74. Internationalen Filmfestspiele von Venedig

Mektoub, My Love 2017

Mektoub, My Love © Venice International Filmfestival 2017

Ebenfalls an der französischen Mittelmeerküste spielt Abdellatif Kechiches (Goldene Palme für BLAU IST EINE WARME FARBE) MEKTOUB, MY LOVE, allerdings im Jahre 1994. Drei Stunden lang (und auch noch als Dreiteiler angelegt) beobachtet der junge Amin, ein Drehbuchschreiber aus Paris, das muntere Partyleben der 1990er Jahre. Dabei fährt Kechiches Kamera gerne mal an den weiblichen Formen seiner Protagonisten entlang, bis in den Ausschnitt, um dann beim Melken einer Ziege zu landen. Sein Urlaubsfilm mutet dabei dennoch so unschuldig an, als sei er aus einer anderen Welt, auf die Dauer von drei Stunden ermüdet er das Publikum jedoch mit endlosen Dialogen, die nicht einmal auf der Figurenebene interessant sind. Was er mit seinem vorangestellten Koran-Zitat vermutlich als größeren Zusammenhang andeuten wollte, ist eine Kritik an der Sexualfeindlichkeit der religiös-radikalisierten Gesellschaft. Das goldene Licht, in das die Kamera Körper, Landschaften und mediterrane Lebensräume taucht, lässt sich als eine andere Gottesvorstellung verstehen, einer alles verbindenden Sinnlichkeit. Beinahe utopisch-entrückt wirken die Szenarien, in denen Männer und Frauen kulturübergreifend zusammen das Leben feiern, in der Ferne deutet sich bereits der Krieg im Nahen Osten an. So interessant das Konzept auch ist – in seiner Umsetzung funktioniert es leider nicht.

 

Racer and the Jailbird 2017

Racer and the Jailbird © Venice International Filmfestival 2017

In RACER AND THE JAILBIRD (Le Fidèle) gibt es endlich ein Wiedersehen mit Adèle Exarchopoulos  (BLAU IST EINE WARME FARBE), die die junge Rennfahrerin Benedicte spielt, die sich unsterblich in den zwielichtigen Gino (Matthias Schoenaerts) verliebt. Doch der ist keine Unbekannter in der Brüsseler Unterwelt, was ihre bedingungslosen Gefühle bald vor große Probleme stellt. Regisseur Michael R. Roskam (BULLHEAD) bezeichnet seinen Film als eine ‘amour noir’, eine Liebestragödie, die den zweiten Teil seiner Kriminalitäts-Trilogie darstellt und ähnlich wie BULLHEAD tief in die Brüsseler Unterwelt abtaucht. Doch nicht diese will er porträtieren, sondern die ausgesprochen leidenschaftliche Liebesbeziehung, welche nicht sein kann. Toll fotografiert und überzeugend gespielt, legt er eine Genre-Arbeit vor, die vielleicht ein wenig zu lang geraten ist.

 

Außerhalb der Konkurrenz machte vor allem David Battys Doku MY GENERATION großen Spaß, in der sich Sir Michael Caine höchstpersönlich wieder zurück ans Steuer seines Cabrios begibt, um uns in das Epizentrum der Swinging Sixties in London zu führen. Dort wartet eine Fülle an mitreißendem Archivmaterial der Beatles, Stones und The Who sowie jede Menge toller Interviewpartner auf den Zuschauer. Twiggy, legendäre Fotografen wie David Baily und Stil-Ikonen wie Vidal Sasson führen durch das stimmungsvolle und nostalgische Bild der ersten Jugendkultur, die Klassengrenzen aufhob und Pop salonfähig machte. Untermalt von einem dynamischen Soundtrack der großen Hits dürfte sich diese Doku für eine Kinoauswertung anbieten. Auf der Pressekonferenz gab sich Michael Caine ausgesprochen bescheiden und wollte nicht von seinem enormen Talent reden, vielmehr meint er, dass es da oben im Himmel jemanden geben muss, der es gut mit ihm meint und so eine phantastische Karriere bescherte.

