Die 76. Internationalen Filmfestspiele von Venedig – Ein Festivalbericht

The Burnt Orange Heresy – 2019

Eine Sahnehäubchen ganz zum Schluss war dann der Auftritt von Donald Sutherland und Mick Jagger in Giuseppe Capotondis THE BURNT ORANGE HERESY. Als auf der Pressekonferenz die zeitgleich auf dem roten Teppich stattfindenden Proteste gegen Klima- und Ökokatastrophe zur Sprache kamen, versicherte Mick Jagger den jungen Protestierenden seine volle Unterstützung, während man sich den inzwischen 84-jährigen Donald Sutherland noch einmal in Rage reden hören konnte. Er bemängelte die weltweite Politik, deren Führer Fakten und kulturelle Errungenschaften negieren und in verantwortungsloser Weise unsere Welt ausplündern. “Dieser Bande gehört das Handwerk gelegt”, polemisierte er und die Proteste der jungen Leute kämen ihm da beinahe zu zahm vor. Ansonsten verlief die Pressekonferenz in einer gut gelaunten Atmosphäre, wie sie auch der Film verbreitete. Jagger spielt hier den steinreichen Kunstsammler Cassidy, der den Kunstkritiker James Figueras anheuert, um seine Sammlung zu inventarisieren. Zusammen mit seiner amerikanischen Freundin Berenice macht er sich auf zu dem beeindrucken Anwesen des Mäzens am Comer See. Überraschenderweise trifft er dort auf den hier quasi als Eremit lebenden Künstler Jerome Debney, der lange nichts mehr veröffentlicht hat und als verschollen gilt. Während seine Freundin mit dem alten Künstler, der einem wie ein J.D. Salinger der Kunstwelt vorkommt, eine ehrliche Freundschaft entwickelt, scheint der scheinbar so smarte Kunstkritiker nur noch darüber nachzudenken, ihm eines seiner Kunstwerke zu entwenden. Mit diesem eigennützigen Unterfangen ist er aber schon längst zum Spielball der Interessen anderer geworden. In intelligent vergnüglicher Weise lässt hier der italienische Regisseur Giuseppe Capotondis. die Kunstwelt mit der Unterwelt kollidieren. Dabei hat jeder der Beteiligten seinen eigenen Plan, der sich dem Zuschauer erst peu à peu erschließt. Niemand ist hier das, was er vorgibt zu sein und so wird das Ganze zu einem spannenden Neo-Noir-Thriller, in dem nichts so ist, wie es scheint.

Babyteeth - 2019 Filmposter

Babyteeth – 2019

Überzeugend war auch der Wettbewerbsbeitrag der australischen Regisseurin Shannon Murphy, der ein größeres Publikum anzusprechen vermag und dabei ebenso kunstvoll ist wie die Filme Jane Campions. BABYTEETH beginnt als etwas überdrehte Coming-of-Age-Komödie in der Vorstadt, die jedoch in der Zeichnung der Figuren immer genauer wird und in einem emotionalen Finale mündet, das kein Auge trocken lassen wird. Die Krebserkrankung der pubertierenden Milla (Eliza Scanlen) wird dabei zum Katalysator eines familiären Ablöseprozesses, der so viel mehr in Szene setzt, als man es von dieser Art Geschichte gewohnt ist. Denn es geht nicht bloß um den Wert des Lebens, der durch die Krankheit für alle erfahrbar werden soll, sondern um eine Emanzipationsgeschichte, die auch das Sterben miteinschließt. Alle Charaktere im Film sind von Sucht- und Abhängigkeitsstrukturen geprägt: Millas Vater verschreibt als Psychiater seiner infantil gebliebenen Frau regelmäßig Pillen, und auch der ältere Junge, in den Milla sich Hals über Kopf verliebt, ist schwer drogenabhängig. Beide Männer unterscheiden sich eigentlich nur darüber, dass der eine im Sinne der Normativität handelt und der andere als gesellschaftlicher Outcast lebt. Millas Erkrankung fordert ihre Umwelt heraus, weil sie endlich um ihrer selbst willen geliebt werden möchte und gleichzeitig um die Freiheit bittet, gehen zu dürfen. Doch ihren Nächsten fällt es schwer ihr diese Anerkennung zu geben, die mit einem Loslassen verbunden ist. Schließlich akzeptieren die Eltern ihren Freund Moses, und damit auch Millas Abschied von der Kindheit, was sich im Film durch den Verlust des letzten Milchzahns ausdrückt. Toby Wallace wurde für seine Rolle als chaotisch-charmanter Junge mit dem Marcello-Mastroianni-Preis als Bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet, und auch Ben Mendelsohn überzeugt als ebenso strenger wie hilfloser Vater. Die junge Eliza Scanlen wird gegen Ende des Jahres ebenfalls in Greta Gerwigs Remake von “Little Women” eine der Hauptrollen übernehmen – der Durchbruch sollte damit auch ihr sicher sein.

