74. Internationalen Filmfestspiele von Venedig

Ein gelungener Publikumsfilm ist Paolo Virzis wunderbares Werk THE LEISURE SEEKER mit Helen Mirren und Donald Sutherland in den Hauptrollen. Darin machen sich die beiden als langjähriges Ehepaar Ella und John noch einmal auf zu einer Reise in ihrem Oldtimer-Wohnmobil entlang der amerikanischen Ostküste – von Boston bis nach Florida, um ein letztes großes gemeinsames Abenteuer zu erleben. Denn die Tage ihrer Unabhängigkeit sind gezählt.

John kämpft mit seinem Gedächtnisverlust, Ella mit einer Krebserkrankung, doch die beiden wollen sich nicht unterkriegen lassen und noch einmal unbeschwert wie früher schöne Tage “on the road” miteinander verleben, ein Unterfangen, das natürlich nicht ohne Komplikationen vonstatten geht. Virzi legt hier eine gelungene Mischung aus Road-Movie und romantischer Komödie vor, ein Film, der Spaß macht und sich auf seine beiden hervorragenden Protagonisten verlassen kann. Das Drehbuch basiert auf dem gleichnamigen Roman von Michael Zadoorian aus dem Jahr 2009, der besonders in Italien ein Bestseller war und bereits in über 90 Länder verkauft worden ist.

 

La Melodie 2017

La Melodie © Venice International Filmfestival 2017

Ein ähnlicher Crowdpleaser ist auch dem französischen Regisseur Rachid Hami gleich mit seinem ersten Film LA MELODIE gelungen, den Prokino zu Weihnachten in unsere Kinos bringen wird. Kad Merad läuft hier geradezu zur Hochform auf, nicht etwa als tollpatschiger Briefträger, sondern als in sich gekehrter Musiker, der sich an einem Sozialprojekt des Schulministeriums beteiligt, das Schülern aus der Pariser Banlieue das Geigenspiel nahebringen will. Hier trifft er auf den Hass und Zorn einer Generation, die sich ausgegrenzt fühlt und in der Schule keinen Sinn sieht, weil sie ihr Schicksal in dieser Gesellschaft für vorbestimmt hält, wie auch auf unerwartete Talente, die mit Disziplin, Fleiß und Leidenschaft zu wahren Höchstleistungen fähig sind. Zwar bedient der Film das etwas didaktische Credo der französischen Regierung „Wir lassen keinen Jugendlichen zurück“, doch Kad Merads Performance ist so tiefgreifend und intensiv, dass sie auch intellektuelle Kritiker zu Tränen rührt. Sein Musiklehrer zerbricht fast an der Herausforderung, in dieser chaotischen Klasse Gehör zu finden und schafft es am Ende doch, über die Töne der Musik die Jugendlichen zu erreichen. Kad Merad ist selbst in der Banlieu aufgewachsen und zog auf der Pressekonferenz seinen Hut vor dem gerade verstorbenen Jerry Lewis: „Er war ein ebenso großer Komiker wie Charakterdarsteller und damit zeitlebens mein großes Vorbild.“

 

The Third Murder 2017

The Third Murder © Venice International Filmfestival 2017

Hirokazu Kore-eda gelingt es stets, durch seine sensible Erzählweise zu überzeugen, meist stehen dabei Familiengeschichten in seinem Fokus. Umso überraschender war es daher zu sehen, dass er sich in diesem Jahr am Genre des Gerichtsfilms erprobte, und dabei an den großen Klassiker RASHOMON anschloss. THE THIRD MURDER ist in ähnlicher Weise eine Meditation über die Frage der Perspektivierung von Wahrheit sowie die Unmöglichkeit absolute Objektivität zu finden. Ein junger Anwalt gerät darin in einen Mordfall, der beinahe selbsterklärend scheint. Doch der geständige Täter verwickelt die Justiz immer tiefer in Widersprüche und löst bei den Strafverfolgern eine Obsession aus, die sie an die Grenzen ihres Arbeitsverständnisses bringt. Indirekt verhandelt Kore-eda dabei dann doch das Verhältnis von Eltern und Kind, schafft es jedoch über die Länge von zwei Stunden auch den Zuschauer in Atem zu halten, wenn jede Schicht, die abgetragen wird, nur eine neue Bodenlosigkeit enthüllt. Justiz ist ein Betrieb mit klaren Spielregeln zur Erschaffung von verbindlichen Tatsachen, scheint er sagen zu wollen – Gerechtigkeit dagegen etwas gänzlich Anderes.

 

Eher kritisch wurde Ai Wei Weis Dokumentarfilm HUMAN FLOW aufgenommen, der zunächst ein ästhetisches Konzept vermissen ließ und in seiner gewaltigen Länge etwas redundant erschien. Doch nach und nach erweist sich das Disparate als eine Art Leitmotiv, das dem Thema von weltweiter Flucht und Vertreibung durchaus angemessen ist. In seiner markanten Körperlichkeit ist Ai Wei Wei immer wieder bei den Aufnahmen präsent, reist in das desolate Flüchtlingslager Idomeni ebenso wie ins Borderland Mexikos, das Trump durch seine Mauer abschotten will. Handyvideos wechseln sich mit Steady-Cam-Kompositionen ab, die teilweise sogar von Christopher Doyle aufgenommen wurden. Über diese werden immer wieder Schriftzüge eingeblendet, News-Ticker der großen Medienberichterstatter ebenso wie Zitate von syrischen Philosophen und Künstlern, um die Flut der Bilder in unterschiedlicher Weise zu kommentieren.

