Die 70. Internationalen Filmfestspiele in Berlin – Ein Festivalbericht

The Woman who ran - 2020

The Woman who ran – 2020

Dass feministisches Kino nicht zwangsläufig kämpferisch bzw. aufrührerisch sein muss, sondern auch leise und durchaus behutsam sein kann, beweist der südkoreanische Regisseur Hong Sang-soo mit seinem neuen Film DOMANGCHIN YEOJA (dt. „Die Frau, die rannte“). In ihm trifft Gamhee nacheinander drei Freundinnen in den Vororten von Seoul. Es finden freundliche Unterhaltungen statt, doch zwischen den Zeilen wird noch so viel mehr gesagt. Zwischendurch klingelt es mal: vor der Tür stehen dann Männer mit diversen, abstrusen Anliegen an die Frauen. Dass Hong Sang-soo die Kunst der Suggestion meisterhaft beherrscht, zeigte er schon zuvor auf der Berlinale, wo er 2017 ON THE BEACH AT NIGHT ALONE vorstellte und seiner damaligen Hauptdarstellerin Kim Min-hee zum Silbernen Bären verhalf. Auch hier paart sich die formal einfache Bildsprache mit zurückgenommener Gestik und auf den Punkt geschriebenen Dialoge, die durch ihre Doppeldeutigkeit und subtilen, pointierten Humor in den Bann ziehen. Beim Informationsaustausch zwischen den Freundinnen erfährt man beispielsweise, dass Gamhee zum ersten Mal in ihrer fünfjährigen Ehe länger als einen Tag von ihrem Mann getrennt ist, der sich gerade auf Geschäftsreise befindet. Die nacheinander erfolgenden, sehr unterschiedlichen Reaktionen der Freundinnen, denen Gamhee das anvertraut, verraten viel über die Beziehungen untereinander. In der Konversation stellt sich peu à peu heraus, wie sehr Gamhee die längere Absenz ihres Mannes eigentlich genießt. Im Hintergrund der Treffen thront, meist aus dem Fenster oder von der Terrasse aus zu sehen, ein monolithischer Berg im Hintergrund. Die mit diversen Anliegen klingelnden Männer, die hier als regelrechte Störenfriede auftreten, werden von den nonchalanten Frauen an den Türen vertröstet und mit geschickter Kommunikation wieder hinauskomplementiert. Nachdem voriges Jahr schon mit BURNING und dem diesjährigen Oscargewinner PARASITE großartige und überaus unterschiedliche Filme aus Südkorea auf die hiesigen Leinwände kamen, folgt mit Hong Sang-soos tiefenentspannenden „Die Frau, die rennt“ ein weiteres Kleinod, für das er gerechterweise mit dem Regiepreis von der Berlinale-Jury honoriert wurde.

Irradiated - 2020

Irradiated – 2020

Der kambodschanische Regisseur Rithy Panh setzt sich in seinen essayistischen Dokumentarfilmen immer wieder mit den Folgen politischer Gewalt auseinander. Er selbst hat den Genozid überlebt, den die Roten Khmer während des Pol Pot-Regimes verübt haben und konnte als Jugendlicher nach Paris fliehen. Sein Wettbewerbsbeitrag IRRADIATED greift die Ästhetik von Filmemachern wie Alain Resnais und Chris Marker auf und fragt in einem poetischen Voice Over nach Erkenntnissen, die sich aus den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts für die Menschheit ergeben haben. Dabei reiht er in einer unablässigen Montage Filmbilder aneinander, die in ihrer Grausamkeit kaum zu ertragen sind. Es handelt sich dabei um Archivaufnahmen aus unterschiedlichen Quellen, die durchaus bekannt sind, aber immer wieder einem Prozess der Verdrängung unterliegen. Man sieht einen Bagger im deutschen Konzentrationslager Leichen aufstapeln und in eine Grube befördern. Oder auch die verbrannten und verstümmelten Körper der Überlebenden von Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe. Währenddessen spricht eine der Erzählerstimmen von der Notwendigkeit, das Schreckliche immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, damit sich die Geschichte nicht wiederhole. Das von der Gewalt erzeugte Trauma sei wie eine radioaktive Verstrahlung, so Rithy Panh. Es wirke unsichtbar in den Körpern der Überlebenden weiter und zerstöre sie von innen heraus. IRRADIATED ist ein Essayfilm, der diese Bilder in einen Erfahrungszusammenhang bringen möchte, um sie teilbar zu machen. Im Gegensatz zu seinem vielfach ausgezeichneten Film THE MISSING PICTURE setzt Panh diesmal auf eine extreme Sichtbarkeit der Gewalt, was leider den gegenteiligen Effekt hat. Die gezeigten Bilder führen zu einer Überforderung der Zuschauer und das zugrundeliegende ästhetische Konzept des Films geht nicht immer auf. Dennoch wurde der Film mit dem Preis für den Besten Dokumentarfilm ausgezeichnet.