Martin Eden – 2019

Großes Kritikerlob und schließlich auch die Coppa Volpi für Luca Marinellis schauspielerische Leistung konnte die Jack-London-Verfilmung MARTIN EDEN einheimsen. Regisseur Pietro Marcello verlegt das halb autobiographisch geprägte Werk von Kalifornien in ein irgendwo Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedeltes Neapel. Dort hilft der Seemann Martin Eden dem aus einer reichen Familie stammenden Arturo, als er in eine Schlägerei gerät und wird zum Dank zu ihm nach Hause eingeladen. Hier lernt er Elena, die Tochter des Hauses kennen, und verliebt sich in sie. Die kultivierte und gebildete junge Frau beflügelt seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, um in die höheren Gesellschaftsschichten aufzusteigen und eines Tages in der Lage zu sein, Elena zu heiraten. Er zieht zum Schreiben aufs Land, bildet sich autodidaktisch weiter, die Bekanntschaft mit dem älteren Intellektuellen Russ Brissenden bringt ihn in Kontakt mit sozialistischen Zirkeln, aber auch in Konflikt mit der bürgerlichen Welt seiner Angebeteten und der eigenen sich formenden Überzeugung, dass das Individuum über dem Kollektiv steht. Als er trotz eifrigen Schreibens für seine Werke keinen Verleger findet, verarmt er zusehends. Seine Eltern sowie Elena und ihre Familie entmutigen ihn zusätzlich. Als sich der Erfolg schließlich doch einstellt und er nun plötzlich überall hofiert wird, kann er diesen nicht mehr genießen. Körperlich geschwächt und desillusioniert von der Heuchelei der höheren Gesellschaft, deren Werte ihm plötzlich nur noch hohl und schal vorkommen, erscheint sein Streben, dort anerkannt zu werden, sinnlos. Regisseur Pietro Marcello nimmt stilistisch Anleihen an der Nouvelle Vague und amerikanischen Independent-Filmen der siebziger Jahre. Trotz der Verlegung von Ort und Zeit des Jack-London-Klassiker hält er sich inhaltlich eng an die Vorlage, mischt geschickt Archivmaterial mit der fiktionalen Erzählung, was dem Film Authentizität verleiht. Ein Film, der sicherlich in den Arthouse-Kinos Erfolg haben wird.

Gloria Mundi – 2019

Die Coppa Volpi für die beste weibliche Darstellerin ging überraschend an Ariane Ascaride, die in dem Familiendrama GLORIA MUNDI sympathisch, aber nicht unbedingt auffallend Sylvie, die Mutter einer Arbeiterfamilie in Marseille spielt. Dabei darf man von Regisseur Robert Guédiguian keine leichte Familiengeschichte à la DER SCHNEE AM KILIMANDSCHARO erwarten. Offensichtlich hat er sich seit seinem Biopic DER JUNGE KARL MARX auf soziale Themen eingeschossen, und so hat diese Studie einer Arbeiterfamilien einen mehr tragischen Charakter à la Ken Loach. Sylvie freut sich auf die Geburt ihrer Enkeltochter Gloria und ist fest davon überzeugt, dass die Dinge sich jetzt zum Besseren wenden. Doch das Gegenteil passiert. Ihr Schwiegersohn, ein Uber-Fahrer, wird überfallen, zusammengeschlagen und seines Autos beraubt, während ihr Ehemann seine Stelle als Busfahrer verliert, weil er mit dem Handy telefonierend während der Fahrt erwischt wird. Sie selbst hat jede Menge Trouble auf der Arbeit, weil ihre Kolleginnen streiken wollen, was sie sich überhaupt nicht leisten kann. Denn das Geld ist knapp in der Familie und es wird immer knapper. Da kommt das Hilfsangebot von Sylvies erstem Ehemann, der gerade aus der Haft entlassen wurde, gerade recht. “Oder um es mit Marx zu sagen: Der Neo-Kapitalismus zerbricht familiäre, freundschaftliche und unterstützende Beziehungen und ausschließlich kaltes Kalkül und hartes Geld bestimmen die Verbindungen zwischen den Menschen,” so Guédiguian auf der Pressekonferenz. Seinen Wechsel von der Komödie zur Tragödie erklärte er damit, dass Kino beides kann: zeigen, wie die Welt sein könnte und sie so zu zeigen, wie sie ist.

