Die 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin – Ein Festivalbericht

Das 70. Jubiläum der Berlinale stand unter einem ganz besonderen Stern. Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek lösten den bisherigen Leiter Dieter Kosslick ab, der der Berlinale in den letzten beinahe zwanzig Jahren seinen Stempel aufgedrückt hat. Unter ihm wurde sie zu einem Mammut-Festival, was nicht nur 22.000 Fachbesucher, sondern auch über 330.000 gewöhnliche Besucher mit oft über 400 Filme anzog. Genau diese Vielfalt wurde Kosslick zuletzt vorgeworfen, und der neuen Leitung wurde quasi das Motto mit auf den Weg gegeben: “Weniger kann auch mehr sein!”. Doch allzu offensichtliche Änderungen hat es gar nicht gegeben. Zwar wurden die Reihen “Indigenes Kino” und “Kulinarisches Kino” gestrichen, gleichzeitig aber mit “Encounters” eine neue etabliert.

My Salinger Year - 2020

My Salinger Year – 2020

Insgesamt erwartete man im Vorfeld bessere Filme und dafür weniger Glamour. Weniger Stars kamen in diesem Jahr tatsächlich an die Spree, doch mit dem Eröffnungsfilm gelang eine kleine Überraschung, erwies sich MY SALINGER YEAR des kanadischen Regisseurs Philippe Falardeau (MONSIEUR LAZHAR) doch als ausgesprochen gefälliges Wohlfühlkino, das auf dem roten Teppich mit den Hollywoodstars Sigourney Weaver und Margaret Qualley (ONCE UPON A TIME… IN HOLLYWOOD) für das Berlinale-typische Blitzlichtgewitter sorgte. Dass dieser durch und durch sympathische Film auf einer wahren Geschichte beruht, wurde spätestens auf der Pressekonferenz klar, als die US-Schriftstellerin Joanna Rakoff, deren autobiographischer Roman die Vorlage war, von ihren ersten Erfahrungen mit einer Filmproduktion und ihrer Begegnung mit den Stars erzählte. In ihm erzählt sie, wie die junge Joana in den 1980er Jahren nach New York kommt, um Schriftstellerin zu werden. Der erlauchte Zirkel der Literaturszene ist zwar noch recht klein, aber umso abgeschlossener. Sie erhält den Rat, bei einer Literaturagentur anzuheuern, um in der Szene Fuß zu fassen und gerät so an die Agentin Margaret (Sigourney Weaver), wird bald zu ihrer Assistentin und darf die Fanpost von Kultautor J.D. Salinger, dem Stolz der Agentur, beantworten. Falardeau inszeniert diese wie fürs Arthaus geschaffene Geschichte als Lehrjahr Joanas, in dem sie nicht nur mit dem noch etwas verträumten Literaturbetrieb jener Zeit in Berührung kommt, sondern auch zum Mitglied dieser Szene wird und am Ende sogar Salinger persönlich kennenlernt. Er unterstützt ihre schriftstellerischen Ambitionen und trägt ihr auf, täglich wenigstens 15 Minuten pro Tag zu schreiben.

