Die 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin – Ein Festivalbericht

Suk Suk - 2019

Suk Suk – 2019

Immer noch viel zu selten finden Romanzen ihren Weg ins Kino, die von der großen Liebe im fortgeschrittenen Alter erzählen. Andreas Dresen brach damals mit WOLKE 9 eine Art unausgesprochenes Tabu und im queeren Sektor wäre LOVE IS STRANGE mit Alfred Molina und John Lithgow zu nennen. SUK SUK ist ein neuer Beitrag, der diese große Lücke etwas weiter füllt. Mit außerordentlicher Zärtlichkeit und hervorragenden Darstellern inszeniert Ray Yeung von der aufkeimenden Liebe zwischen zwei Großvätern in Hongkong: Pak hat sein Leben lang als Taxifahrer für die Familie malocht. Die Kinder sind inzwischen erwachsen, ausgezogen und unter der Haube oder kurz davor. Erst seit Kurzem hat er also mehr Gelegenheit, seinen eigentlichen sexuellen Neigungen im eher unromantischen Ambiente öffentlicher Toiletten nachzugehen. Seine Frau ahnt davon erst einmal nichts bis er bei einem seiner Spaziergänge den etwa gleichalten Hoi kennenlernt, der ebenso wie er sein Leben der Familie geopfert hat. Hoi ist allerdings geschieden und kann seine Liebe zu Männern daher etwas unverhohlener ausleben. Er führt Pak in die schwule Community ein und endlich kann Pak in seinem Leben einmal einen Hauch davon fühlen, was Ungezwungenheit und Freiheit eigentlich bedeuten. Doch der familiäre Zwang ist groß und belastet die geheim gehaltene Beziehung der beiden immer mehr, zumal auch Paks Frau allmählich eine dunkle Ahnung bekommt. Dass das Projekt anfangs unter keinem guten Stern stand, erklärte Yeung nach dem Filmscreening gleich persönlich. Viele Darsteller, die für ihn für die Hauptrollen in Frage kamen, lehnten gleich ab, als ihnen die Prämisse des Films erklärt wurde. Tai Bo, der Pak spielt, sagte schließlich zu, musste aber vorher das Einverständnis seiner Ehefrau einholen. Diese und ähnliche Geschichten zu den komplizierten Produktionsanläufen zeigen, dass es sich bei schwulen bzw. queeren Themenfeldern im chinesischen Sprachraum noch immer um schwieriges Terrain handelt, das unbedingt der kulturellen Aufarbeitung bedarf. Für die ebenfalls anwesenden Produzenten handelte es sich bei der Unterstützung um eine Ehrenfrage. Mit SUK SUK ist Ray Yeung jedenfalls nicht nur ein mit viel Sensibilität erzählter Film gelungen, der auf berührende Weise zeigt, wie zwei ältere Männer nach einem Leben der Selbstaufopferung doch noch ein Quäntchen Romantik und emotionale Erfüllung beieinander finden. Er ist quasi auch ein Pionierprojekt, dem hoffentlich noch viele weitere nachfolgen werden.

Dry Wind - 2020

Dry Wind – 2020

Einen sehenswerten Queerbeitrag lieferte auch der brasilianische Regisseur Daniel Nolasco mit VENTO SECO (engl. „Dry Wind”). Wie auch schon Clarisa Navas in ONE IN A THOUSAND entwirft er eine Art Paralleluniversum, in dem die Queerness wie selbstverständlich in die Dramaturgie des gewöhnlichen Alltags mitverankert ist. Nur mit dem entscheidenden Unterschied, dass der gewöhnliche Alltag des bärigen Protagonisten Sandro sich hier mit dessen neongetünchten, pornösen Tagträumereien abwechselt, in denen er dem neuen Arbeitskollegen Maicon hinterher hechelt. Dieser wiederum sieht aus, als wäre er leibhaftig einem ‘Tom of Finland’-Comic entsprungen, was natürlich reichlich Material für freizügige Fantasien in Lederoutfits bietet. Als prüderer Mensch sollte man um Nolascos Film eher einen weiten Bogen schlagen, denn trocken bläst der Wind hier keineswegs. Im Gegenteil: hier werden explizit reichlich Körperflüssigkeiten ausgetauscht. Zwischendurch werden dann mit Anbruch jeden neuen Tages die tatsächlichen Wetterbedingungen eingeblendet, während Sandro im Schwimmbad oder Eukalyptuswald seinen Begierden freien Lauf lässt. Doch an den burschikosen Maicon kommt er letztendlich nicht ran. Der treibt es lieber mit dem auch nicht unattraktiven Ricardo, der ausgerechnet Sandros verschmähter Ex-Lover ist. Komplexe Inhalte und intellektuelle Stimulation sollte man nicht erwarten, doch als Einsicht in Männerduschkabinen und farbensatte Bebilderung eines unerfüllten Begehrens, das einen bis in die tiefsten sexualisierten Träume hineinverfolgt, ist Daniel Nolascos vor allem ästhetisch reizvoller Film très chic.