Über die Unendlichkeit - 2019 Filmposter

Über die Unendlichkeit – 2019

Ein gern gesehener Gast auf dem Lido ist Roy Andersson, der bereits 2014 für seinen Film „EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH“ mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Auf die Pressekonferenz zu seinem neuen Film schaffte er es nur im Rollstuhl, während er der Preisverleihung aufgrund von Hüftproblemen fernbleiben musste und seinen Silbernen Löwen für die Beste Regie nicht selbst entgegennehmen konnte. Mit ÜBER DIE UNENDLICHLICHKEIT (Neue Visionen) fügt er seinem filmischen Werk ein neues Meisterwerk hinzu, ein filmisches Nachdenken über das menschliche Leben in all seiner Schönheit und Grausamkeit, seiner Pracht und seiner Einfachheit. Ein unverzagter Erzähler nimmt uns hier an die Hand und lässt uns traumgleich umherschweifen. Scheinbar nichtige Augenblicke verdichten sich zu intensiven Zeit-Bildern und stehen auf Augenhöhe mit historischen Ereignissen: Ein Liebespaar schwebt über das vom Krieg zerfressene Köln; auf dem Weg zu einem Kindergeburtstag muss ein Vater mitten in einem Wolkenbruch seiner Tochter die Schuhe binden; junge Mädchen beginnen einen Tanz vor einem Café und eine geschlagene Armee marschiert mutlos zu einem Gefangenenlager. ÜBER DIE UNENDLICHLICHKEIT ist sowohl Ode als auch Klage, ein Kaleidoskop all dessen, was ewig menschlich ist, eine unendliche Geschichte über die Verletzlichkeit unserer Existenz.