DAU. Natasha - 2020

DAU. Natasha – 2020

Ebenfalls kontrovers aufgenommen wurde ein Wettbewerbsbeitrag, der als erster in einer Reihe von Spielfilmen aus dem russischen Performance-Projekt DAU ausgekoppelt wurde. Zwischen 2009 und 2011 entstand in der Ukraine unter der Regie von Ilya Khrzhanovsky ein fiktives sowjetisches Forschungsinstitut, das sich zum größten europäischen Filmset aller Zeiten entwickelte. Ziel war dabei ein gigantisches Reenactment der Lebensumstände im totalitären System der Sowjetunion und ihre künstlerisch-wissenschaftliche Erforschung. DAU war vor allem eine Versuchsanordnung, die im Sinne der Performance-Kunst Grenzen zwischen Kunst und Leben auflösen wollte. Das Nachspiel eines Gewaltregimes kann dabei auch problematische Effekte haben, und so wurden während des Festivals anonym geäußerte Missbrauchsvorwürfe gegen die Produktion laut. Das hatte bei der Rezeption des Films leider den Effekt, dass kaum jemand über DAU. NATASHA als Wettbewerbsbeitrag sprechen wollte, obwohl dieser einiges über die psychologischen Folgen des Stalinismus zu sagen hatte. Im Mittelpunkt der kammerspielhaften Inszenierung steht die Kantinenchefin Natasha, eine Frau Mitte Vierzig, die gemeinsam mit ihrer jüngeren Angestellten Olga für die Verpflegung der Wissenschaftler am Forschungsinstitut sorgt. Von Beginn an nimmt der Film Dynamiken von Macht und Begehren in den Blick. Im Kontakt mit den Forschern erhoffen sich die beiden Frauen soziale Aufstiegschancen und gehen sexuelle Beziehungen mit ihnen ein. Immer wieder werden durch übermäßigen Alkoholkonsum Situationen von Entgrenzung und Enthemmung geschaffen, die einen Kontrast zu den rigiden Hierarchien des Stalinismus bilden, ohne diese jedoch grundsätzlich in Frage zu stellen. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Art Mutter-Tochter-Beziehung, die zunehmend von Hass, Konkurrenz und symbiotischer Nähe geprägt ist. DAU. NATASHA zeigt, wie die Verinnerlichung von systemischer Gewalt zu ihrem Ausagieren gegen Schwächere führt und wirft dabei auch einen erhellenden Blick auf die Rolle der Frau im Stalinismus. Jürgen Jürges, der als Kameramann schon für Wenders und Fassbinder gedreht hat, wurde von der Jury für seine Bildgestaltung mit dem Preis für eine herausragende künstlerische Leistung ausgezeichnet.