Hidden Away - 2020

Hidden Away – 2020

Nach dieser ganz gelungenen Eröffnung begann der Wettbewerb mit dem italienischen Beitrag: Unter einer Decke lugt ein Auge hervor, das sich sogleich wieder verbirgt, nur um wenige Sekunden später wieder mit staunender Neugierde herauszuschauen. Diese Anfangseinstellung ist bezeichnend für Giorgio Dirittis biografisches Meisterwerk HIDDEN AWAY, das dem schweizerisch-italienischen Künstler Antonio Ligabue ein Denkmal setzt. Antonio – oder auch einfach „Toni“ – ist eine hochsensitive Natur. Ihm fällt es schwer, die vielseitigen Eindrücke seiner Umwelt zu filtern und zu verarbeiten. Sein absonderliches Benehmen wird schnell als „verhaltensgestört“ klassifiziert. Man kann sich also ausmalen, dass ihn die soziale Ablehnung, die ihm zuteil wird, schwer prägt und schon früh eine gebeutelte, stigmatisierte Figur aus ihm gemacht hat, die den Launen des oft grausam handelnden Sozialgefüges hilflos ausgeliefert ist. Mit einer Bildsprache, die die leuchtenden Farben der Natur und das Leben selbst förmlich aufzusaugen scheint, fühlt sich Giorgio Diritti in die Weltperzeption des Künstlers Ligabue ein, wechselt aber auch immer wieder in eine beiläufigere, neutralere Beobachterperspektive. Nach Julian Schnabels VAN GOGH ist dies ein weiteres impressionistisches Künstler-Epos, das sich mit dramaturgischer Kunstfertigkeit auf einen herausragenden Darsteller konzentriert. Elio Germano spielt den exzentrischen Maler der „art brut“, dessen Weltwahrnehmung Segen und Fluch zugleich ist, mit schmerzender Intensität. So faucht er die eigenen Bilder von Tigern oder anderen wilden Tiere, anstatt sie stillschweigend zu pinseln, beim schmierigen Malprozess an oder brüllt in das Maul des tönernen Löwenkopfes, den er gerade formt, hinein. HIDDEN AWAY  ist von einer selten genuinen Imposanz und Schönheit, was der frenetische Applaus nach der Premierenvorführung bestätigte. Hauptdarsteller Elio Germano, der auch mit BAD TALES im Wettbewerb vertreten war, wurde für seine verblüffende, ans Unheimliche grenzende Tour-de-Force-Inkorporation Ligabues von der Jury der Silberne Bär zuerkannt. Völlig zurecht!

Undine - 2020

Undine – 2020

Nicht vollkommen unberechtigt, aber angesichts der starken Konkurrenz doch überraschend, holte Paula Beer für ihre Darstellung einer Wassernixe in Christian Petzolds UNDINE den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Die Wasserfrau als Mythos beschäftigt die Literatur schon seit der Antike. Ihre Darstellung schwankt zwischen mörderischer Nixe und erlösungsbedürftiger Meerjungfer, bleibt jedoch immer auf den Mann bezogen. Inspiriert von Ingeborg Bachmanns feministischer Relektüre „Undine geht“ entfaltet Christian Petzold mit seinen beiden Hauptdarstellern aus TRANSIT erneut eine Liebesgeschichte, die das Gespenstische in ihren Mittelpunkt stellt, und danach fragt, ob es ein Entkommen aus der Geschichte gibt. Petzolds Undine (Paula Beer) lebt als promovierte Historikerin in Berlin in einem kleinen Apartment am Alexanderplatz und gibt in einem Museum Führungen durch die Stadtgeschichte. Der Mythos, der sich in ihrem Vornamen ankündigt, bleibt für die Zuschauer meist implizit. Wenn Undine ihrem Freund in ruhigem Ton droht, ihn töten zu müssen, wenn er sie verlässt, wird sie als Wasserfrau erkennbar. Doch diesmal ringt sie mit dem Wiederholungszwang, der ihrem Wesen scheinbar auferlegt ist. Sie möchte nicht in das Wasser zurückkehren, das nach ihr ruft, sondern Land gewinnen und selbstbestimmt leben. Auch die Metropole Berlin wurde einst auf einem trockengelegten Sumpf gebaut. Geschickt verwebt Petzold in seinem Film Stadtporträt und Mythos, Liebesgeschichte und Zeitkritik. Als Undine den Industrietaucher Christoph (Franz Rogowski) kennenlernt, wird sie nicht nur von Gefühlen überschwemmt, sondern auch von den dunklen Zwängen der eigenen Vergangenheit. Parallel dazu sieht man sie Vorträge über das Berliner Schloss halten, an dem sich heute das umstrittene Humboldt Forum befindet, das im September 2020 eröffnen wird. Wo sich einst die Königliche Residenz befand, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, stand in der Zeit der DDR dort der Palast der Republik. Als Kulturforum sollte es für emanzipatorische Politik stehen. Trotz seiner wegweisenden Architektur wurde das Gebäude nach der Wende abgerissen, auch aufgrund der restaurativen Wünsche, das alte Schloss wieder aufzubauen und dort das Humboldt Forum einzurichten. Kann es so etwas wie Emanzipation geben, oder gehen die Traumata der Geschichte dem Menschen immer schon soweit voraus, dass das eigene Leben von ihren Gespenstern überschatten wird? Christian Petzold findet in den Beziehungskonstellationen Undines zwischen Heimsuchung und Selbstbefreiung Zugang zu den Themen, die er in seinen Filmen immer wieder variiert.