 

Los Versos del Olvido 2017

Los Versos del Olvido © Venice International Filmfestival 2017

Ein weiterer Fund in der ebenfalls sehr starken Nebensektion Orizzonti war LOS VERSOS DEL OLVIDO vom iranischen Autor und Regisseur Alireza Khatami, der seine poetische Geschichte über die Folgen einer nicht näher benannten Militärdiktatur nach Lateinamerika verlegt. Dorthin überträgt er eigene Erfahrungen, die er mit magischem Realismus und großartiger Lakonie erzählt, ähnlich wie Pablo Larraìn. Ausgezeichnet wurde die kleine Filmperle mit dem Preis für das Beste Drehbuch.

 

Under the Tree 2017

Under the Tree © Venice International Filmfestival 2017

Ansprechend war auch der isländische Beitrag UNDER THE TREE von Hafsteinn Gunnar Sigurdsson, der uns in dem Original zu PRINCE AVALANCHE (und dessen Drehbuch-Adaption) schon mit seinem schwarzen Humor zu begeistern wusste. Kurzweilig und ziemlich böse lässt er hier einen Nachbarschaftskonflikt um einen zu fällenden Baum im Garten eskalieren – dabei kommen nach und nach verdrängte Familienkonflikte ans Licht.

 

Auch der israelische Film THE TESTAMENT überzeugte mit einer wendungsreichen Geschichte um einen grimmigen Rabbi, der in einer österreichischen Kleinstadt auf der Suche nach einem Massengrab ist, bei den Bewohnern jedoch auf verschlossene Türen stößt. Die Suche nach der Wahrheit lässt ihn schließlich auf ein geheimes Zeugnis seiner Mutter stoßen, das seine eigene Existenz grundlegend in Frage stellt. Amichai Greenberg gelingt ein fesselnder Krimi, den er zusammen mit einigen Holocaust-Überlebenden entwickelt hat, die dort in bewegenden Rollen zu sehen sind.

 

Marwin 2017

Marwin © Venice International Filmfestival 2017

Gleichwohl eine Coming-of-age wie eine Coming-out-Geschichte ist MARVIN von Anne Fontaine (“Coco before Chanel”), der in der Reihe “Orrizonti” lief. Prominente Unterstützung erhält der Film durch Isabelle Huppert, die auch eine kleine Rolle übernommen hat. Im Mittelpunkt steht Marvin Bijoux, den wir als Kind und als jungen Mann kennen lernen. Aus schwierigen Verhältnissen kommend – sein aus der Arbeiterklasse stammender Vater ist Alkoholiker und auch seine Mutter gibt ihm und seinen Geschwistern wenig Halt – hat er mit den Hänseleien seiner Schulkameraden zu kämpfen, die merken, dass er anders ist als sie. Er interessiert sich wenig für Dinge, die Jungs normalerweise tun und hält sich lieber im Abseits. Erst eine Lehrerin, die sein schauspielerisches Talent entdeckt, öffnet ihm eine neue Perspektive, als sie ihm ein Stipendium an einer Schauspielschule vermittelt. Als junger Mann bekommt er schließlich in Paris durch die Liaison mit einem wohlhabenden Schwulen Kontakt zu Isabelle Huppert (die sich hier selbst spielt), die ihn unterstützt und zu einer eigenen Show verhilft. Beide Zeitebenen werden nicht linear, sondern in Sprüngen aus der Perspektive des erwachsenen Marvin erzählt. Vor allem Jules Porier, der Marvin als Kind verkörpert, kann hier mit seinem sensiblen und anrührenden Spiel überzeugen. Leider kommt Anne Fontaine nicht ohne Klischees aus, was den insgesamt positiven Gesamteindruck ein wenig schmälert.