The Roads not taken - 2020

The Roads not taken – 2020

Brachte Sally Potter 2017 mit THE PARTY Licht und Leichtigkeit in den Berlinale-Wettbewerb, so ist ihr diesjähriger Beitrag THE ROADS NOT TAKEN eher schwermütig und düster. Sie zeigt einen Tag im Leben des ehemaligen Schriftstellers Leo (Javier Bardem), um den sich seine Tochter Molly (Elle Fanning) rührend kümmert. Welche Krankheit ihr Vater hat, bleibt nicht nur dem Zuschauer, sondern auch ihr und den Ärzten bis zum Ende unklar. Doch Molly weiß, dass ihr Vater Hilfe braucht. Zwar lebt er in einer kleinen Wohnung in New York und kommt mit Hilfe seiner Haushälterin einigermaßen zurecht, doch heute stehen Besuche bei Augen- und Zahnarzt an. Der Tag wird in einem Fiasko enden, der Kurztrip durch New York wird für Leo schnell zu einer kaum zu bewältigenden Odyssee. In Tagträumen hängt er grausigen Erinnerungen und verpassten Chancen nach und am Ende des Tages hat auch seine Tochter eine leise Ahnung von dem Enttäuschungen ihres Vaters, die ihr bislang unbekannt waren. Sally Potter porträtiert diesen gebrochenen Mann auf drei Zeitebenen, bei denen es sich allerdings nicht um Flashbacks, sondern Imaginationen alternativer Lebenswege handelt. So stellt sich Leo eine leidenschaftlichen Ehe mit seiner Jugendliebe Dolores (Salma Hayek) in Mexiko vor, oder ein Leben in Einsamkeit auf einer abgelegenen griechischen Insel, wo das zufällige Aufeinandertreffen mit zwei jungen Touristinnen schmerzliche, unbequeme Einsichten ans Licht bringt. Javier Bardem legt seine Rolle zwischen Depression und Demenz an und ist selten klar und verständlich. Seine Performance erinnert an die in Alejandro Amenábars DAS MEER IN MIR, der 2004 immerhin den Auslands-Oscar holte. So viel positive Resonanz wurde ihm in Berlin nicht zuteil.

First Cow - 2020

First Cow – 2020

Kelly Reichardt (WENDY & LUCY) hat sich immer schon für Frauengeschichten am Rande der Gesellschaft interessiert. Seit MEEK’S CUTOFF gilt sie als Spezialistin für Frauen-Western und diesem Genre ist sie auch mit FIRST COW treu geblieben. Allein Frauen kommen in diesem Western kaum vor, dafür schwingen die Cowboys nicht den Revolver, sondern hantieren mit Milchkanne und Kochlöffel. Es ist die Zeit der Pelzjäger im wilden Oregon des frühen 19. Jahrhunderts, wohin es einen wortkargen Koch verschlagen hat. Als der Anführer der kleinen Siedlergemeinde sich eine Kuh von der Ostküste bringen lässt, kommt er auf eine geniale Geschäftsidee, für die er sich mit einem chinesischen Einwanderer zusammentut, der sich als geschickter Unternehmer erweist. Während sie nachts heimlich die Kuh melken, verkaufen sie am Tage feinste Milchbrötchen, mit denen selbst der Chief vor politischen Gästen prahlt, um zu zeigen, dass auch in seiner Siedlung die Zivilisation längst Einzug gehalten hat. Jedenfalls laufen die Geschäfte für die beiden Männer immer besser, allein der Rohstoff-Nachschub macht Probleme. Kelly Reichardt erzählt diese kleine Geschichte recht episch und mit Sinn fürs Detail. Sie porträtiert die kleine Siedlergemeinschaft liebevoll und mit allerlei Anspielungen auf heutige Zeiten. Das beginnt mit einer aufkeimenden Ausländerfeindlichkeit und endet bei Wirtschaftsbetrachtungen, die nahelegen, dass dem Preisverfall der Pelze in New York und London durch die Erschließung neuer Märkte in China entgegengewirkt werden könne.

