Sensation in Venedig, als erste Regie-Arbeit aus Saudi Arabien überhaupt – und dann auch noch gedreht von einer Frau! Nach ihrem US-Debüt MARY SHELLEY kehrte sie nun mit einem neuen Einblick in ihr islamisch-konservatives Heimatland zurück in den Wettbewerb. THE PERFECT CANDIDATE (Neue Visionen) ist ein erstaunliches Porträt saudischen Alltagslebens und erzählt zugleich die bewegende Emanzipationsgeschichte der junge Ärztin Maryam (Mila Al Zahrani). Als ausgebildete Chirurgin bekleidet sie einen wichtigen Posten im lokalen Krankenhaus, dies ist allerdings nur komplett verschleiert möglich. Und selbst dann kommt es immer wieder zu Vorfällen, in denen hysterische Männer selbst in der Notaufnahme nicht von den Händen einer Frau berührt werden wollen. Maryam begegnet der sie umgebenden Misogynie mit pragmatischem Trotz, als die Zufahrtsstraße zum Hospital allerdings im Schlamm versinkt und sich niemand darum kümmern will, platzt ihr der Kragen. Ihr Versuch, sich in der Großstadt um einen Posten zu bemühen, scheitert daran, dass ihr Vater vergessen hat, ihre Ausweispapiere zu verlängern, und sie ohne männlichen Vormund keinerlei bürokratische Tätigkeiten ausführen darf. Voller Wut richtet sie sich an ihren Cousin in der Verwaltung, über den sie durch Zufall auf eine Ausschreibung aufmerksam wird: In der Kleinstadt stehen Bürgermeisterwahlen an – und Frauen sind nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Erwünscht sind sie natürlich trotzdem nicht, doch Maryam sieht plötzlich die Chance, im Sinne einer Grassroot Bewegung auf lokaler Ebene für die Asphaltierung der Zufahrtsstraße zu kämpfen, und nebenbei auch für die Frauenbewegung. Weniger leicht und beschwingt als ihr Film um das Mädchen mit dem grünen Fahrrad, ist THE PERFECT CANDIDATE stattdessen in der Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse grimmiger und fast schon pessimistisch. Denn es sind eben nicht nur die Männer, die das strikt patriarchale System am Laufen halten, sondern gerade die Frauen, die lieber eine gute Partie machen wollen als wählen zu gehen, und keine Lust haben, ihr gesellschaftliches Ansehen für die Emanzipation aufs Spiel zu setzen. Umso bewegender ist Maryams Kampf, in dem sie die Grenzen der strikten Geschlechtertrennung immer wieder auch räumlich überschreitet und die so verpönte Face-to-Face-Auseinandersetzung erzwingt. Und genau dort, so zeigt der Film von Al Manour, wird gesellschaftliche Veränderung möglich: Wenn die Begegnung mit dem geschlechtlich Anderen doch gar nicht so dramatisch ist, wie die Religion es ständig postuliert.

The Painted Bird – 2019

Bildgewaltiger, aber nicht weniger politisch ist da THE PAINTED BIRD, der fast drei Stunden lang ist und in schwarzweiß, auf 35 Millimeter in slawischem Esperanto gedreht wurde. Er schildert die Odyssee eines kleinen jüdischen Jungen, der von seinen Eltern aus Angst vor den Nazis weggegeben wurde und anschließend vierzehn Stationen – quer durch ein düsteres Ost-Europa zum Ende des 2. Weltkrieges, durchlaufen muss. Jerzy Kosinski gleichnamiger Roman, der nicht nur in Polen Pflichtlektüre wurde, wird hier von Regisseur Václav Marhoul auf düstere und so gewalttätige Weise verfilmt, dass er die Kritiker in zwei Lager spaltete. Den einen war der Film zu formal, zu pathetisch, ja sogar zu weinerlich, während die anderen von einem archaischen Meisterwerk sprachen, die die Grausamkeiten der Zeit kongenial visualisierten. Tatsächlich sind es die Bilder, die einem immer wieder den Atem stocken lassen. Gewalt im Kino sind wir gewöhnt, sie aber derart minimalistisch und auf sich selbst reduziert zu sehen, entwickelt eine Kraft, der manch einer nicht standhalten kann. So erinnert der Film an russische Meisterwerke von Andrej Tarkovsky oder Elem Klimov. Überraschend auch die starke Besetzung. So fanden sich neben Udo Kier auch Stellan Skarsgård und Julian Sands auf der Pressekonferenz ein, während sich Harvey Keitel entschuldigen ließ. Der jugendliche Hauptdarsteller durfte nicht auf die Bühne, so wie er auch nicht den Film anschauen darf, um sein Seelenheil nicht zu gefährden. Tatsächlich hätte man sich am Ende des Films einen Hinweis im Abspann gewünscht, dass hier kein Kind zu Schaden gekommen ist.

Warten auf die Barbaren – 2019

Gegen Ende des Festivals, als die cinephile Gemeinde längst nach Toronto weitergezogen war, gaben sich noch einige weitere Stars die Ehre. So zum Beispiel Johnny Depp, der in WAITING FOR THE BARBARIANS von Ciro Guerra (BIRDS OF PASSAGE) die Rolle des fiesen Colonel Joll spielt. Der kommt an die Grenze eines fiktiven Empires, um die Arbeit des vor der Pensionierung stehenden Magistraten (Mark Rylance) zu begutachten. Der hat hier seinen Außenposten in vielen Jahren als hoch zivilisierte Grenzsiedlung ausgebaut. Die jenseits der Grenzen lebenden Nomaden gehen hier ein und aus, treiben Handel und leben in Eintracht mit der hiesigen Bevölkerung. Es ist ein Ort des Friedens, in dem es quasi keine Kriminalität gibt. Doch Colonel Joll kommt schnell zu einem anderen Ergebnis. Mit blutigen Verhörmethoden erpresst er Geständnisse, die auf einen bevorstehenden Aufstand der Barbaren hinweisen. Für den Magistrat eine krude Theorie, denn die Barbaren sind Nomaden und selbst wenn eine Gefahr von ihnen ausginge, wären sie nächste Woche schon wieder woanders. Doch an Fakten ist Joll nicht interessiert und hat schon längst Verstärkung angefordert, um einen brutalen Krieg vom Zaun zu brechen. Als der Magistrat dann offen gegen die militärischen Maßnahmen protestiert, wird er als Verräter diffamiert und lernt schnell die Härte der Militärgesetze kennen. Ciro Guerras Adaption von J.M. Coetzees vielfach ausgezeichneter gleichnamiger Novelle kann dabei auch als Metapher auf unsere Gesellschaft gelesen werden. Jahrzehntelang erarbeitete Zivilisation hat keine Bestandsgarantie und muss täglich neu erkämpft werden. Der Magistrat hat dies sein Leben lang getan, doch es ist ihm nicht mal vor seiner Pensionierung vergönnt, sich in ihr einzurichten und ihre Vorzüge zu genießen. Johnny Depp spielt seine Rolle als diabolischer Colonel beeindruckend und beängstigend mit emotionsloser Miene, die Augen versteckt hinter einer stylischen Army-Sonnenbrille, die seine Unberechenbarkeit perfekt unterstützt. Auf der Pressekonferenz, wo sich Depp zwar um die rechten Worte bemühte, sie aber selten fand, wurde sie schließlich zum Gegenstand von Small Talk, und die Journalisten schlugen ihm vor, sie als Designer-Brille unbedingt in die Massenproduktion zu geben.