 

Espèces Menacées 2017

Espèces Menacées © Venice International Filmfestival 2017

Besonders hervorzuheben wäre auch der Orrizonti Beitrag von Gilles Bourdos (RENOIR), der mit seinem Ensemble-Drama ESPÈCES MENACÉES ein sensibles Porträt familiärer Strukturen zeichnet. Im Mittelpunkt steht die Beziehung des jungen Paares Joséphine und Tomasz, deren Überschwang zunächst nach großer Liebe aussieht – jedoch durch Eifersuchts-Szenarien immer mehr in häusliche Gewalt abdriftet. Dem verzweifelten Vater der jungen Frau fällt es schwer, ihre zunehmende Hörigkeit zu verstehen. Der Mittzwanziger Anthony dagegen ist Doktorand, schreibt jedoch seine Arbeit nicht. Stattdessen lässt er sich mehr und mehr in die Psychose seiner Mutter hineinziehen, die ihn in die Rolle des Partnerersatzes hineinmanipuliert. Auch die Studentin Melanie scheint kein glückliches Händchen für Beziehungen zu haben, denn sie erwartet ein Kind von ihrem Professor – doch vielleicht ist auch diese Liebe anders als sie für Außenstehende zunächst scheint. Bourdos lässt die Erzählstränge niemals zusammenfallen, auch wenn sie einander ständig berühren, dies verhindert jegliches Gefühl der Konstruiertheit. Es ist vor allem dem grandiosen Schauspieler-Ensemble zu verdanken, dass die zwischenmenschlichen Konflikte jederzeit glaubhaft und mitreißend wirken, darunter Suzanne Clément und Grégory Gadebois.

 

Nico 1988

Nico © Venice International Filmfestival 2017

Als Gesamtsieger ausgezeichnet wurde in der Sektion dann jedoch das Bio-Pic NICO, 1988 – hervorragend gespielt und gesungen von der Thomas Vinterberg Darstellerin Tryne Dyrholm, die den Mut aufbrachte, sich in die letzten Jahre der einstigen Schönheitsikone hineinzuversetzen. Zu Unrecht auf ihre Zeit mit “The Velvet Underground” reduziert, leidet Nico an der fehlenden Anerkennung ihrer zu avantgardistischen Musik, die bereits Punk und New Wave einläutete. Ebenso krankt sie an ihrer Drogensucht und einer psychisch-desolaten Verfassung, die bis zur Bombardierung von Berlin in ihrer Kindheit zurückreicht. Konventionell, aber solide inszeniert, funktioniert der Film für das Publikum und thematisiert auch die umstrittene Geschichte um ihre Liebschaft mit Alain Delon, der den aus ihr entstandenen Sohn bis heute nicht anerkennt – obwohl Delons Mutter ihn sogar gegen seinen Willen adoptiert hat.

 

Foxtrott 2017

Foxtrott © Venice International Filmfestival 2017

Die zweitwichtigste Auszeichnung im Wettbewerb, der Große Preis der Jury, ging an FOXTROT von Samuel Maoz, dessen surreale Komposition einen starken Eindruck hinterließ: In drei komplex erzählten Episoden entwirft er ein Bild der traumatischen Strukturen, welche die anhaltende Besatzungspolitik in die israelische Gesellschaft einschreibt. Jeder Schritt nach vorne zieht wie beim Foxtrott ein Rückwärtspendeln nach sich, so dass der dynamische Tanz sich im Grunde auf der Stelle bewegt. Die Spirale jenes vor und zurück übersetzt Maoz so gelungen in Bilder und Geschichten, wie er seinen Film LEBANON komplett durch den Sucher eines Panzerfernrohrs inszenierte und damit 2009 den Goldenen Löwen holte. Ähnlich originell findet er in FOXTROT Perspektiven, die Generation der Shoah mit ihren Kindern und Enkeln zu verschränken – eben durch das Nicht-Erzählbare, das trotzdem in den Menschen arbeitet und wirkt, sich fortsetzt und wiederholt. Die offenen und provokanten Szenen, welche Maoz zur Adressierung dieses Unfassbaren erfindet, verdichten die Erfahrung von Krieg, Schuld und Verlust zu ausdrucksstarken Momenten, die verstören wie berühren.