Never Rarely Sometimes Always - 2020

Never Rarely Sometimes Always – 2020

Bereits in Sundance machte dieses kleine Filmjuwel Furore, in Berlin wurde NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER, der dritte Spielfilm der amerikanischen Regisseurin Eliza Hittman (BEACH RATS), mit dem Großen Preis der Jury bedacht. Zu Recht, gehörte er doch zu den stärksten Beiträgen in diesem Jahr. Die Geschichte ist kurz erzählt: Autumn, eine  17-jährige Teenagerin aus dem ländlichen Pennsylvania, wird ungewollt schwanger und hat sich zur Abtreibung entschlossen. Ihre Eltern sollen davon nichts mitbekommen, und da ein solcher Eingriff in ihrem Bundesstaat ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten nicht möglich ist, macht sie sich – mit einem kleinen Koffer und einer gegoogelten Adresse einer Abtreibungsklinik im Gepäck –  mit dem Bus auf nach New York, um diese dort legal vornehmen zu lassen. Als Weggefährtin und moralische Stütze ist ihre etwa gleichaltrige Cousine Skylar dabei. Im Big Apple angekommen, stellt sich heraus, dass Autumns Schwangerschaft schon zu weit fortgeschritten ist, um den Eingriff an einem Tag erledigen zu können. Und da ihr mühsam zusammengekratztes Geld nur für die Abtreibungskosten und die Hinfahrt reicht, sind kreative Lösungen gefragt. Was zunächst wie eine kleine Coming-of-Age-Geschichte im halbdokumentarischen Stil daherkommt, entwickelt sich Stück für Stück zu einer ergreifenden Studie über eine junge Frau, die entschlossen im Rahmen der ihr eng gesetzten Grenzen die Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper durchsetzt. Stück für Stück gewinnen wir Einblick in das Innenleben der beiden Protagonistinnen und je länger wir ihnen auf ihrer Odyssee folgen, desto mehr wachsen sie uns trotz des spröden und minimalistischen Erzählstils ans Herz. Gesprochen wird wenig, alle Emotionen spiegeln sich in den Gesichtern und kleinen Gesten der Schauspielerinnen. Mit dem gleichen Minimalismus arbeitet Regisseurin Eliza Hittman in ihrem dritten Spielfilm bei der Schilderung des gesellschaftlichen Umfelds. In kurzen Momentaufnahmen wirft sie dabei ein Schlaglicht auf eine gespaltene Gesellschaft, in der Gewalt und Übergriffigkeit gegen Frauen zum Alltag gehören und oft kaum noch bewusst als solche wahrgenommen werden, sei es am Arbeitsplatz, im Familienverbund oder in partnerschaftlichen Beziehungen. Dabei vermeidet sie eine allzu große Polarisierung in Gut und Böse, legt den Fokus vielmehr auf die Kraft, die (weibliche) Solidarität entfalten kann, sowohl im Zwischenmenschlichen als auch durch staatliche Einrichtungen, die Frauen in prekären Situationen die Hilfe zukommen lassen, die sie benötigen.

There is no Evil - 2020

There is no Evil – 2020

Fünf Jahre nach der Verleihung des Goldenen Bären an Jafar Panahi für seinen Film TAXI TEHERAN ging der Hauptpreis der Berlinale erneut an einen iranischen Film, dessen Regisseur ebenfalls unter Hausarrest steht und sogar eine Inhaftierung fürchten muss. THERE IS NO EVIL von Mohammad Rasoulof überzeugte nicht nur die Jury, sondern auch das Publikum und wurde zudem mit dem Preis der AG-Kino Gilde ausgezeichnet. Vier Episoden im Kurzfilmformat, die erzählerisch lose aufeinander bezogen sind, formulieren gemeinsam ein starkes Plädoyer gegen die Todesstrafe im Iran und für zivilen Ungehorsam. Denn aufgrund von erweiterten Wehrdienstbedingungen werden junge Männer dort nicht nur für mehrere Jahre ins Militär eingezogen, oft müssen sie dabei auch Hinrichtungen für das Regime vollstrecken. Wer sich weigert, muss selbst mit Haftstrafen oder schweren Einschränkungen der persönlichen Freiheit rechnen. Die erste Episode zeigt einen Familienvater, der seiner Frau beim Haarefärben assistiert, eine Nachbarskatze rettet und die kleine Tochter von der Schule abholt. Lange entfaltet sich ein scheinbar normales Alltagsgeschehen, das nur von kaum wahrnehmbaren Momenten des Schmerzes im Ausdruck des stillen Mannes unterbrochen wird. Als der Wecker um drei Uhr morgens klingelt und er im strömenden Regen wie gewohnt zu seiner Arbeit aufbrechen muss, wird langsam klar, warum er immer weiter versteinert. Als die Ampel an der menschenleeren Straße auf Grün schaltet, bleibt er einfach stehen. Es sind immer wieder Momente latenter oder manifester Widerständigkeit, die Rasoulof in den Blick nimmt. Männer, die in wagemutigen Aktionen den Befehl verweigern oder ganze Familien, die Dissidenten bei sich verstecken. Die Partisanen-Hymne “Bella Ciao” tönt einmal aus einem Autoradio und wird euphorisch mitgesungen. Viele Jahre später kehrt sie als extradiegetische Musik zurück in den Film, diesmal im melancholischen Tempo und ohne Gesang. Rasoulofs Film verschweigt auch nicht, welchen Preis der Widerstand in einem Unrechtsregime hat. Dennoch macht er auf kraftvolle Weise deutlich, dass es zur Freiheit und somit auch zur Verantwortung jedes einzelnen gehört, sich dem zu widersetzen, was niemals Recht sein kann. Auch wenn die dramatische Struktur der einzelnen Episoden oft etwas konstruiert wirkt und sich auf eine klassische Narration verlässt, gelingt Mohammad Rasoulof ein starker Beitrag, der sich für die ethische Eigenverantwortlichkeit ausspricht. Anstatt die Vollstrecker eines autoritären Regimes einfach nur als unmoralisch und böse zu dämonisieren, macht er sich dafür stark, die Hintergründe zu betrachten, die zu Mittäterschaft und moralischer Selbstaufgabe führen.