Die Adern der Welt - 2020

Die Adern der Welt – 2020

Zwei deutsch-mongolische Koproduktionen waren zu entdecken, beide von Frauen gedreht. In den Generations lief DIE ADERN DER WELT von Byambasuren Davaa, an deren GESCHICHTE VOM WEINENDEN KAMEL wir uns noch gerne erinnern und im Panorama überzeugte SCHWARZE MILCH als starker semibiografischer  Frauenfilm um Emanzipation und sexuelle Selbstbestimmung. Die Regisseurin Uisenma Borchu spielt hier auch gleich die Hauptrolle, eine von zwei Schwestern, die in Berlin aufgewachsen ist, während die andere in der Mongolei blieb und ein Nomadenleben führte. Als jungen Frau zieht es sie zurück zu ihren Wurzel und sie entscheidet, Berlin zu verlassen, um zu ihrer Schwester in die in die Wüste Gobi zurückzukehren. Hier haben sie die ersten Jahre ihrer Kindheit gemeinsam verbracht, doch ihr Wiedersehen als erwachsene Frauen verläuft nicht so reibungslos wie erwartet. Westliche Zivilisiertheit steht hier Jahrhunderte alten Traditionen gegenüber. Eine Begegnung, die die beiden Schwestern genauso herbeisehnen wie fürchten, und so ist auch ihre Beziehung ein Wechselbad der Gefühle zwischen Zuneigung und Ablehnung. Im Widerspruch dieser Gegensätze finden die Frauen eine eigene weibliche Lösung, um die Gräben, die sich zwischen ihnen auftun, zu überwinden. Dabei überrascht die ausgesprochen selbstbewusste Lebensart der beiden Frauen, die beide einen Weg gefunden haben, sich selbst zu verwirklichen. In SCHWARZE MILCH reflektiert Uisenma Borchu nicht nur die Rolle der Frau, sondern auch den Umgang des Menschen mit der Natur. Sie stellt westlich und östliche Konventionen gegenüber und appelliert mit phantastischen Bildern und einer starken künstlerischen Handschrift an unser aller Selbstvertrauen.

Exil - 2020

Exil – 2020

Auch die albanisch-deutsche Ko-Produktion EXIL fragt nach dem sozialen Zusammenhang und wie das Gift der Fremdenfeindlichkeit die Verlässlichkeit von Beziehungen und die eigene Selbstverortung zerstört. Dabei orientiert sich der KHM-Absolvent Visar Morina ästhetisch an Filmen von David Lynch und verkompliziert auf spannende Weise Täter-Opfer-Gegenüberstellungen. Der erfolgreiche Pharmakologe Xhafer (Mišel Matičević) arbeitet bei einer deutschen Firma und lebt mit seiner Frau (Sandra Hüller) und drei Kindern in einem Vorstadthaus mit Vorgarten. Diese “Idylle” ist für sich genommen schon unheimlich, doch eines Tages findet Xhafer an seinem Gartenzaun eine aufgehängte tote Ratte. Da er auf seinem Arbeitsplatz zunehmend Mobbing ausgesetzt ist, das häufig einen ausländerfeindlichen Ton anschlägt, vermutet er eine größer angelegte Schikane. Immer mehr kleine Details fallen ihm unangenehm auf und erregen seinen Verdacht. Auch seine Frau scheint sich von ihm zu entfernen und Geheimnisse zu haben. Xhafer driftet immer stärker ab in einen Kosmos der Angst, wo die eigene Paranoia nicht mehr von äußeren Bedrohungen zu trennen ist. Visar Morinas Film durfte bereits beim Sundance Film Festival Premiere feiern und wurde allein für die Vorlage mit dem Deutschen Drehbuchpreis 2018 ausgezeichnet. Und auch die Umsetzung gelingt hochspannend und kontrovers, beinahe wie ein Psychothriller.