Schwesterlein - 2020

Schwesterlein – 2020

Die beiden Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond präsentierten einen weiteren Berliner Stadtfilm im Wettbewerb, der trotz seiner prominenten Besetzung mit Nina Hoss und Lars Eidinger für gemischte Reaktionen sorgte. SCHWESTERLEIN ist ein im Theatermilieu der Berliner Schaubühne angesiedeltes Krebsdrama, das als Beziehungs- und Charakterstudie zweier ungleicher Geschwister viele Möglichkeiten verschenkt in die Tiefe zu gehen. Lisa (Nina Hoss) und ihr Zwillingsbruder Sven (Lars Eidinger) kommen aus einer Künstlerfamilie, haben jedoch unterschiedlich Lebenswege eingeschlagen. Während die vormalige Theaterautorin ihre Ambitionen schon länger für ein konservatives Familienleben aufgegeben hat, gehört ihr Bruder zu den gefeierten Schauspielstars der Berliner Schaubühne, bis eine Leukämieerkrankung ihn aus der Bahn wirft. Da die Mutter der beiden zu selbstbezogen ist, um ihren kranken Sohn zu pflegen, erklärt sich die verantwortungsvolle Lisa bereit, Sven zu sich zu nehmen. Seit Jahren lebt sie mit ihrem karrierebewussten Ehemann Martin und zwei Kindern in einem kleinen Dorf in der Schweiz, das Sitz eines internationalen Elite-Internats ist und von Martin geleitet wird. Die Dreieckskonstellation zwischen ihm und den beiden innig verbundenen Geschwistern hätte äußerst spannend sein können, stattdessen konzentrieren sich die beiden Regisseurinnen jedoch nur auf die Ehekrise Lisas und ihre verhinderte Selbstverwirklichung. Das nimmt gerade Lars Eidinger den Raum, seine Figur auf komplexere Art zu entfalten und reduziert ihn auf bekannte Formate. Die Hänsel und Gretel-Geschichte, die der Film am Ende erzählen will, verliert somit ihre Vielschichtigkeit und vermag wenig zu rühren, da gerade die Geschwisterbeziehung unterbeleuchtet bleibt.

Persischstunden - 2020

Persischstunden – 2020

Eine wesentlich stärkere Leistung zeigte Lars Eidinger in Vadim Perelmans PERSISCHSTUNDEN, der leider nur als Berlinale Special zu sehen war. In der deutsch-russischen Koproduktion erzählt der in der Ukraine geborene und in Amerika lebende Regisseur eine außergewöhnliche Geschichte des Überlebens. 1942 wird der belgische Jude Gilles von der SS verhaftet und in ein Konzentrationslager nach Deutschland gebracht. Hier erwartet ihn die Ermordung, doch Gilles entgeht der Exekution, in dem er immer wieder behauptet, nicht Jude, sondern Perser zu sein. Tatsächlich wird die Lagerküche von einem deutschen Offizier namens Koch geleitet, der nach dem Krieg seinem Bruder nach Teheran folgen will, um dort ein Restaurant zu eröffnen. Die Kriegszeit sieht er als Zeitverschwendung, die er nutzen will, um Farsi zu lernen, und genau das soll Gilles ihm in den kommenden Monaten beibringen. Ein schwieriges Unterfangen, wenn man kein Wort Farsi spricht, doch Gilles entwickelt ein raffiniertes System, um eine Sprache komplett zu erfinden. Dabei kämpft er stets gegen das Misstrauen der deutschen Offiziere an, die ihn gerne als Hochstapler überführen würden. Am Anfang ist Gilles recht unsicher, weiß er doch, dass ein Fehler sein Todesurteil bedeutet, doch mit der Zeit entwickelt er eine beeindruckende Routine, die ihn größere und kleiner Krisenmomente souverän bewältigen lassen. Perelman gelingt es nicht nur, ein schweres Thema mit großer Leichtigkeit zu inszenieren, er trotzt dem vorgegebenen Verhältnis seiner beiden Protagonisten sogar eine Entwicklung ab, das am Anfang von dem Überlebenswillen Gilles’ geprägt ist und am Ende von einem Selbstbewusstsein, das den Nazi-Offizier oft wie einen kleinen Jungen aussehen lässt. Lars Eidinger überragt in seinem Spiel zwischen Naivität und Gewalt und es gelingt ihm, sein Gegenüber Nahuel Perez Biscayart, den wir noch aus 120 BPM kennen, mit seiner Spielfreude anzustecken, wie es ihm im letzten Jahr auch in 25 KMH mit Bjarne Mädel gelang.