An Officer and a Spy – 2019

Auch Roman Polanski konnte oder wollte seinen Preis für seine Verfilmung der Dreyfuss-Affäre AN OFFICER AND A SPY (J’ACCUSE…!) nach dem gleichnamigen Roman von Robert Harris aus dem Jahr 2013 nicht entgegennehmen. Ihm droht im Ausland immer noch die Auslieferung in die USA, und außerdem war seine Teilnahme am Wettbewerb mit einem derartigen Shitstorm aus Amerika verbunden, dass man ihm sein Fernbleiben nicht übel nehmen kann. Statt ihm immer noch ein Vergehen, dass er vor 50 Jahren begangen und sich mit dem Opfer längst geeinigt hat, immer noch vorzuwerfen, sollten wir froh sein, von diesem Altmeister noch einmal eine Geschichtslektion erteilt zu bekommen über eine Affäre, die hierzulande kaum an der Schule gelehrt wird. J’ACCUSE…!  ist der Titel eines offenen Briefes des französischen Schriftstellers Émile Zola, um die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe der Dreyfus-Affäre zu informieren. Der Brief erschien am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore, verursachte einen großen politischen Skandal und gab der Dreyfus-Affäre eine entscheidende Wendung. “J’accuse” ist auch in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen als Bezeichnung für eine mutige, öffentliche Meinungsäußerung gegen Machtmissbrauch. Im Januar 1895 wurde der französische Hauptmann Alfred Dreyfus aufgrund von Fälschungen wegen angeblicher Spionage zugunsten des Deutschen Reichs degradiert und zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel verurteilt. Als danach die Spionageakte nicht aufhörten, stellte sich bei einer erneuten Untersuchung seine Unschuld und Major Ferdinand Walsin-Esterházy als der wahre Täter heraus. Dennoch hielt der Generalstab an der Täterschaft Dreyfus’ fest, weil er Jude und Elsässer war. Es liegt auf der Hand, dass dieser Stoff ein Herzensprojekt Polanskis war, doch geht es ihm darum, den Antisemitismus in Frankreich, lange vor dem deutschen Holocaust, aufzuzeigen und nicht wie der Tagesspiegel meint, sich ähnlich wie Dreyfuss als Justizopfer darzustellen. Ganz im Gegenteil, die Unaufgeregtheit und Sachlichkeit von Polanskis Inszenierung tut dem Film ausgesprochen gut. Wir folgen den Ermittlungen des Spionageabwehr-Offiziers Georges Picquart (Jean Dujardin), der Dreyfuss erst zu Fall gebracht und dann seine Unschuld bewiesen hat und dabei in ein gefährliches Labyrinth aus Betrug und Korruption geriet. Polanski macht daraus eine Geschichtsstunde von erstaunlicher Aktualität, die in Venedig einstimmige Anerkennung fand. Entsprechend stolz nahme seine Frau Emmanuelle Seigner seinen Silbernen Löwen für den Großen Preis der Jury entgegen.

Pelikanblut – 2019

Einziger deutscher Beitrag beim Festival und Eröffnungsfilm der Reihe Orrizonti war PELIKANBLUT (DCM) von Katrin Gebbe, deren beeindruckendes Langfilmdebüt TORE TANZT  2013 in Cannes Premiere hatte. Ihr neuestes Werk kann mit einem interessanten Thema und einer starken Hauptdarstellerin aufwarten, der fragwürdige Schluss schmälert aber den Genuss erheblich und hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Nina Hoss spielt Wiebke, eine Trainerin für Polizeipferde, die einen idyllischen Reiterhof führt. Nach jahrelanger Wartezeit erfüllt sich endlich ihr Wunsch nach einem zweiten Adoptivkind. Am Anfang des Films holen sie und ihre neunjährige Adoptivtochter Nicolina die fünfjährige Raya aus dem Heim ab. Doch bald stellt sich heraus, dass die zunächst wie ein kleiner Engel wirkende Kleine traumatisiert von Kindheitserlebnissen extrem gewalttätig werden kann und eine Gefahr für sich und andere darstellt. Obwohl alle ihr raten, Raya zurückzugeben oder einer professionellen Institution zu übergeben, ist Wiebke nicht bereit, so schnell aufzugeben. Mit aller Kraft bis an den Rand der Selbstaufgabe versucht sie, dem nicht zu Empathie fähigen Kind zu helfen. Als alle Versuche fehlschlagen, engagiert sie in ihrer Verzweiflung eine Schamanin, um den bösen Raya beherrschenden Geist zu vertreiben. Im Gegensatz zu dem wunderbaren SYSTEMSPRENGER mit ähnlichem Thema, der die Grenzen der Hilfesysteme aufzeigt, wirkt diese Flucht in den Mystizismus, um dem Ganzen noch ein Happy-End zu verpassen, leider allzu bemüht.

Insgesamt war es ein starker Jahrgang, und man fühlte sich immer wieder im Laufe des Festivals an Todd Phillips’ Worte erinnert, dass Film immer ein Spiegel der Gesellschaft ist. Dies wollten viele Filme auch ganz bewusst sein. Sie prangerten Politik und Gesellschaft an, während andere Filme eher unpolitisch daher kamen und sich dennoch als Produkt ihrer Zeit entpuppten. Denn die gesellschaftliche Situation war eben nicht nur Thema der Filme, sondern beeinflusste sie auch in ihrer Machart, was sich dann in Tonfall und Aussagekraft niederschlug. Das alles macht Hoffnung auf einen spannenden Kinoherbst mit vielen Filme, die zu kontroversen Diskussionen Anlass geben.