Futur Drei - 2020

Futur Drei – 2020

Für einen großen Hype sorgte der Debütfilm FUTUR DREI von Faraz Shariat, der nicht nur mit dem Teddy Award ausgezeichnet wurde, sondern auch den zweiten Platz beim Panorama Publikumspreis belegte. Semibiographisch erzählt Shariat vom konfliktreichen Aufwachsen als Sohn iranischer Einwanderer, der Entdeckung der eigenen Queerness und dem Kampf gegen vielfältige Formen von Rassismus und Diskriminierung. In Szene gesetzt wird all das jedoch nicht mit dem bierernsten Sozialdrama-Gestus, den die deutsche Filmlandschaft bei solchen Themen gerne sieht, sondern endlich mal mit Sinn für Ästhetik, Ironie und Mut zur Popkultur. Xavier Dolan lässt grüßen – dennoch findet Shariat ganz klar seine eigene Stimme und ermöglicht einen frischen Blick auf die Erfahrungen einer postmigrantischen Generation. Im Film trifft diese, vermittelt durch die Hauptfigur Parvis, auf junge Geflüchtete, die gerade erst in Deutschland angekommen sind und um Perspektiven ringen. Als der hippe junge Mann wegen eines kleinen Delikts zu Sozialstunden in einer Flüchtlingsunterkunft verurteilt wird, trifft ihn das zuerst nicht besonders. Doch in der Auseinandersetzung mit den Bewohnern beginnt er seine eigene Situiertheit in Deutschland zu hinterfragen. Einerseits geht es ihm verhältnismäßig gut, da seine Eltern es mit den Jahren zu bürgerlichem Wohlstand gebracht haben. Andererseits hat die harte Arbeit, die damit verbunden war, dazu geführt, dass Parvis sich von den Eltern entfremdet hat, die selten zuhause waren. Die nehmen sein Schwulsein zwar so hin, ein offenes Gespräch steht jedoch aus. Als er in der Wohneinrichtung die Geschwister Banafshe und Amon kennenlernt, entsteht eine zaghafte Liebesgeschichte, die um ihr Outing ringt. Shariats Film trifft den queerfeministischen Zeitgeist und setzt intersektionale Fragen mit viel Sinn für grellbunten Pop um. Dabei kreist er an vielen Stellen jedoch zu sehr um den Protagonisten und dessen Lust an der Selbstdarstellung, was dem Film etwas von seiner Sprengkraft nimmt.

Schlingensief - 2020

Schlingensief – 2020

Bettina Böhler ist die deutsche Cutterin, die für alle erdenklichen Regisseuren über 60 Filme geschnitten hat. Eigentlich naheliegend, dass sie nun ihren ersten eigenen Film SCHLINGENSIEF – IN DAS SCHWEIGEN HINEINSCHREIEN gedreht hat. Gedreht ist da etwas übertrieben, denn im wesentlichen hat sie Archivmaterial zusammengetragen und wirklich clever zu einer Biographie zusammengeschnitten, bei der man meint, dass Schlingensief selber über sein Leben und Wirken erzählt. Zwei Jahrzehnte hat er den politischen Diskurs künstlerisch begleitet und dabei stets die Grenzen des kulturell Erlaubten ausgetestet. Dass er sich dabei selbst gar nicht so sehr als Provokateur sieht, sondern eher als jemand der eine Sache konsequent zu Ende denkt, macht vielleicht DAS DEUTSCHE KETTENSÄGENMASSAKER am deutlichsten: Eine westdeutsche Metzgerfamilie tötet in den Westen kommende DDR-Bürger, um sie zu Wurst zu verarbeiten. Stempelt man das Werk nicht als Splatterfilm ab, sondern liest es als Metapher, ist es ganz erstaunlich, wie genau Schlingensief die ersten Jahre der Wiedervereinigung beschreibt. Sein analytisches Denken und seine streitbare Art fehlen heute angesicht eines um sich greifenden rechten Populismus, meinte auch die Regisseurin vor der Premiere: “Es muss mal wieder jemand die Dinge beim Namen nennen, sie laut aussprechen, notfalls auch mal laut werden und sie hinausschreien!”