Berlin Alexanderplatz - 2020

Berlin Alexanderplatz – 2020

Doch zurück zum Wettbewerb, auch der dritte deutsche Beitrag BERLIN ALEXANDERPLATZ kann als Berlin-Film gesehen werden, auch wenn seine Vorlage, der Jahrhundertroman von Alfred Döblin, zur Weltliteratur zählt und gerne mal mit Joyces “Ulysses” verglichen wird. Ältere Jahrgänge erinnern sich bestimmt an die Fassbinder-Verfilmung von 1980, die in 13 Teilen plus Epilog ausgestrahlt wurde und zum Aufstand der deutschen Fernsehnation führte. War es damals der Protagonist Franz Biberkopf, der nach einem Gefängnisaufenthalt Ende der 1920er Jahre in ein Berlin entlassen wird, das er kaum wiedererkennt, so ist es jetzt in der Neuinterpretation von Burhan Qurbani der Flüchtling Francis, der beinah im Mittelmeer ertrinkt und dem sich nun in einem ihm völlig fremden Berlin eine zweite Lebenschance auftut. Genau wie Biberkopf ist er fest entschlossen diese zweite Chance zu ergreifen und ein guter Mensch zu werden. Doch genau das wird die Gesellschaft auch heute nicht zulassen, eigentlich wird Francis dort nie ankommen. Arbeitet er anfangs illegal für einen zwielichtigen Unternehmer im Berliner U-Bahn-Bau, trifft er später auf einen deutschen Drogendealer, mit dem ihm bald eine düstere Schicksalsgemeinschaft verbindet. Qurbani setzt in seinem Remake auf grandiose Bild- und Toneffekte, peppt den heute vielleicht etwas angestaubten Roman ordentlich auf, scheitert aber daran, ihn zu einem aktuellen Gesellschaftsporträt zu führen. Zu konzentriert ist er auf seinen Protagonisten, der von dem in Guinea geborenen Schauspieler Welket Bungué engagiert und dramatisch überzeugend gespielt wird. Bietet ihm Albrecht Schuch mit seiner schrägen Performance als eigenwilliger Drogendealer, der gelegentlich an Jonas Dassler in Fatih Akins DER GOLDENE HANDSCHUH erinnert, noch einen ansprechenden Counterpart, so bleiben weitere Rollen, etwa Joachim Krol als Gangsterboss wie auch alle Frauenrollen merkwürdig antiquiert und malen ein klischeehaftes Rotlicht-Milieu, wie man es aus eher vergangenen Filmzeiten kennt. BERLIN ALEXANDERPLATZ hat viele gute Ansätze, ist trotz seiner drei Stunden Länge nie langweilig, aber er ist durchaus anstrengend und nicht wirklich rund, was es ihm im Kino nicht leicht machen wird.