 

The Insult 2017

L’Insulte – The Insult © Venice International Filmfestival 2017

Nach Beirut hingegen führt uns Ziad Doueiri, dessen Film L’INSULTE mit einem unbedeutenden Nachbarschaftsstreit beginnt. Toni ist Christ und lebt in einem Arbeiterviertel Beiruts, wo er auch eine kleine Autowerkstatt betreibt. Er hat sich ein kleines Appartement gekauft, wo er es sich mit seiner hübschen und schwangeren Frau gemütlich machen will. Als er eines Tages die Pflanzen auf seinem Balkon wässert, läuft das Wasser durch eine defekte Abwasserleitung auf die Straße und spritzt den Palästinenser Yasser nass, der gerade mit einem Bautrupp Schäden an öffentlichen Gebäuden und Straßen beseitigt. Er beschwert sich vehement, vergreift sich im Ton und beleidigt Toni aufs Schärfste. Dennoch repariert er auf Geheiß seines Chefs den Abfluss, sein Werk jedoch wird von Toni mit dem Vorschlaghammer wieder zerstört. Er fühlt sich in seiner Ehre gekränkt und verlangt eine Entschuldigung, bevor er Reparaturen an seinem Eigentum zulässt. Als Yasser dies auf Druck seines Vorgesetzten tun will, wird er von Toni derart provoziert, dass er ihm zwei Rippen bricht. Der Fall landet vor Gericht. Eigentlich eine Bagatelle, wird daraus bald eine politische Kontroverse, die von den Medien breit getreten und den verschiedenen Volksgruppen immer wieder neu befeuert wird. Doch Regisseur Doueiri, will uns nicht nur zeigen wie schnell im Libanon aus einer Mücke ein Elefant wird, in der zweiten Hälfte entwickelt sich der Film zu einem Gerichtsdrama, in dem die Anwälte überraschend deutlich klar machen, warum sich die Protagonisten nicht entschuldigen können. Ihr gegenseitiger Hass ist tief in ihrer Vergangenheit verwurzelt, beide Parteien sehen sich als Opfer und im Recht, was ein Schuldeingeständnis unmöglich macht. So erklärt uns der Film im Kleinen überraschend plausibel den großen Nahost-Konflikt, doch dass dafür Kamel El Basha in der Rolle des palästinensischen Vorarbeiters mit der Coppa Volpi als Bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, ist schwer nachvollziehbar, wenn schon, dann hätten beide Protagonisten den Preis ex aequo verdient.

 

Hannah 2017

Hannah © Venice International Filmfestival 2017

Auch der Coppa Volpi für Charlotte Rampling als Beste Schauspielerin sorgte für Erstaunen angesichts der herausragenden Leistungen von Frances McDormand und Sally Hawkins, die sich berechtigt Hoffnungen aus diesen Preis machen konnten. Doch das Reglement in Venedig schreibt vor, dass jeder Film in nur einer Kategorie ausgezeichnet werden darf, und so vergab die Jury den Preis an die französische Schauspielerin für ihre Rolle in HANNAH, wo sie die Titelfigur an der Seite von André Wilms spielt. Zwar trägt Rampling den Film quasi alleine, und natürlich steht ihr der Preis allein schon wegen ihrer Lebensleistung zu, doch Andrea Pallaoros Porträt einer Frau, deren Mann gerade ins Gefängnis gesperrt wurde, bleibt seltsam verrätselt und ausgesprochen blass. Der elliptische Erzählstil erschwert die Empathie mit der Protagonistin, die aufgrund der nur angedeuteten Tat ihres Mannes von ihrer Umwelt gemieden und immer mehr in die Isolation getrieben wird. Selbst ihr Hund zieht sich vor ihr zurück und verweigert das Essen, ihr Sohn weist sie kühl ab, als sie mit einem selbst gebackenen und liebevoll dekorierten Kuchen auf der Geburtstagsfeier ihres Enkels erscheint. Hier in dieser Szene gelingt es Pallaoro allerdings, den Zuschauer emotional zu packen und Rampling läuft zur wahren Höchstleistung auf.