One of these Days - 2020

One of these Days – 2020

In einer texanischer Kleinstadt gibt es jedes Jahr einen ganz besonderen Wettbewerb, bei dem der Gewinner einen nagelneuen Pick-Up Truck gewinnen kann. Die Bewerber müssen sich um das Auto herum aufstellen und dürfen die Hand nicht von dem Fahrzeug nehmen. Wer am längsten durchhält, bekommt den begehrten Preis. Der deutsche Regisseur Bastian Günther (HOUSTON), der mittlerweile selbst in Texas lebt, hat sich diese Geschichte nicht ausgedacht. Die Absurdität und Tragikomik eines solchen Spektakels, das viel über die US-amerikanische Mentalität erzählt, hat er selbst vor Ort beobachtet und mit ONE OF THESE DAYS daraus ein ruhiges Sozialdrama entwickelt. Auf dem Gelände eines örtlichen Autoverkäufers tummeln sich lokale Fernsehreporter und viele Schaulustige, die gespannt darauf warten, wer als erster zusammenbrechen wird. Tag und Nacht stehen die Kandidaten mit der Hand auf dem Wagen im Kreis und dürfen nur ab und zu für ein paar Minuten zur Toilette gehen. Bastian Günther entwickelt ein Psychogramm der Mitbewerber und Konkurrenten, dabei zeichnet sich ein heterogenes Bild der US-amerikanischen Gesellschaft ab. Was alle von ihnen verbindet, ist ihre prekäre Existenz und ein falsch verstandenes Bild des “American Dream”, das am Ende in gewaltsame Verzweiflung eskalieren wird. Mitunter etwas zu lang geraten, gelingt es dem Film jedoch, ein Gefühl für die zunehmenden sozialen Spannungen in den USA zu vermitteln. Joseph (Ben Whishaw) ist ein unauffälliger junger Mann, dessen Existenz sich in klinischer Ordnung zwischen seinem Apartment und der Arbeit als Sicherheitsbeamter am Londoner Flughafen abspielt. Völlig affektlos zieht das Leben an ihm vorüber. Als er an seinem Geburtstag die Eltern besucht, eskaliert die unterkühlte Stimmung plötzlich. Überwältigt von negativen Gefühlen beißt Joseph in ein Glas und flüchtet blutüberströmt aus dem Haus. Ab da ist nichts mehr wie zuvor. Aneil Karia nimmt die Zuschauer in seinem Langfilmdebüt SURGE mit auf eine Tour-de-Force, die zunächst aussieht wie ein mentaler Zusammenbruch oder eine Psychose. Zugleich scheint dessen Protagonist in seinem zerstörerischen Streifzug durch die Stadt immer mehr zu sich selbst zu finden. Joseph wird zu einem unkalkulierbaren Störenfried in den Rädchen des Systems und erinnert ein wenig an Michael Douglas in FALLING DOWN. Auch hier führt endlos aufgestaute Frustration zu einer Art Befreiungsschlag. Ben Whishaw geht mit seinem Spiel an die Grenze, dabei verzichtet der Film zunehmend auf rahmende Erklärungen oder Dialoge. Statt dessen setzt Aneil Karia auf eine hypernervöse Atmosphäre, die durch eine entfesselte Handkamera entsteht. Das ist nicht immer angenehm für die Zuschauer und auch die etwas schwache Auflösung des Films lässt dann doch eher ratlos zurück.