Beeindruckend sind dabei vor allem Drohnenaufnahmen von Camps weltweit, die deutlich machen, wie immens die globale Migration zugenommen hat, wie viele Menschen auf der Flucht vor Kriegen, wirtschaftlicher Not und Klimakatastrophen sind. Ai Wei Wei präsentiert sich vor allem als unermüdlicher Zeuge, der eine Fülle an dokumentarischem Material versammelt, das wir gerade beginnen als historisch zu verstehen – und dessen Unabschließbarkeit dabei auf die politische Zukunft verweist, die uns nicht nur in Europa bevorsteht.

 

Die iranische Künstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat war in Venedig nicht nur mit einer großen Ausstellung vertreten, sondern auch mit einem Beitrag in der Nebenreihe Giornate degli Autori. Nachdem sie mit WOMEN WITHOUT MEN vor einigen Jahren den Regiepreis im Wettbewerb gewonnen hatte, war die Erwartung an ihren neuen Spielfilm groß, zumal Martin Gschlacht wieder hinter der Kamera stand. Visuell ist LOOKING FOR OUM KULTHUM auch durchaus sehr ansprechend – dramaturgisch vermag er leider weniger zu überzeugen. Zu sehr verbleibt das Drehbuch an Gemeinplätzen und verpasst es so, das äußerst spannende Setting zu einem tieferen Zusammenhang zu verbinden. Denn gerade das Ringen der emanzipierten Dokumentarfilm-Regisseurin, die als Protagonistin zur Verdopplung von Neshats eigenem Ringen um eine weibliche Position fingiert, wäre eine hervorragende Metaebene gewesen, um die Geschichte der ägyptischen Revolution zu befragen. Aber man erfährt nicht viel über die Beweggründe der Künstlerinnen, was über den Zwiespalt des kommerziellen Erfolges hinaus ginge. Eine spannende Entdeckung bleibt jedoch das Sujet des ganzen Projekts: Die Sänger-Ikone Oum Kulthum als vereinigendes Element zwischen den inneren Gegensätzen der ägyptischen Gesellschaft, zwischen kolonialer Besetzung und islamischer Revolution. Diese starke Frauenfigur auch im Westen bekannter zu machen, bildete für Neshat das Hauptanliegen ihres Films.

 

Angels Wear White 2017

Angels Wear White © Venice International Filmfestival 2017

Einziger Wettbewerbsfilm aus China und zugleich auch einziger Beitrag einer weiblichen Regisseurin war in diesem Jahr ANGELS WEAR WHITE von Vivian Qu. Thema des  in einem malerischen Beach-Ressort an Chinas “Goldküste” spielenden Films ist der sexuelle Missbrauch zweier zwölfjähriger Mädchen in einem Motel durch einen hochrangigen Polizisten, der Patenonkel des einen Opfers. Einzige Zeugin ist Mia, die junge Aushilfsrezeptionistin des Motels. Da diese jedoch keine Papiere hat und dort illegal arbeitet, tut sie so, als habe sie nichts mitbekommen – aus Angst um ihren Job. Am Ende wird der Fall erfolgreich vertuscht. Qu, die schon als Produzentin des Berlinale-Gewinners “Black Coal, Thin Ice” auf sich aufmerksam machte, prangert (Macht)-Missbrauch und Korruption sowie die Stellung der Frau in der chinesischen Gesellschaft an. Dabei positioniert sie sich zwar klar auf der Seite der wehrlosen weiblichen Opfer, wahrt aber dennoch eine gewisse Distanz zu ihren Protagonistinnen, was sich ein wenig auch auf die Zuschauer überträgt. Dennoch ein mutiger und eindringlicher Film, der am Ende aber ohne Auszeichnung blieb.

 

La Villa 2017

La Villa © Venice International Filmfestival 2017

Ein schönes Stück Ensemble-Kino ist Robert Guédiguian (SCHNEE AM KILIMANDSCHARO) mit LA VILLA gelungen. In einem verträumten Küstenort nahe Marseille treffen sich drei Geschwister wieder, weil der Vater im Sterben liegt. Das Treffen wird ganz unvermittelt zur Bestandsaufnahme ihres bisherigen Lebens, denn alle stehen an einem Scheidepunkt und fragen sich, ob das Leben noch Überraschungen für sie bereithält. Doch die Angst vor Veränderungen lähmt sie, ein Stillstand, den auch das idyllische Feriendorf symbolisiert. Die Fischfänge sind marginal und Touristen hat man schon länger nicht mehr gesehen. Die einzigen, die noch regelmäßig kommen, sind Grenzpolizisten auf Patrouille, die nach Flüchtlingen suchen. Und so kommt tatsächlich eine neue Perspektive in das Leben der Geschwister, als sie drei Flüchtlingskinder finden und beschließen, sie bei sich aufzunehmen. Platz genug haben sie ja und Zeit auch. Stellt sich nur die Frage, ob es zu den Kindern auch Eltern gibt, doch die Polizei informieren wollen sie nicht, zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einem Waisenhaus landen oder gar abgeschoben werden. Guédiguian betrachtet die Flüchtlingsproblematik nicht politisch, sondern menschlich. In Südfrankreich ist sie alltäglich vorhanden und so wie seine Protagonisten hätten wohl die meisten gehandelt, aus Instinkt und nicht aus politischer Überzeugung. Dass sie dabei die Kinder erst einmal vor den Behörden schützen, zeigt das Misstrauen, das man staatlichen Lösungen inzwischen entgegenbringt, und umgekehrt sorgt die Ankunft der Kinder für eine ungemeine Belebung und Bereicherung.