Das Salz der Tränen - 2020

Das Salz der Tränen – 2020

Zu Unrecht wurde dem 71-jährigen Philippe Garrel vorgeworfen, nichts weiter als die Klischees des “Altherrenkinos” zu bedienen. Vielmehr stellte er mit seinem Wettbewerbsbeitrag DAS SALZ DER TRÄNEN unter Beweis, wie unbequem und provokativ französische Charakterdramen immer noch sein können. Garrel präsentiert einen Protagonisten, der als verantwortungsloser Frauenheld und Taugenichts durchaus unsympathisch ist, doch gerade das erweist sich als Clou der Geschichte. Anstatt der optimistischen Dramaturgie von “Coming-of-Age”-Filmen zu folgen, blickt Garrel mit feiner Ironie auf die Unbelehrbarkeit des Menschen. Sein Protagonist Luc ist vom Lande nach Paris gekommen, um an einer Schule für Kunsthandwerk seine Tischler-Ausbildung zu absolvieren. Dabei folgt er eigentlich nur den unverwirklichten Wünschen seines Vaters, ohne dies so recht in Frage zu stellen. Da es ihm an eigenen Lebensperspektiven mangelt, fixiert sich Luc auf das Suchen und Finden der Liebe. Selbstbezogen und unreif wie er ist, hinterlässt er bei seinen Partnerinnen meist nur Tränen. Doch auch die Frauen scheitern daran, sich zu entfalten und suchen ihre Handlungsmacht nur in der eigenen Mutterschaft und der Gründung einer Familie. Luc begegnet schließlich einer Frau, die freier zu leben scheint als die meisten, dabei ist sie nur genauso bindungsunfähig wie er. In der offenen Beziehung, die er mit ihr eingeht, steht er bald selbst als der Gehörnte da. Am Ende wird Luc das erste Mal bittere Tränen vergießen, aber nicht über die romantische Liebe, sondern seine Unfähigkeit dem eigenen Leben Sinn zu geben. Garrel gelingt nach seinen pointierten Charakterstudien IM SCHATTEN DER FRAUEN und LIEBHABER FÜR EINEN TAG erneut ein lakonischer Blick auf die Unzulänglichkeit menschlichen Zusammenlebens.

El Prófugo - 2020

El Prófugo – 2020

Als erotischer Psychothriller kündigte sich EL PRÓFUGO (engl. THE INTRUDER) an und versprach gediegene Abwechslung im Wettbewerb. Es geht um die in Buenos Aires als Synchronsprecherin für japanische B-Filme arbeitende Inés, die nach einer traumatischen Erfahrung während einer Urlaubsreise von Schlafstörungen und lebhaften Albträumen heimgesucht wird. Parallel dazu nehmen die Studiomikrofone auf der Arbeit seltsame Geräusche auf, die von ihrem Körper auszugehen scheinen. Immer mehr hat Inés das Gefühl, dass sich ihre Träume und Traumgestalten in der Realität manifestieren. Doch wo fangen die Träume an und wo hört die sogenannte Realität auf? Der argentinische Thriller mit humoristischen Einsprengseln und Horrorelementen erinnert inhaltlich vage an Darren Arronofskys BLACK SWAN, in dem eine Ballerina schrittweise von psychotischen Halluzinationen eingeholt wird. Die einnehmende Hauptdarstellerin Érica Rivas spielt wacker gegen die disparaten Tonlagen des Films an, doch auch sie kann Natalia Metas halbgaren Thriller nicht vor dessen eigener stilistischen Unentschlossenheit retten. THE INTRUDER ist leider keine erotisch knisternde Offenbarung feministischen Horrorkinos, sondern sehr brav und ehrlicherweise auch ein kleines bisschen langweilig.

Favolacce - 2020

Favolacce – 2020

2018 stellten die italienischen Zwillingsbrüder Damiano und Fabio D’Innocenzo bereits ihre erste Regiearbeit LA TERRA DELL´ABBASTANZA in der Panorama-Sektion dem Berliner Festivalpublikum vor. 2020 kehrten sie mit ihrem nunmehr zweiten Spielfilm zurück, der nun im Hauptwettbewerb konkurrierte und für den die Geschwister mit dem Silbernen Bären für das Beste Drehbuch ausgezeichnet wurden. In FAVOLACCE (engl. BAD TALES) sezieren sie in trüb durchlichteten, hitzeflirrenden Bildern die soziokulturelle Stagnation marginalisierter Gesellschaftsschichten vor der Kulisse des vorstädtischen Roms. Im Zentrum der Handlung stehen einige Familien: Kinder an der Schwelle zur Pubertät und deren etwas teilnahmslos vor sich hin lebende Eltern. Eigentlich noch zu unreif, erproben die Kinder bereits erste sexuelle Handlungen aneinander, aufgestachelt von der koketten Nachbarin, die auch manchen Familienvätern mit ihren knappen Outfits den Kopf verdreht. Doch unter der Fassade sommerlicher Unbekümmertheit schlummert die Frustration, die sich nach einem unauffindbaren Ventil verzehrt. Die milieubedingte Ausweglosigkeit und vorpubertäre Tristesse erzeugt schließlich einen Hang zur Autoaggression, die in einem selbstmörderischen Schlussakkord kulminiert. Neben Elio Germano, der gleichzeitig mit dem Film HIDDEN AWAY im Wettbewerb um den Goldenen Bären vertreten war, casteten die Regisseure größtenteils frische, relativ unbekannte Gesichter. Insbesondere die Kinderdarsteller, die keinerlei vorherige Kameraerfahrung mitbrachten, beeindrucken durch ihre Natürlichkeit und Ungezwungenheit. Ihre im Grunde recht düstere Geschichte inszenieren die Gebrüder D´Innocenzo mit meisterlicher, bitterböser Ironie und der genüsslichen Leichtigkeit einer Sommerbrise. Ihr unzuverlässiger Erzähler, der sich bis zum Schluss nie vollständig offenbart, aber doch eine tiefe Kenntnis über die Abläufe auf der Leinwand zu haben scheint, rundet den Film mit einer zynischen Note stimmig ab. Man darf sehr gespannt sein, welche Projekte diese talentierten Regie-Newcomer als nächstes anvisieren.