Ein kleines Highlight war dagegen ein poetischer Debütfilm aus Italien, der eigentlich hervorragend zur “Fridays for Future”-Bewegung passen würde. Im Zentrum von SEMINA IL VENTO (engl. “Sow the Wind”) steht die junge Agrarwissenschaftsstudentin Nica, die in ihr kleines Heimatdorf an der süditalienischen Küste zurückkehrt. Dort zeichnet sich gerade ein Richtungswechsel ab. Obwohl ihre Eltern lange von der Olivenernte gelebt haben, sollen die uralten Haine jetzt gefällt werden, da sie aufgrund eines rätselhaften Schädlingsbefalls keine Früchte mehr tragen. Mit Entsetzen versucht Nica für den Erhalt der Bäume zu kämpfen, wie einst schon ihre geliebte Großmutter. Als sie die Krankheit in den Rinden unter dem Mikroskop erforscht, stellt sie fest, dass sie durch ein ökologisches Ungleichgewicht entstanden ist. Doch niemand hat Interesse daran sie anzuhören, da der ökonomische Wert des Grundstücks das einzige zu sein scheint, was die Elterngeneration noch im Sinn hat. In seinem magischen Realismus erinnert SOW THE WIND ein wenig an die Filme von Alice Rohrwacher (GLÜCKLICH WIE LAZARRO). Wer Wind sät, wird Sturm ernten, heißt es im Alten Testament. Auch wenn Danielo Caputos malerisches Drama der patriarchalen Gewalt der Kirche genauso kritisch gegenübersteht wie den scheinbar aufgeklärten Ökonomen, so verweist dieses Zitat dennoch auf die achtlosen Umweltzerstörungen, deren drastische Konsequenzen bereits abzusehen sind.

Der Panorama Publikumspreis ging überraschend an den serbischen Film OTAC, der vom Opfergang eines Familienvaters erzählt, nachdem ihm das Sorgerecht für seine Kinder entzogen wurde. Zuvor hatte sich seine Ehefrau vor den Arbeitgebern mit Benzin übergossen und sich aus Protest gegen die lange ausstehenden Löhne selbst in Brand gesetzt. Da sie auch die Kinder in den Tod reißen wollte, wird sie in die Psychiatrie eingewiesen und die Behörden kommen zu dem Schluss, dass ihr Vater Nikola aufgrund der schlechten Lebensbedingungen nicht für sie sorgen kann. Doch der Mann setzt den teilnahmslosen Beamten einen unermüdlichen Kampf entgegen, in dessen Verlauf er zu Fuß in die 300 Kilometer entfernte Hauptstadt Belgrad läuft, um persönlich Beschwerde bei einem Minister einzulegen. Dabei übt der Film deutliche Kritik an der korrupten Bürokratie des Landes und klagt die schlechten Lebensbedingungen an, für die sich niemand verantwortlich fühlen möchte. Im Gegensatz zu sozialrealistischen Dramen wie solchen von Ken Loach steht bei OTAC jedoch nicht ein bestimmtes Milieu oder eine Familie im Vordergrund, sondern ausschließlich ein Mann, der gebeutelte Vater, der schließlich zum Volkshelden wird. Solche Narrative laden natürlich zur emotionalen Identifikation mit einer leidenden Heldenfigur ein, gerade deswegen sollte man sie aber auch kritisch betrachten.

Hope - 2020

Hope – 2020

Das skandinavische Kino versteht sich einfach darauf, aus den Spannungen zwischenmenschlicher Beziehungen Geschichten herauszuarbeiten, die tief berühren und dabei universelle Fragen aufwerfen. HOPE von Maria Sødahl gehörte zu den bewegendsten Filmen der Sektion Panorama und wurde mit dem Europa Cinemas Label ausgezeichnet. Die Krebserkrankung der dreifachen Mutter Anja (Andrea Bræin Hovig) steht nur scheinbar im Zentrum, eigentlich ist HOPE vor allem ein Film über das Zulassen von Nähe und Abhängigkeit in partnerschaftlichen Beziehungen. Und es ist auch die Geschichte der Regisseurin Maria Sødahl, die einen für unheilbar erklärten Tumor im Gehirn überlebt und darüber einen neuen Blick auf das Leben gewonnen hat, den sie mit den Zuschauern teilen möchte. Zunächst sieht es im Film nicht so aus, als gäbe es Anlass zur Hoffnung, denn die Ehe zwischen Anja und Tomas (Stellan Skarsgard) war immer schon von unterdrückter Aggression und Ausweichmanövern geprägt. Als kurz vor Weihnachten die Diagnose eintrifft, verschweigt sie den Kindern zunächst ihre Krankheit. Doch die schweren Nebenwirkungen der Medikamente fordern einen sichtbaren Tribut. Anja bittet Tomas darum, sie auf diesem möglicherweise letzten Weg zu unterstützen, auch wenn er nichts mehr für sie empfindet. Die Vorstellung, ihre Kinder mit dem Bild von zwei völlig selbstbezogenen Eltern zurückzulassen, kann sie nicht ertragen. Und zu ihrer Überraschung stellt sie fest, dass die Beziehung zu Tomas nicht so desolat ist, wie sie immer glaubte. Ohne falsche Sentimentalität zeigt Sødahl wie die Erfahrung der Zerbrechlichkeit des Lebens zwei Menschen unverhofft zueinander finden lässt. Ihre Verbundenheit zeigt sich nicht in den sozialen Ritualen von Weihnachtsfesten und Hochzeitsfeiern oder der romantischen Liebe, sondern in der bedingungslosen Unterstützung, die beide einander im Moment größter Verletzlichkeit zuteil werden lassen.