Goldener Bär 2020

Goldener Bär für „There is no Evil“

Damit endete der Wettbewerb ziemlich traditionell und nach Asghar Farhadi (NADER & SIMIN) und Jafar Panahi (TAXI TEHERAN) gewann zum dritten Male ein Iraner den Goldenen Bären und setzte damit die Tradition fort, die der Berlinale den Ruf eines politischen Festivals einbrachte. So gesehen eigentlich nicht viel Neues unter der neuen Führung, auch wenn anfangs einige Journalisten sich im langweiligsten Wettbewerb aller Zeiten wähnten oder Kosslick-Fans mit den Worten triumphieren ließen: “Ihr wolltet Filmkunst, jetzt habt Ihr Filmkunst!”

Eine wahre Neuerung war dagegen die Festivalsektion “Encounters”, mit der sich die „Berlinale“ eine experimentelle Sektion erschlossen hat, in der es um innovative Filmsprachen und erzählerische Wagnisse geht. Das Herzensprojekt von Carlo Chatrian überzeugte in seinem ersten Jahr durch ästhetischen Wagemut und die essayistische Durchdringung von erzählerischen und dokumentarischen Formaten. Er führte das Publikum in alle 15 ausgewählten Beiträge persönlich ein.

Für große Resonanz sorgte GUNDA von Victor Kossakovsky, der neue Perspektiven auf den Tierfilm ermöglichte. Wie schon in seinem dokumentarischen Essay AQUARELA verzichtet Kossakovsky auf jeglichen Off-Kommentar. Stattdessen entstehen durch die Arbeit mit außergewöhnlichen Kameraanordnungen neue Sichtbarkeiten. So baute Kossakovsky um die titelgebende Sau Gunda einen eigenen Stall, ausgestattet mit Aufnahmegeräten, die einen 360-Grad-Rundumblick auf das Muttertier erlauben, während sie gerade einen Wurf kleiner Ferkel zur Welt bringt. Die nahen Schwarz-weiß-Einstellungen haben einen verblüffenden Effekt. Durch das Zurücktreten der Farbe kommt das Gestische der Tiere stärker in den Blick, und damit auch die Einzigartigkeit ihrer Wesenszüge. Unter den neugeborenen Ferkeln bilden sich mit der Zeit immer mehr Charaktere heraus, Mutige und Schüchterne, Gewitzte wie Unbeholfene. Ohne je in eine gezielte Vermenschlichung zu kippen, enthüllt der Film Sensibilität und Eigensinn der Tiere. Auf dem ökologischen Bauernhof, der als Drehort diente, gelangen Kühe und Hühner aus Mast- und Käfighaltung mit der freien Natur in Berührung.            Die zaghafte Kralle eines Huhns, das erstmals auf Gras tritt, macht spürbar, welchem Leid die Tiere in Gefangenschaft ausgesetzt sind. In einer Sondervorführung für Kinder erwies sich diese Strategie als umwerfender Erfolg: Die langen kommentarlosen Einstellungen auf die Tierwelt bewirkten nicht nur unerwartete Faszination, sondern führten auch zu vielen Fragen an den russischen Regisseur, beispielsweise, wohin Gundas Ferkel am Ende des Films gebracht werden, nachdem sie in einen Käfig getrieben wurden und eine sichtlich trauernde Mutter zurücklassen. Kossakovsky gelingt es mit diesen Bildern, Verleugnungsprozesse offenzulegen, die beim Konsum von Fleisch immer noch die Alltagswahrnehmung dominieren. In der filmischen Begegnung mit Gunda und ihren Nachkommen entsteht eine außergewöhnliche Nähe, die Grenzen zwischen Mensch und Tier in Frage stellt. Als ausführender Produzent von GUNDA fungierte der Schauspieler Joaquin Phoenix, der sich für Veganismus und gegen Massentierhaltung engagiert.