Effacer L´Historique - 2020

Effacer L´Historique – 2020

Für viele Lacher sorgte das französische Regie-Duo Benoît Delépine und Gustave Kervern, die uns schon mit ihren Filmen LOUISE HIRES A CONTRACT KILLER,  MAMMUTH und zuletzt MONSIEUR PIERRE GEHT ONLINE prächtig amüsiert haben. Mit EFFACER L´HISTORIQUE (dt. „Verlauf löschen“) lieferten sie eine herrlich absurde Groteske über die Wirren und Tücken des digitalisierten Lebens mit der alltäglich gewordenen Technik rund um Handy, Internet & Co ab. Die überzeichneten Figuren – ein Trio vom Pech verfolgter Arbeitsloser, bestehend aus Marie, Bertrand und Christine – sind alles andere als echte Digital Natives. Mit viel Ach und Krach stolpern sie durch den Alltag und zeigen sich überfordert mit den kleinen Geräten, die ihr Leben nicht nur bestimmen, sondern sogar über ihren bescheidenen Einfluss hinaus fest im Griff haben. Marie ist geschieden und will unbedingt die Aufmerksamkeit ihres Sohnes erringen, der beim reichen Papa lebt und sich dort mit neustem Schnickschnack verwöhnen lässt. Bertrand hingegen versucht seine Tochter erfolglos vor Cybermobbing zu schützen, derweil Christine, die nun „clean“ von ihrer Seriensucht ist, mit einem Uber-Taxi durchstarten möchte, für das es allerdings nur miserable Kundenbewertungen hagelt. Als nun Intriganten oder auch einfach nur das eigene Ungeschick dafür sorgen, dass die übermächtige Daten-Cloud ihre Identitäten vollends verschluckt, machen sich die drei auf eine aberwitzige Odyssee, um sich ihre Freiheit zurückzuholen. So simpel die Ausgangsidee und die manchmal etwas naiv-großväterliche Perspektive auf den gegenwärtigen Technikumgang auch sein mag: im Kern von EFFACER L´HISTORIQUE steckt viel Wahrheit. Delépine und Kervern inszenieren den Kampf der drei charmanten Loser gegen das Internet mit großem Einfallsreichtum und erfinden skurril-satirische Bilder für Dinge, die dem Ottonormalverbraucher in der Realität sehr abstrakt erscheinen müssen: der vollends abgeschirmte Superhacker namens „Gott“ wohnt hier in einem Windrad und ist machtlos, erpresserische Sextapes finden sich auf einer entsprechend beschrifteten externen Festplatte im Silicon Valley und die freundliche, weibliche Verkäuferinnenstimme ist natürlich ein tonnenförmiger Roboter. Das Trio tritt beherzt den Kampf des David gegen Goliath an und will in die Rechenzentren der gigantomanischen Konzerne eindringen. Wir im Kinosessel dürfen uns vor Lachsalven schütteln, nur um am Ende etwas desillusioniert zu werden, denn eine wirkliche Alternative gegen all unsere technischen Abhängigkeiten übersteigt dann selbst die Kreativität der Regisseure. Mit welch böser Komik sie unserer Gesellschaft allerdings den Spiegel ob der gedankenlosen Nutzung digitaler Technik vorhalten, war der Festivaljury schließlich sogar einen exklusiven Sonderpreis zum 70. Jubiläum der Berlinale wert!