Kokon - 2020

Kokon – 2020

In den Generations haben wir KOKON den zweiten Spielfilm von Leonie Krippendorf entdeckt. 2018: Der heißeste Berliner Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen avanciert zur Kulisse jugendlicher Selbstfindung, sexuellem Erwachen und der flatterhaften ersten Liebe. Die vierzehnjährige Nora streift mit ihrer etwas älteren Schwester und deren bester Freundin tagsüber durch die Straßen der Hauptstadt, chillt auf den Dächern und probiert Joints. Im etwas prolligen Ambiente, in dem die draufgängerische Schwester verkehrt, wirkt die sehr introvertierte Nora aber eher deplatziert. Mit dem ruppigen Ton, in dem die anderen Teens miteinander kommunizieren, kann sie nicht ganz umgehen und ist das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen. „Mach mir bloß keine Schande“, mahnt die große Schwester sie, als Nora wegen eines eingegipsten Arms nicht auf Klassenfahrt gehen kann und kurzerhand in deren Oberstufen-Klasse platziert wird. Als ihr nach plötzlicher (erster) Menstruationsblutung – ausgerechnet im Sportunterricht – die kesse, etwas polarisierende „Neue“ namens Romy hilft, spürt Nora erstmals auch so etwas wie sexuelle Anziehungskraft. Fortan sucht sie in den nicht immer ganz zufälligen Begegnungen mit Romy nach Anzeichen einer Seelenverwandtschaft. Und siehe da: auch Romy ist angetan von der schüchternen Nora. Sie lädt sie des Nachts zum Schwimmbadeinbruch ein und nimmt sie auf Spaziertouren mit, wo sich die beiden endlich näherkommen. KOKON atmet in jedem Bild Sommerluft: ob unter Wasser im Schwimmbad, im Schilfdickicht oder auch schlicht über den Dächern Berlins – Leonie Krippendorf gelingt feinste, pulsierende Großstadtpoesie, kombiniert mit den empathisch nachgezeichneten Irrungen, Wirrungen der ersten Liebe, in denen sich jede Sekunde intensiv, jeder Tag ewig anfühlt und jeder noch so kleine Moment mit Verheißung aufgeladen scheint. Herz des vor Lebenslust sprühenden Films ist die sensationelle Lena Urzendowsky, in deren Blicken sich die scheue Aufgeschlossenheit und Sehnsucht nach Zugehörigkeit einer sensiblen Heranwachsenden spiegeln, die mit jedem Schritt mehr Mut und Selbstbewusstsein erringt. Ihr dabei zuzusehen, ist eine Freude!

Für Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek war es keine leichte erste Berlinale. Die anfänglichen Vorschusslorbeeren der Presse wandelten sich bald in allzu kritische Berichterstattung. Dabei standen sie für Krisen gerade, die sie gar nicht zu verantworten hatten. Neben der Diskussion um die Nazi-Vergangenheit des ersten Festivalleiters Alfred Bauer, legten auch die Morde von Hanau einen dunklen Schleier über die Eröffnung. Die Berlinale selbst aber zeigte kaum Veränderungen. Neben einem gewohnt schwachen Wettbewerb, wusste sie wie immer mit einer Vielfalt zu punkten, die weltweit einzigartig ist. Wer nur schlechte Filme gesehen hat, hat sich wohl die falschen ausgesucht.