The Trouble with being born - 2018

The Trouble with being born – 2018

Auch die Auseinandersetzung mit künstlicher Intelligenz fordert die vermeintliche Sonderstellung des Menschen heraus. In ihrem Diplomfilm THE TROUBLE WITH BEING BORN gelingt der österreichischen Regisseurin Sandra Wollner eine provokative Perspektive auf den Umgang mit Androiden. In sanften und schwebenden Einstellungen nähert sie sich einer unheimlichen Beziehung zwischen einem Vater und seiner kleinen „Tochter“, deren puppenhafte Züge sie erst nach einer Weile als künstliches Wesen entlarven. Eine pointiert eingesetzte Voice-Over-Ebene sorgt für Einblick in die Gedankenwelt der KI, die philosophische wie psychologische Fragen aufwirft. Gehören die Erinnerungen dem ewig jungen Mädchen? Oder sind sie Reminiszenzen eines verstorbenen Kindes, für das der Androide ein Ersatz ist? Gibt es ein Containment im Computer? Als das künstliche Wesen seiner sexuellen Ausbeutung entkommt, gerät es in den Besitz einer älteren Dame, die es zum Ebenbild ihres ebenfalls in jungen Jahren verstorbenen Bruders ummodelliert. Doch obwohl Geschlecht und Gedächtnis des Androiden gelöscht wurden, tauchen immer wieder Fragmente des Missbrauchs auf. Ist Psyche ausgedehnt, wie Sigmund Freud schreibt, und damit nicht nur auf den einzelnen Menschen begrenzt? Kann eine künstliche Intelligenz, die über die Komplexität eines Bewusstseins verfügt, traumatisiert werden? Die unterkühlten Bilderwelten des Films ermöglichen Begegnungen mit dem Unmenschlichen, das als Folge von Ausbeutungsverhältnissen auftritt. Dafür wurde Sandra Wollner mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.

Shirley - 2020

Shirley – 2020

Die US-amerikanische Independent-Regisseurin Josephine Decker adaptiert in SHIRLEY den gleichnamigen Roman von Sarah Gubbins über weibliche Krisen. Elisabeth Moss verkörpert höchst eindringlich die Schriftstellerin Shirley Jackson bei einer tiefgreifenden Schreibblockade, die auch ihre Ehe belastet. Als ihr Gatte, ein Professor, einen neuen Mitarbeiter und dessen schwangere Frau vorübergehend in ihrem gemeinsamen Haus einquartiert, entspinnt sich ein Drama, das in seiner Intensität an Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ erinnert. Über die Erforschung des Falls einer verschwundenen Studentin nähern sich die beiden ungleichen Frauen ihrer eigenen Destruktivität an und begegnen einander dabei neu. Inszenatorisch öffnet Decker dabei die Statik und Enge der kammerspielhaften Sequenzen zu Gunsten einer entfesselten Kamera, die Symbiose und Verstrickung der beiden Protagonistinnen in Szene setzt.

Zwischen der Gewaltsamkeit des Aufeinandertreffens und unerwarteten Momenten der Nähe spielt sich auch Melanie Waeldes vielgelobter Debütfilm NACKTE TIERE ab. Es zeigt den Alltag einer Gruppe perspektivloser Jugendlicher im Berliner Umland, ohne in die Klischee-Falle zu geraten und alles auszubuchstabieren. Stattdessen lässt der Film Raum für die Leerstellen, welche die oft von häuslicher Gewalt geprägten Biografien der Protagonisten prägen.