Siberia - 2020

Siberia – 2020

Abel Ferrara wechselt immer mehr von einer narrativen zu einer assoziativen Bildsprache. War TOMMASO UND DER TANZ DER GEISTER noch komplett improvisiert, war das für seinen neuen Film SIBERIA, den dritten italienischen Wettbewerbsbeitrag,  kaum mehr möglich, weil die unterschiedlichen Drehorte extra Planungen voraussetzen, die die künstlerische Freiheit beschränkten. So ist Ferraras erneuter Ego-Trip, in dem er Willem Dafoe als sein zweites Ich auf eine spirituelle Suche nach seiner künstlerischen Existenz schickt, eine Reise durch seine Träume, Erinnerungen und Fantasien, die weniger geplant als das Ergebnis seiner Umstände ist. Dies bestätigte auch Ferraras Kameramann, der auf die Frage eines Journalisten, der hinter den durchaus beeindruckenden Bilder eine Filmsprache vermutete, antwortete, dass es sich eher um eine Aneinanderreihung von Zufällen handelt. Sie hatten keinen Plan, waren Wind und Wetter ausgesetzt und haben Tag für Tag versucht, das bestmögliche aus den oft widrigen Bedingungen herauszuholen. Willem Dafoe haben diese Arbeitsbedingungen wohl gefallen, hält er doch ohnehin nicht soviel davon eine Rolle einfach nur zu spielen, sondern entwickelt sie lieber, versetzt sich in sie und bewohnt sie quasi. Das hat ihm den Ruf eines Fachmanns für schwere Rollen eingebracht. Tatsächlich liebt er diese Parts, wie zuletzt in VAN GOGH und DER LEUCHTTURMWÄRTER, weil er mit ihnen noch etwas lernen und sich selbst weiterentwickeln kann.

Days - 2020

Days – 2020

Tsai Ming-Liang war schon in den 90ern ein Kritikerliebling auf Festivals und begeisterte das Publikum durch seine Wiederentdeckung der Langsamkeit. Für seinen Film VIVE L´AMOUR gewann er 1994 den Goldenen Löwen in Venedig und auch auf der Berlinale im Jahr 1997 reüssierte er mit seinem Spielfilm DER FLUSS, der ihm sogar den Silbernen Bären einbrachte. Mit seinem neuen Film DAYS statuiert der Regisseur erneut ein Exempel in puncto Entschleunigung. In nur wenigen kontemplativen Einstellungen, in denen wenig bis nichts passiert, observiert Tsai zwei Männer in einer Großstadt, die sich begegnen, Intimität beieinander finden und schließlich wieder auseinandergehen. Die teilweise zehnminütigen Einstellungen, in denen die Protagonisten schlicht beim Aus-dem-Fenster-Starren, Herumliegen, mit Akupunkturnadeln-gespickt-sein oder Salatwaschen gezeigt werden, sind sicherlich gewöhnungsbedürftig. Zur extrem zurückgenommenen Dramaturgie bemerkte ein Kritiker der Berliner Zeitung ironisch, das sei schon kein Minimalismus mehr, sondern „Minimalstismus“. Sicherlich ist DAYS ein (Kunst-)Werk, das die Aufnahmefähigkeiten seines Publikums herausfordert, vielleicht sogar überstrapaziert. Die Bilder sind extrem durchkomponiert, die darin stattfindenden Bewegungen aufs Spärlichste reduziert. In einer homoerotischen Massageszene findet der Film nach zwei Dritteln Laufzeit (und so manch gefühlter Ewigkeit) schließlich seinen Höhepunkt. Als Zuschauer darf man hingegen noch einige lange Einstellungen auf das eigene erlösende Happy Ending warten. Als Statement gegen aktuelle Sehgewohnheiten besitzt Tsais konsequenter Film, auf dessen einzigartige Poesie man sich einlassen können muss, sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal. Bei den diesjährigen Teddy-Awards für queeres Kino gab es für DAYS immerhin den Jurypreis.